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From: CONTRASTE@LINK-N.cl.sub.de (CONTRASTE e.V.)
Newsgroups: cl.wirtschaft.geld
Subject: Freigeldexperiment 1930
Date: 11 Mar 98 12:27:00 +0100
Message-ID: <6pdVja9ABzB@link-n-contraste.link-n.cl.sub.de>
Organization: CONTRASTE - Zeitung f. Selbstverw.
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Lines: 213

Aus CONTRASTE Nr. 162:

FREIGELDEXPERIMENT 1930


WÄRA - Eine Alternative für heute?

Schon in den dreißiger Jahren haben sich
Thüringer BürgerInnen Gedanken gemacht, was man
alles bewegen kann, mit eigenem Tauschgeld
»WÄRA« als Alternative zur Arbeitslosigkeit und
Sozialhilfe. (In Thüringen gibt es z.Z. ca.
1O Tauschringe).

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Norbert Schneider, Saalfeld - Am Anfang stand die Gründung
der »WÄRA-Tauschgesellschaft« in Erfurt. Ihrer
Satzung zufolge verstand sie sich als eine private
»Vereinigung zur Bekämpfung von Absatzstockung und
Arbeitslosigkeit«. Ihr Ziel war die Erleichterung des
Warenund
Leistungsaustausches durch die Ausgabe von Tauschbons. Nach
zwei Jahren gehörten der Tauschgesellschaft
bereits mehr als eintausend Firmen aus allen Teilen des
Deutschen Reiches als Mitglieder an. Diese Firmen führten das
Hinweisschild »Hier wird WÄRA angenommen«.
WÄRA war die Bezeichnung für die Tauschbons, die die
Gesellschaft auf Anforderung gegen Reichsmark oder
sonstige Devisen oder gegen Quittung und Sicherheitsleistung
an öffentliche Wechselstellen ausgab. Solche Wechselstellen
gab es unter anderem in Berlin, Chemnitz, Düsseldorf,
Eisenach, Erfurt, Halle, Hamburg, Köln, Leipzig
und Nürnberg. Sie händigten die WÄRA-Scheine - wiederum
gegen Reichsmark, sonstige Devisen oder hinreichende
Sicherheiten - in der gewünschten Höhe an Firmen und
Einzelpersonen aus. Zwischen diesen Firmen
und Einzelpersonen lief nunmehr die WÄRA anstelle der
Reichsmark als Tauschmittel um. Die Firmen bezahlten
(zumindest teilweise) die Löhne und Gehälter in WÄRA
aus, und mit derselben WÄRA kauften sich die Einzelpersonen
die gewünschten Güter. So entstand innerhalb der
deutschen Wirtschaft allmählich ein kleiner separater
Kreislauf von Ersatzzahlungsmitteln neben dem von
krisenhaften Stockungen gestörten Kreislauf der Reichsmark.

Gemäß den Vorstellungen Gesells waren diese WÄRA-Scheine mit
einem Umlaufantrieb ausgestattet, der ihre
krisenhafte Hortung verhindern sollte. Die Scheine waren
nämlich auf ihrer Rückseite mit zwölf Feldern bedruckt, auf
die an jedem Monatsende jeweils eine Marke
von einem Prozent des Nennwertes aufgeklebt werden
mußte. Die Mitglieder der Tauschgesellschaft mußten
also für die in ihren Händen befindlichen WÄRA-Scheine
Marken bei den Wechselstellen erwerben und auf die
Scheine aufkleben, um sicherzugehen, daß ihre WÄRA-Scheine
weiterhin zum vollen Nennwert als Zahlungsmittel angenommen
werden. Die Marken stellten demnach
eine Art »Strafgebühr für die Nichtbenutzung der WÄRA
als Tauschmittel« dar.


Diese konnten die Mitglieder nur vermeiden oder wenigstens
auf ein Minimum begrenzen, wenn sie die
WÄRA für Warenkäufe verwendeten oder als Ersparnisse
bei der Geschäftsstelle hinterlegten, die sie ihrerseits in
Form von Krediten weiterleiten konnte.


Aus dem Bestreben, der Strafgebühr möglichst zu entgehen,
resultierte im Endeffekt der für alle Beteiligten
vorteilhafte stetige Umlauf der WÄRA.

