Provisorische Schlussfolgerungen und Empfehlungen des 6. Besuchs der CCIODH (Internationale zivile Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte)

Bundesstaat Chiapas


Samstag, 9.2.2008


Zehn Jahre nach unserem ersten Besuch und nach der Arbeit, die während dieser sieben Jahre geschehen ist, können wir ein provisorisches Resümee in Bezug auf die Einhaltung unserer früheren Empfehlungen ziehen. Die historische Perspektive, die sich uns sieben Jahre nach unserem ersten Besuch darbietet sowie die Ankündigung des neuen Gouverneurs Juan Sabines, auf die Praktiken früherer Regierungen verzichten zu wollen, haben das Interesse an unserer Präsenz in Chiapas gerechtfertigt. Nach Interviews mit einer großen Zahl an Personen, Organisationen, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen präsentieren wir die folgenden

PROVISORISCHE SCHLUSSFOLGERUNGEN

1. Zehn Jahre nach dem Massaker von Acteal bleibt die Situation in Chiapas von tief greifenden Dynamiken der Ungleichheit und des Ausschlusses geprägt. Diese Dynamiken betreffen den größten Teil der Bevölkerung, besonders stark aber die Frauen und die indigene Landbevölkerung.

2. Die mächtigen Hindernisse im Zugang zu den zum Überleben notwendigen Basisressourcen sowie der freien individuellen wie kollektiven Entwicklung bilden den Hintergrund der festgestellten schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Schwierigkeiten betreffen im Wesentlichen die Fragen des Landbesitzes, des Zugangs zu Wasser, Der Energieversorgung und der Biodiversität im Gesamten.

3. Die ungleiche und ungenügende Versorgung mit fundamentalen Dienstleistungen im Bereich der Bildung und der Gesundheit erklären zusammen mit anderen Verletzungen fundamentaler sozialer und kultureller Rechte die besorgniserregende Situation der Menschenrechte in der Region.

4. Unbefriedigte Grundbedürfnisse sowie fehlendes Vertrauen in die institutionellen Partizipationsmechanismen schaffen Prozesse sozialer Organisation. Die organisierte kollektive Forderung wird effektiv als der einzige Weg zur Befriedigung der grundlegendsten Interessen und Bedürfnisse angesehen.

5. In einigen Fällen übersteigt die kollektive Mobilisierung die Dimension der bloßen Forderung und wird zum Selbstschutz in Verteidigung der eigenen Rechte. Der Aufbau der indigenen Autonomie in den zapatistischen Gemeinden ist zweifellos das fortschrittlichste Beispiel, da es eigene Räume der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Partizipation generiert, deren Intensität herkömmliche institutionelle Bezugspunkte übersteigt und den nach wie vor herrschenden tief greifenden Dynamiken kultureller Vorherrschaft gegenüber tritt.

6. Demgegenüber hat die öffentliche Macht mit einer Politik der sozialen Entwicklung reagiert, welche weder diese Realität anerkannte, noch die Teilhabe der Gemeinden an der Entwicklung entsprechender Strategien ermöglichte. Daher führt die Durchsetzung dieser Politik zur gesellschaftlichen Spaltung und zu Konflikten in vielen Gemeinden

7. Die Politik der Kontrolle und Unterdrückung dieser kollektiven Mobilisierung hat auch Zusammenhänge hervorgebracht, innerhalb derer es zu Menschenrechtsverletzungen kommt. So wie schon in früheren Berichten konstatiert, stellt die militärische Präsenz in dieser Zone auch ein Element dar, das den Konflikt befördert. Die Kontinuität dieser Militärpräsenz erscheint unverhältnismäßig und daher ungerechtfertigt.

8. Der erste Besuch hatte eine Reaktion der Zivilgesellschaft auf das Massaker von Acteal zum Ziel. Gegenwärtig – zehn Jahre danach – können wir bekräftigen, dass die Straflosigkeit weitergeht. Die Einsetzung einer speziellen Staatsanwaltschaft für den Fall Acteal durch die neue Regierung hat zu keinem wesentlichen Fortschritt in der Sache geführt. Die Verhaftung von bereits in dieser Sache verurteilten Personen, die Neuüberprüfung der bereits eingesetzten Verwaltungssanktionen oder die Unterzeichnung von Vereinbarungen mit der Gemeinde ohne den wahren Hergang der Vorfälle anzuerkennen, sind politische Akte von rein symbolischem Charakter, unfähig, Gerechtigkeit zu schaffen.

9. Die CCIODH weist darauf hin, dass gegenwärtig nach wie vor zahlreiche Fälle der Straffreiheit von Personen aus dem öffentlichen Dienst bekannt werden. Diese Tatsache fördert in keinerlei Hinsicht das Vertrauen in das Rechtssystem, noch zeugt es von einem besseren Umfeld für den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen. Trotz einiger Gesten guten Willens durch das neue Regierungsteam, ist es in dieser Hinsicht zu keinerlei Verbesserungen gekommen. Besonders besorgniserregend erscheint ein wiederholt auftretendes Handlungsmuster der öffentlichen Behörden, welches falsche Zeugenaussagen anerkennt, physische Misshandlung als Mittel zur Erzwingung selbstbeschuldigender Aussagen einsetzt und solchen Geständnissen im juristischen Prozess den Rang von Beweismitteln zugesteht. Dieses Handlungsmodell, nach dem regelmäßig Urteile von vielen Jahren Gefängnishaft gefällt werden, dient als Mechanismus zur Verfolgung von Mitgliedern der sozialen Organisationen und als Instrument der Aufstandsbekämpfung, für welche sich zudem auch Einzelpersonen in Zusammenarbeit mit den Behörden verantwortlich zeichnen.

