1.4. Probleme und Kritik des Internet

1.4.1. Kapitalismus und/oder Innovation:
1.4.2. Der Staat
1.4.3. Kollektive Vereinzelung:

1.4.1. Kapitalismus und/oder Innovation:

Der enorme Erfolg des Internet und sein schnelles Eindringen in die Gesellschaft hängen eng mit der kapitalistischen Organisierung des Internet seit Anfang der 1990er Jahre zusammen. Dass das Internet für die kapitalistische Verwertung relevant wurde, liegt zum einen in seiner Neutralität und Integrationsfähigkeit begründet, die einen Raum schufen, in dem auch Konkurrenten koexistieren konnten und damit zumindest indirekt kooperierten. Außerdem erhöhte jedes neu assimilierte Netz die Attraktivität des gesamten Verbundes.

Mittlerweile steht das Internet alternativlos im Bereich der elektronischen Geschäftskommunikation da, was einen hohen Erwartungsdruck bzgl. des Funktionierens des Internet aufgebaut hat. Dies führt bei den relevanten IP-Technologien zu einem - verständlichen - Konservatismus, der den dreifaltigen Innovationszyklus des Internet unterbricht: damit das quantitative Wachstum ein qualitatives Wachstum hervorbringen kann, werden technische Innovationen entwickelt und standardisiert, die nun aber im Falle der operativen IP-Technologien höchstens peripher, aber nicht im Inneren des Internet eingesetzt werden. Denn der dafür erforderliche Aufwand würde von einem kapitalistischen Internetunternehmen nur getrieben werden, wenn es dadurch einen Marktvorteil erzielen könnte oder wenn es ohne die Innovation seine Wettbewerbsfähigkeit verlieren würde. Der erste Fall ist insofern unwahrscheinlich, als dass Veränderungen der grundlegenden IP-Technologien von allen Beteiligten umgesetzt werden müssten, also auch von den "Mitbewerbern", die dann den gleichen Wettbewerbsvorteil hätten, sodass er keiner mehr wäre.

Der zweite Fall, der Untergang eines Internetunternehmens wegen versäumter Innovation, würde eintreten, wenn die allermeisten "Mitbewerber" den Innovationsaufwand betreiben würden. Das ist theoretisch zwar durch eine Kartellbildung eines sehr großen Teils der beteiligten Unternehmen denkbar, aber praktisch wegen des fehlenden Wettbewerbsvorteils unwahrscheinlich.

Durch quantitatives Wachstum bei Ausbleiben der dafür erforderlichen Innovation ist ein Zusammenbruch des Internet möglich. Historisches Kollapsbeispiel sind die Verstopfungszusammenbrüche des noch jungen Internet der 1980er Jahre. Die letzte einschneidende Innovation der IP-Technologie geschah um 1993, als sich wegen des quantitativen Wachstums die Verfügbarkeit bestimmter Adressblöcke erschöpfte und das routing im gesamten Internet umgestellt werden musste.

Die Unterteilung in zahlungskräftige Firmenkunden und Konsumentenmassen führt zu weiteren kapitalismusinduzierten Innovationsproblemen. Jeder Konsument erhält von seinem Provider nur eine IP-Adresse, welche sich die verschiedenen Geräte teilen müssen. Dadurch sind die einzelnen Geräte keine vollwertigen hosts mehr. Ein zentrales Paradigma eines internet - beliebige Verbindungen zwischen beliebigen hosts - wird so gebrochen. Das führt zu massiven Komplikationen bei oder gar zur Unmöglichkeit von etlichen Protokoll-Innovationen, insb. solchen, die einen direkten Datenaustausch zwischen Endnutzern ermöglichen.

1.4.2. Der Staat

Quantitativ spielt der Staat im Internet heute keine so herausragende Rolle mehr wie in den militärisch-akademischen Anfangsphasen. In Europa sind die ehemaligen staatlichen Telekommunikationsmonopole im Zuge der Neoliberalisierung bzw. der Abwicklung des sog. Realsozialismus privatisiert worden. In der BRD gibt es noch 32% Staatsanteile an der Deutschen Telekom (2008).

