Kapitel 2. Internet undstattoder Anarchismus

Inhaltsverzeichnis

2.1. Vom Internet lernen ...
2.1.1. Dezentralität und Einheit
2.1.2. Gedankenexperiment: Anarchismus als Internet
2.2. Vom Anarchismus lernen ...
2.2.1. Regulation von unten
2.2.2. Freiheit mit Staat und Markt?
2.3. Praktische Möglichkeiten
2.3.1. "Bildet Banden!"
2.3.2. Konzerne - nein danke!
2.3.3. Freie, open source Software
2.3.4. Verschlüsselung, Sicherheit und Anonymität

Die Idee, der Anarchismus könne in eine ergiebige Beziehung zum Internet gesetzt werden, mag auf Bedenken stoßen. Ist das Internet doch ein mit militärischer Finanzierung gestartetes Projekt, das sich mittlerweile fest in kapitalistischer Hand und unter staatlicher Beobachtung befindet. Und die den NutzerInnen unverständliche und kapitalintensive Hochtechnologie sorgt für noch mehr Vereinzelung, Entfremdung und Verblendung. Von daher empfiehlt sich doch eine strikte Ablehnung.

Dass diese Position aber das Kind mit dem Bade ausschüttet, soll an einer Analogie aus der anarchistischen Praxis der letzten Jahrzehnte illustriert werden, dem Kampf gegen die Atomwirtschaft. Dort ist eine rigorose Ablehnung formuliert worden, nämlich die Ablehnung der Atomtechnologie. Diese kompromisslose Ablehnung war strategisch wichtig, um nicht durch die üblichen Tricks der Herrschenden gespalten, zerfasert oder assimiliert zu werden. Ein Aspekt des Atomenergiekomplexes wurde zwar gelegentlich durch taktisches Mastumlegen angegriffen, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt - das Stromverbundnetz. Dieses entspricht viel eher dem Internet, als der "böse" Atommeiler. Das "Böse" gibt es im Internet natürlich auch, und nicht zu knapp, s.o.: Großer Bruder Schäuble, Kleiner Bruder Google, Monopolist Micro$oft, Spam und kriminellaggressive Botnetze etc. pp.

Der Kampf gegen die Atomenergie hatte und hat aber auch eine konstruktive Seite. Und das, obwohl es immer noch Atomkraftwerke und Oligopole im Energiesektor gibt, die natürlich auch das Stromnetz nutzen. In der bisherigen Durchsetzungsgeschichte der regenerativen Energien gibt es neben der Beharrlichkeit der AktivistInnen einen fundamentalen Pluspunkt gegenüber den herkömmlichen Energiequellen: sie sind regenerativ, haben also einen prinzipiellen Kostenvorteil bei der Beschaffung ihres "Rohstoffs". Diese Betonung des ökonomischen Arguments ist als Anhaltspunkt für die Auslotung emanzipatorischer Möglichkeiten im Umgang mit dem Internet gedacht, und soll keinesfalls die Bedeutung der ethischen Dimension kleiner machen. Denn ohne die Empörung über die Beschaffungskriminalität und die langfristigen Folgen der herkömmlichen Energiewirtschaft wären der lange Atem der Bewegung wie auch die Bereitschaft vieler "Normalos", regenerative Energien zu fördern, wohl nicht zu erklären.

Von dieser Analogie ausgehend kann es durchaus sinnvoll sein, das Internet in emanzipatorische Strategien einzubeziehen. Dafür lohnt es sich, die progressiven Aspekte des Internet zu analysieren, um sie zum einen als Anregung für Aktivitäten in anderen Bereichen zu nutzen, zum anderen aber auch als Ansatzpunkte für emanzipatorische Bemühungen im und mit dem Internet selbst.

2.1. Vom Internet lernen ...

2.1.1. Dezentralität und Einheit

Aus dem Material des ersten Teils wollen wir dazu extrahieren, wie im Internet die "Quadratur des Kreises" gelingt - nämlich die Verbindung von Dezentralität und Einheit.