10. Seit unseren ersten Berichten haben wir immer wieder auf die Existenz paramilitärischer Gruppen hingewiesen und ihre Auflösung und Entwaffnung empfohlen. Bedauerlicherweise nehmen wir nach wie vor die Präsenz dieser Gruppen sowie ihre Verbindungen zu Agenten der öffentlichen Sicherheit wahr. In einigen geografischen Gebieten haben ihre Aktivitäten sogar zugenommen.

11. Die CCIODH hat zahlreiche Unregelmäßigkeiten im Funktionieren des Rechtssystems entdeckt, welche dieses als Teilhaber an dem Modell der Reaktion gegenüber den sozialen Organisationen und besonders gegen indigene Personen und Gemeinden erscheinen lassen, die jenem nach wie vor hilflos gegenüber stehen.

EMPFEHLUNGEN

1.Die Ausweitung und Demokratisierung des Zugangs zu elementaren Ressourcen und Dienstleistungen bildet den Ausgangspunkt jedweden Fortschritts hinsichtlich der Anwendung der Menschenrechte in Chiapas. Deshalb sollte der Weg der neoliberalen Politik verlassen werden, die zu einem restriktiven und privatisierten Zugang zu den Basisressourcen führt. Außerdem hat sie sich nicht als ökologisch und sozial nachhaltig erwiesen.

2.Die Staatsgewalt muss die autonomen Prozesse der indigenen Völker und Gemeinden respektieren und, je nach deren bekundeten Möglichkeiten ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, fördern.

3.Jedes Regierungsprogramm zur ökonomischen und sozialen Entwicklung bedarf eines Konsenses mit den wahrhaft repräsentativen sozialen Sektoren. Falls diese die Interessen der indigenen Völker betreffen, muss zwangsläufig deren vorherige, freie und informierte Zustimmung eingeholt werden, so wie es die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der Indigenen Völker verlangt.

4.Die Entmilitarisierung des Gebiets zu beginnen, stellt eine unverrückbare Notwendigkeit dar. Die militärische Präsenz in den verfassungsmäßig festgeschriebenen Ämtern muss unbedingt begrenzt werden, wobei zu jedem Preis negative Auswirkungen auf das Gemeindeleben vermieden werden sollen.

5.Es muss endgültig zur Entwaffnung und Auflösung aller paramilitärischen Gruppen, die noch im Staat präsent sind, geschritten werden. Des Weiteren müssen deren Mitglieder und Hauptverantwortliche gerichtlich verfolgt, und die politischen Verantwortlichkeiten, die sich daraus ableiten, geklärt werden.

6.Die Staatsgewalt muss sich unverzüglich und in überzeugender Art und Weise dem Kampf gegen die Straflosigkeit widmen. Weit über ausstehende normative Reformen hinaus, ist die politische Entschlossenheit unentbehrlich, um mit diesem Phänomen fertig zu werden.

7.Die Praxis der Nutzung des Strafsystems, um die sozialen Bewegungen und Organisationen zu kriminalisieren, muss beendet werden. In diesem Sinn ist es notwendig Reformen einzuführen, die auf die Beseitigung von Situationen der Wehrlosigkeit, Machtmissbrauch, Verletzung des Unschuldsprinzips, Konstruktion falscher Anklagen und der Erfindung von Delikten abzielen, die auf Grund ihrer Breite in dieser repressiven Dynamik genutzt werden können.

8.Dringend muss eine Strukturreform des Systems der Rechtssprechung auf den Weg gebracht werden, welche die wirkliche Zugänglichkeit des Rechtswesens, seine Unparteilichkeit und die Gültigkeit aller grundlegenden Bürgerrechte garantiert. Eine qualitativ gute Pflichtverteidigung muss sichergestellt werden. Ebenso die Anwesenheit von Übersetzern des Vertrauens, welche die linguistischen Rechte der indigenen Personen garantieren und erlauben, dass die Opfer von Straftaten an den rechtlichen Prozessen teilhaben können, indem das Monopol der Staatsanwaltschaft verlassen wird, und somit Mutmaßungen über deren Parteilichkeit vermieden werden.

9.Zum guten Schluss stellt die Verwirklichung des Rechts einen unerlässlichen und unverrückbaren Bestandteil dar, um das historische Gedächtnis des Konfliktes aufzubauen.

Nur über die die Anerkennung der Wahrheit ist es möglich, die Grundlagen für eine Wiedergutmachung gegenüber den Betroffenen und die Lösung der Probleme zu schaffen.

San Cristóbal de las Casas, 9. Februar 2008

Hochachtungsvoll,

Presseausschuss der CCIODH

(übers.: st)