Qualitativ bedeutsam für den kapitalistischen Internetbetrieb in der BRD ist der Staat in seiner Doppelrolle als Großaktionär und Regulierer des Erbmonopolisten Telekom und damit dem Setzen von Rahmenbedingungen für den Telekommunikationsmarkt. Neben Preis- und Verfahrensregelungen für die Nutzung der Kupferdrähte zu den Endverbrauchern geht es mittlerweile auch um die Rahmenbedingungen der anstehenden technologischen Innovation, nämlich der kompletten Umstellung der Kommunikationsnetze auf paketvermittelte sog. Next Generation Networks Diese Bemühung ist insbesondere zu verstehen vor dem Hintergrund der dargestellten kapitalismusbedingten Schwierigkeiten technischer Innovation bei Netzinfrastrukturen in verteiltem Besitz.

Auf der Ebene der Inhalte betätigt sich der Staat im Internet sowohl als Handlanger als auch in eigener Sache. Zunächst zu seiner Rolle als Handlanger. Kapitalistische Unternehmen bedienen sich gerne der Justiz, um unliebsame Kritik zu unterbinden. Für derlei Kritik ist das WWW ein praktischer Nährboden. Individuen oder Gruppen können hier publizieren und eine viel weitergehende Verbreitung erreichen als mit einer Papierpublikation. Wer aber kritisch ist, ist meist ökonomisch schwach und es fehlt dann die Rechtsabteilung, die der Klassenjustiz im Falle eines Konflikts mit einem kritisierten Unternehmen ein Urteil gegen ein solches abringen könnte.

Neben einem beträchtlichen Abmahnunwesen im bzw. gegen das Internet ist ein weiteres Tätigkeitsfeld der BRD-Justiz der sogenannte Schutz der Persönlichkeitsrechte von Nazis. Genau wie auf der Straße sind eigenständige, wirksame Aktivitäten der Bevölkerung gegen die Enkel des Gröfaz unerwünscht. Außerhalb der üblicherweise verdächtigen Dissidentenkreise hat der Staat zur Durchsetzung der Interessen der Copyright-Industrie auch zum Rundumschlag angesetzt gegen Internet-NutzerInnen, die mittels file sharing die Profite beeinträchtigen.

Ein Dreh- und Angelpunkt des staatlichen Handelns "in eigener Sache" ist die Verknüpfung von virtueller und realer Identität von NutzerInnen. Dazu sind den Providern in den letzten Jahren Hilfstätigkeiten aufgebürdet worden, die zunächst die Erfassung von Kundendaten und ihre Verfügbarmachung für die Staatsorgane umfassen. Auch bei der Überwachung der Inhalte von Telekommunikation hat es gesetzliche "Fortschritte" gegeben, die die Provider zur Bereithaltung von Überwachungstechnik verpflichtet - auf Kosten der Provider und damit letztlich der überwachten Kunden. Auf Anordnung der berechtigten Stellen (Strafverfolgung, Nachrichtendienste) müssen Kopien der Kommunikation von verdächtigten Nutzern den Staatsorganen übermittelt werden.

Aktueller Höhepunkt der Überwachungswelle ist die auf EU-Ebene angeordnete Vorratsdatenspeicherung, welche die gesamten Verbindungsdaten von Telefonie (egal ob leitungsvermittelt, mobil oder via Internet), SMS, FAX und e-mail umfasst, außerdem die Zuordnung von IP-Adressen sowie Gerätekennung und Standort von Mobilfunkgeräten. Die Provider müssen die Daten in der BRD für ein halbes Jahr speichern, in anderen EU-Ländern sind es bis zu zwei Jahre. Die gesamte telekommunizierende Bevölkerung wird einem Generalverdacht auf Kriminalität unterworfen. Anonymisierungsdienste wie Tor waren bereits Ziel fadenscheinig begründeter staatlicher Repression und sollen im Zuge der Vorratsdatenspeicherung im Endeffekt verboten werden.

Verbindungsdaten sind auch ohne die kommunizierten Inhalte höchst interessant um soziale, d.h. potentiell kriminelle, Beziehungsnetze erkennen und analysieren zu können. Eine formale Handhabe zum Zugriff auf die Daten lässt sich notfalls immer konstruieren, beliebt sind dafür die sog. Ausforschungsparagraphen 129/a/b des StGB. Jüngeres Beispiel dafür waren 2007 im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm groß angelegte Razzien des BKA gegen diverse soziale Bewegungen, die gegen den G8-Gipfel mobilisierten.

Obige Darstellungen sollen nicht als Aufruf zu oft kontraproduktiver Paranoia verstanden werden. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Kapitalkonzentration von Telekommunikation und Internet zu staatlichen Überwachungsmöglichkeiten führt, die an "1984" erinnern. Auch wenn man den dahingehenden Scharfmachern wie Bundesinnenminister Schäuble keine totalitären Intentionen unterstellt, so würde sich ein solches Regime herzlich bedanken ob der juristischen, technologischen und logistischen Vorarbeit in Sachen totaler Überwachung, die ihm bei einer Machtübergabe in die Hände fiele.