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Experiment im Bayerischen Wald
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Internationales Aufsehen erregte dieses erste praktische
Freigeldexperiment, als der bis dahin noch kleine
überregionale WÄRA-Kreislauf sich gegen Ende des Jahres 1930
in der 500 Einwohner zählenden niederbayerischen Ortschaft
Schwanenkirchen durchsetzte. Dort gab es ein
Braunkohlebergwerk, das die Stadt Deggendorf und danach eine
private AG betrieben hatten. Als es Absatzschwierigkeiten
bekam und die Halden immer größer
wurden, wurde es 1927 stillgelegt. Da es der größte
Arbeitgeber in dieser Gegend war, kam das gesamte
Wirtschaftsleben rasch zum Erliegen.


Während sich im Herbst 1930 die Weltwirtschaft mitten in
ihrer großen Deflationskrise befand, fanden Schwanenkirchen
und seine Nachbargemeinden Hengersberg
und Schöllnach einen Ausweg aus der Krise. Zwischenzeitlich
hatte nämlich der Bergbauingenieur Hebecker
das Bergwerk erworben. Er erhielt von der
WÄRA-Tauschgesellschaft einen Kredit in Höhe von 50.000 WÄRA.
Mit
diesem Geld konnte Hebecker das Bergwerk wieder in Betrieb
nehmen Š, er beschäftigte zunächst 60 Bergleute
und stellte bald darauf weitere ein. 90% ihres Lohnes wurden
in WÄRA und die restlichen 10% in Reichsmark ausbezahlt.


Die örtlichen Geschäftsleute waren gegenüber dem
ungewöhnlichen Geld skeptisch und weigerten sich zunächst, es
als Zahlungsmittel anzunehmen. Als er aber begann, sich von
mitteldeutschen Mitgliedsfirmen der
Tauschgesellschaft mit Waren beliefern zu lassen und diese in
der Werkskantine gegen WÄRA zu verkaufen, erkannten sie, daß
ihnen ein gutes Geschäft entging und erklärten sich zur
Annahme der WÄRA bereit. Während die
Arbeitslosen andernorts große Not zu leiden hatten, kam
die lokale Wirtschaft in Schwanenkirchen, Hengsbach
und Schöllnach wieder in Gang. Alsbald war die Rede von
der »WÄRA-Insel im Bayrischen Wald«, wo die Arbeitslosigkeit
gebannt war.


Die von den Initiatoren der Tauschgesellschaft in die
WÄRA gesetzten Erwartungen schienen sich zu erfüllen.
Die Idee eines umlaufgesicherten Geldes hatte bei der
praktischen Erprobung ihre Richtigkeit bewiesen, und
das Schwanenkirchener Beispiel wurde in der deutschen
Öffentlichkeit beachtet. Der Erfolg der WÄRA weckte jedoch
den Argwohn der Deutschen Reichsbank. Sie befürchteten, daß
durch eine weitere Verbreitung zugleich
die Reichsmark als offizielles Zahlungsmittel verdrängt
würde.


Es kam ihr deshalh sehr gelegen, daß der Reichsfinanzminister
H. Dietrich im Zuge der Brüningschen Notverordnungen die
Herstellung, Ausgabe und Benutzung
jeglichen Notgeldes im Oktober 1931 durch eine Verordnung
verbot. Damit waren auch sie von diesem Verbot betroffen.
Trotz seines verheißungsvollen Beginns mußte
das Freigeldexperiment von Schwanenkirchen Ende
1931 abgebrochen werden.


Hebecker war gezwungen, sein Bergwerk wieder zu
schließen. Die WÄRA-Insel mit ihren drei Dörfern wurde
von Krisenwellen überflutet. In Anbetracht dieser
Auswirkungen der Verbotsverordnung ist es geradezu makaber,
daß sie ausgerechnet die Bezeichnung »Verordnung zur
Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung
politischer Ausschreitungen« trug.


Nachdem dieser in kleinem Rahmen bewährte und
durchaus erfolgversprechende Weg aus der Krise versperrt und
die damalige Regierung Brüning mit ihren berüchtigten
Notverordnungen der Wirtschaft eine noch
größere Not verordnete, nahm die Arbeitslosigkeit
unaufhaltsam zu. Sie trieb die verzweifelten Menschen in die
Arme der Nationalsozialisten, die sie dann mit leeren
Versprechungen in die Irre führen konnten.

Aus: Karussell, Nr. 8, Dez. 1997

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