Dezentralität im Internet hat als Basis die operative Autonomie der einzelnen Netze. Darauf aufbauend werden durch bilaterale Vereinbarungen die Verbindungen zwischen den Netzen geknüpft. Bestandteil dieser Vereinbarung ist die Erreichbarkeit weiterer Teile des Verbundnetzes, bei transit-Beziehungen zum gesamten Verbund. Dadurch sind Wachstum und Kapazitätsplanung dezentral möglich - und nötig, in Ermangelung einer operativen Zentrale.

Die Einheit des Internet basiert zunächst auf den bilateralen Vereinbarungen, die die Erreichbarkeit weiterer Netze bzw. des gesamten Verbundes bezwecken. Grundlage der technischen Umsetzung der "Einheit" sind die Standards. Diese werden von temporären Assoziationen engagierter Individuen ohne formale Organisationsstruktur erarbeitet. Maßstab dieser Arbeit sind dadurch nicht (wirtschafts-)politische Interessen, sondern die technische Qualität des Ergebnisses ("rough consensus and running code"). Für die operative Einheit ist weiterhin die eindeutige Verteilung der IP-Adressen erforderlich. Diese wird von Vergabestellen als Dienstleistung an ihre Mitglieder, die Provider erbracht. Die Mitglieder finanzieren ihre Vergabestelle und bestimmen ihre Richtlinien. Durch diese technisch-wirtschaftliche Selbstorganisation wird eine einseitige ökonomische oder gar politische Kontrolle über die IP-Adressen verhindert.

Wie wichtig solche Organisationsprinzipien sind, merkt man dort, wo sie nicht eingehalten werden. Beim real ex. Domainnamensystem gibt es zentrale operative Komponenten (root server und root zone), und beim DNS ist den Juristen auch der Durchbruch beim Zugriff auf den virtuellen Raum gelungen. Wodurch - nur scheinbar paradox - Diebstahl von und Spekulation mit Domainnamen eine "ordentliche" Grundlage bekamen. Die Politnummer ICANN mit ihren Mehrheitsentscheidungen der Direktoren ergänzt hier das unglückliche Bild.

2.1.2. Gedankenexperiment: Anarchismus als Internet

Die Erfahrungen und Prinzipien des Internet sind im libertären Kontext vor allem dann interessant, wenn es

  • um Verbundprojekte geht,
  • die auf Wachstum angelegt sind und
  • deren Gegenstand objektive Kriterien bietet, ob "es funktioniert".

D.h. dass z.B. einzelne Landkommunen oder Theoriezirkel weniger vom Internet lernen können als Föderationen (von Föderationen). Versuchen wir als Gedankenexperiment die Übertragung auf "den Anarchismus" als Gesamtprojekt, so lassen sich am real ex. Anarchismus folgende Mängel benennen:

  • Zwar ist Autonomie an der Basis nicht nur gewollt, sondern übliche Praxis, aber es fehlen meist die stabilen operativen Beziehungen zwischen den einzelnen Projekten als weitere und unverzichtbare Basis eines Verbundprojekts. Die direkten Beziehungen müssten auch das Ziel einer Einheit des Verbundes beinhalten.
  • Der Wille zum Wachstum ist zumindest im Anspruch angelegt, da sich eine herrschaftslose Gesellschaft nicht auf einige Protestgruppen, WGs oder selbstverwaltete Betriebe beschränken kann. Die bei den libertären AktivistInnen vorhandene Energie geht aber zumeist in ein Einzelprojekt oder in Richtung der sozialen Bewegungen. Das ist selbstverständlich richtig und wichtig, aber diese Energie fehlt einem "Verbundprojekt Anarchismus".
  • Da schon der Gegenstand des Anarchismus, die Herrschaftsfreiheit, viele und sehr unterschiedliche Aspekte der Gesellschaft betrifft und auch subjektive Faktoren enthält, ist unklar, wie Kriterien aussehen sollen, die allen Beteiligten ein objektives Urteil darüber erlauben, ob etwas im Verbundprojekt funktioniert. Das erschwert (Selbst-)Optimierungen, die für Wachstumsprozesse aber nötig sind.