1.4.3. Kollektive Vereinzelung:

Zwei Abstraktionen, die dem Internet zugrunde liegen, führen zu einer Deprivation des (Er)Lebens seiner NutzerInnen. Zunächst die Digitalisierung der Inhalte als Handlungsgegenstände und damit die Homogenisierung der Interaktion durch die Verwendung eines Computers - der physischen Form nach eine monotone Maschinenbedienung mit nur minimaler körperlicher Aktivität. Zum anderen die Abstraktion vom Raum - denn alles ist vom eigenen Computer aus erreichbar, ein Fortbewegen des Körpers unnötig.

Die private Nutzung von Computer und Internet verlängert die Reduktion körperlichen Erlebens aus Fabrik und Büro in die sogenannte Freizeit, allerdings ohne die soziale Dimension der Arbeit in einem Betrieb. Die vereinzelnde Wirkung des Fernsehens wird auf interaktive Handlungsbereiche ausgedehnt. Überkapazitäten und die "Nöte" der Kapitalverwertung machen den Videokonsum im Internet breit und nähern es auch von daher dem Fernsehen an. Und zur systemstabilisierenden Bedeutung des Fernsehens muss hier nichts weiter ausgeführt werden. Die Grundstruktur Konzern <-> Konsument reduziert die Relevanz des anderen Menschen zugunsten der Bedeutung der Maschinerie des Konzerns. Die folgende, vor über 60 Jahren formulierte, d.h. prä-digitale Kritik lässt sich bis heute verlängern:

"Je komplizierter und feiner die gesellschaftliche, ökonomische und wissenschaftliche Apparatur, auf deren Bedienung das Produktionssystem den Leib längst abgestimmt hat, um so verarmter die Erlebnisse, deren er fähig ist. Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt der Völker und ähnelt sie tendenziell wieder der der Lurche an. Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst. Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaft gelenkten Kollektivität." ([Horkheimer/Adorno], S. 43)

Das Internet bietet neben der Entsinnlichung auch als Maschinerie der "totalen Vermittlung" zur Bekräftigung obiger Analyse sich an. Also erstmal keine Hoffnung auf echten Fortschritt für das Projekt des Selbst, des modernen Subjekts? Offenbar nicht vom üblicherweise verdächtigen revolutionären Subjekt, der ArbeiterInnenklasse, denn:

"Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft [...]." (Ebd.)

Und um wie viel mehr muss dies heute gelten, wo Auto und Supermarkt, Leiharbeit und Erwerbslosigkeit, Fernsehen und Internet den früheren sozialen Nährboden der ArbeiterInnenbewegung, den direkten und längerfristigen Kontakt von Mensch zu Menschen, trockengelegt haben? Aber die "Dialektik der Aufklärung" wäre keine emanzipatorische, wenn sie nicht auch solche Einsichten formulierte:

"Diese logische Notwendigkeit aber ist keine endgültige. Sie bleibt an die Herrschaft gefesselt, als deren Abglanz und Werkzeug zugleich." (Ebd.)

Hier scheint die Möglichkeit auf, durch Trockenlegung der Herrschaft zu einer Umwälzung der Industriegesellschaft zu kommen, in der das Potential der Maschinerie statt zur Profitproduktion für wenige zur Bedürfnisbefriedigung aller genutzt wird. Diese eng miteinander verknüpften Ziele - Trockenlegung der Herrschaft und bedürfnisorientierte Produktion - sind zentrale Aspekte des Anarchosyndikalismus, der über das - noch? - vorhandene Organisierungspotential des Internet und der relativ breiten Verfügbarkeit von Internetproduktionsmitteln (Computer und Netzzugang) bei der ArbeiterInnenklasse zumindest der Metropolen, eine neue Aktualität gewinnen könnte. Aber ohne eine Rekonstruktion der traditionellen Basis der ArbeiterInnenbewegung, der unvermittelt sozialen, wird das nicht gelingen, sofern man die obige Analyse der Altmeister auf das soziale Erleben und Handeln anwendet.

Trotz solch fundamentalistischer Kritik sollte man nicht verachten, dass die heutige Nutzung des Internet in sozialen Bewegungen und weit darüber hinaus auch sehr positive Züge aufweist wie herrschaftsfreie Kooperation, Experimentierfreudigkeit oder Solidarität z.B. bei Repression.