Unser Gedankenexperiment legt folgenden Schluss nahe: weniger bringt mehr. Durch die Konzentration der Verbundbemühungen auf einen konkreten Bereich, der viele Libertäre (und möglichst auch weitere Teile der Bevölkerung) betrifft und möglichst alltagsnah ist, können genug Kräfte zusammen kommen, die einen zumindest ansatzweise funktionierenden Verbund zum praktischen Nutzen der Beteiligten in Gang bringen. Durch eine geeignete "Architektur" des Verbunds und seine Fähigkeit zur Selbstoptimierung sind quantitatives und dann auch qualitatives Wachstum möglich. Um den Verbund herum können sich weitere libertäre Aktivitäten entfalten, die durch die operative Basis des Verbunds mehr Möglichkeiten und größere Reichweiten in die Gesellschaft haben. Der Anarchismus ist dann nicht "nur" das Salz in der Suppe der sozialen Bewegungen, sondern wird zunehmend auch der Nährstoff. Gelingt der Wachstumsprozess weiter, kann er zunehmend Kapital (Maschinen, Häuser, Betriebe) assimilieren und damit unter selbstverwaltete "Kontrolle" bringen. Was Attraktivität und Reichweite des Verbundes weiter erhöht. Soviel zum Potential eines konzentrierten Verbundprojekts.

Zur Veranschaulichung des Konzepts noch eine Analogie aus der Naturwissenschaft. Zur Zeit wirken AnarchistInnen hauptsächlichkatalytisch, d.h. sie fördern emanzipatorische Prozesse in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Damit sind sie erstmal ausgelastet, aber es ergeben sich dadurch auch Erfahrungen und Kontakte. Die "Architektur" des Verbundes sollte dann autokatalytisch sein, d.h. die Resultate des Verbundprozesses wirken positiv rückgekoppelt auf ihn selbst. Diese Dynamik kann sich durch die bereits erarbeiteten emanzipatorischen Kontakte aus der ersten, der katalytischen Phase, in diverse gesellschaftliche Bereiche ausdehnen. Sind schließlich genügend Menschen in und durch die Praxis des Verbunds mobilisiert, können sie durch das koordinierende Potential des Verbundes zum Übergreifen auf die sog. Realwirtschaft schreiten. Gelingt auch hier das Wachstum, könnte der Prozess schließlich autopoietisch [Maturana/Varela], d.h. vollständig selbstreproduzierend werden, also eine eigenständige freie Gesellschaft bilden. Diese chemisch-biologische Analogie soll keinesfalls als Automatismus oder Biologismus missverstanden werden - der gedachte Verbund besteht schließlich aus Menschen, mit ihren Schwächen und Stärken, der Fähigkeit zur Reflektion. Letztere ist für die Optimierungen und das qualitative Wachstum des Verbundes unverzichtbar - allerdings auch nicht vorhersagbar.

Schauen wir von hier aus zurück zum Ausgangspunkt der Überlegungen, dem Internet. Dieses hat zwar immer noch wesentliche Züge seiner autokatalytischen Dynamik, aber ein Übergang zur Autopoiese ist ihm prinzipiell nicht möglich, da es im Gegensatz zum Anarchismus a priori kein Projekt ist, welches alle Aspekte der Gesellschaft umfasst. Und so besteht die allzu reale Gefahr, dass es seiner qualitativen Dynamik letztlich beraubt wird, indem es als teilautonomes, aber funktionales Element in die Autopoiese des real ex. Kapitalismus eingebaut und dieser untergeordnet wird. Wie ein Organell in einer biologischen Zelle.