Die Anlegergewinne beanspruchen immer mehr vom Kuchen des Volkseinkommens
von Helmut Creutz
Fast täglich hört man, zu hohe Lohnkosten würden den Standort Deutschland gefährden und die derzeitige Rezession verursachen. Deshalb sei eine Senkung der Löhne erforderlich. Selbstverständlich ist es in einer Volkswirtschaft notwendig, überhöhte Ansprüche zurückzuschrauben. Sind aber überhöhte Lohnansprüche tatsächlich die Ursache unserer derzeitigen Probleme?
Überprüft man die Entwicklungen in den vergangenen Jahren vor der Rezession, dann nahmen die Wirtschaftsleistungen von 1988 bis 1992 um 32 Prozent zu, die Bruttolöhne aber nur um 29 und deren Nettogrößen um 26 Prozent. Auch die Aufschlüsselung des Volkseinkommens zeigt ein ähnliches Bild: Die "Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen" stiegen in den vier Jahren - wie das Bruttosozialprodukt - um 32 Prozent, die "Einkommen aus unselbständiger Arbeit" - einschließlich Lohnnebenkosten - wieder nur um 29 Prozent. Beide Vergleiche beweisen, daß die Ansprüche der Lohnabhängigen die Wirtschaft in den vergangenen Jahren nicht belastet, sondern sogar entlastet haben.
Bekanntlich wird das Sozialprodukt zwischen Arbeit und Kapital aufgeteilt. Dabei hat das Kapital, vor allem das Geldkapital, einen Erstzugriff, dessen Höhe niemals zur Disposition steht. Der "Rest des Kuchens" wird im allgemeinen zwischen den Tarifpartnern ausgehandelt. Nimmt man nun die Entwicklung der "Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen" innerhalb des Volkseinkommens unter die Lupe, dann wird man auf der Suche nach Kostenauftriebsfaktoren fündig: Die "Einkommen aus Unternehmertätigkeit" stiegen nämlich von 1988 bis 1992 nur um 22 Prozent, die "Einkommen aus Vermögen" jedoch um 97 Prozent. Diese überproportionale Zunahme der Vermögenseinkommen und Zinsströme bestätigt sich, wenn man die "Gewinn- und Verlustrechnungen der westdeutschen Banken" heranzieht, die füer die Jahre 1988 bis 1992 einen Anstieg der Zinsaufwendungen von 101 Prozent und der Zinserträge von 83 Prozent ausweisen.
Bei diesen Größen handelt es sich um keine Bagatellbeträge. So lagen die "Zinserträge der Banken", die man in etwa mit der geldbezogenen Gesamtbelastung der Wirtschaft gleichsetzen kann, 1992 mit ihren 445 Milliarden Mark bereits über der Gesamtsumme des Bundeshaushalts. Allein der Anstieg dieser Bank-Zinserträge war mit 202 Milliarden Mark in den vier Jahren höher als der Anstieg der gesamten Arbeitnehmer-Nettoeinkünfte! Von dem Zuwachs des Sozialprodukts haben die Geldzinsströme in den Jahren 1988 bis 1992 rund 30 Prozent beansprucht, vom Zuwachs des Volkseinkommens sogar 40 Prozent.
Diese Grössenvergleiche lassen erahnen, in welchem Umfang in den vier Jahren Kaufkraft von der Arbeit zum Besitz umgeschichtet worden ist. Man stelle sich einmal vor, welche Schlagzeilen und Proteste solche explosiven Kostenanstiege zum Beispiel bei den Löhnen und Steuern ausgelöst hätten. über die steigenden Belastungen durch den steilen Anstieg der Zinsströme verlieren jedoch Medien wie Verantwortliche in Politik und Wissenschaft kaum ein Wort. Selbst die Gewerkschaften rühren das Thema nicht an.
Die Zinskosten nehmen im allgemeinen mit der Verschuldung zu. Das ist problemlos, solange sich die Zinsen aus den kreditfinanzierten Leistungsanstiegen finanzieren lassen. Steigen die Verschuldungen jedoch rascher als die Leistung, müssen die Zinsen irgendwann die Leistungseinkommen beeinträchtigen. Anfang der fünfziger Jahre standen in Westdeutschland jeder Mark Sozialprodukt noch 63 Pfennig Schulden gegenüber, 1990 bereits 180 Pfennig. Entsprechend müssen heute aus der jährlichen Wirtschaftsleistung dreimal so hohe Anteile für den Schuldendienst abgezweigt werden wie Anfang der fünfziger Jahre.
Diese immer höhere Zinsbelastung war bisher durch ein ständiges Wirtschaftswachstum zu verkraften. Darum ist es langfristig nur zu relativen Rückgängen der Arbeitseinkommen gekommen. Zu absoluten Einkommenseinbrüchen kommt es jedoch, wenn neben den überproportional wachsenden Geldvermögen und Schulden auch noch die Zinssätze steigen. Bisher glichen nachfolgende Konjunkturaufschünge diese hochzinsbedingten Eskalationen der Umverteilung teilweise wieder aus. Das ist zukünfig immer weniger möglich.
Alle Zinsströme bewirken immer eine Umverteilung von der Arbeit zum Besitz, letztlich also von Arm zu Reich. Da zur Vermeidung deflationärer Entwicklungen die Einkommensüberschüsse der Zinsbezieher wieder über Kredite in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt werden müssen, kommt es nicht nur zu einer Beschleunigung der Geldvermögensentwicklung, sondern auch zu einer der Verschuldung. Das heißt, die überproportionale Zunahme der Geldvermöegen ermöglicht nicht nur immer größere Kreditaufnahmen, sondern erzwingt sie. Und die damit verbundenen wachsenden Zinsströme wiederum erzwingen ein immer höheres Wirtschaftswachstum, wenn die Folgen nicht zu Lasten der Arbeitleistenden gehen sollen. 1992 lagen in Westdeutschland die täglichen Geldvermögenszunahmen bei rund 1100 Millionen Mark, die Zinsgutschriften der Banken insgesamt bei 900 Millionen Mark, bezogen auf die Privathaushalte bei 500 Millionen Mark. Diese den bereits besser gestellten Haushalten zufließenden Zinsen entsprachen "rund vier Fünfteln des zur gleichen Zeit neu gebildeten privaten Geldvermögens", so die Bundesbank im Oktober 1993. "Im Durchschnitt der fünfziger Jahre hatte diese Relation erst ein Sechstel betragen."
In den für den "Standort Deutschland" besonders wichtigen Produktionsunternehmen war 1988 jeder Arbeitsplatz im Durchschnitt mit 73000 Mark verschuldet, 1992 mit 100000 Mark. Mit 37 Prozent lag die Zunahme der Verschuldung bereits über jener der Wertschöpfung von 31 Prozent. Aufgrund des Zinsanstiegs in den vier Jahren nahmen jedoch die Zinsaufwendungen der Produktionsunternehmen um 92 Prozent zu, also dreimal mehr als die Wertschöpfung. Zeitlich und größenmäßig begrenzte Gewinnrückgänge oder sogar Verluste kann normalerweise jedes gesunde Unternehmen verkraften. Wenn aber bestimmte Kosten plötzlich in die Höhe schießen und solch ein Anstieg über mehrere Jahre anhält, geraten nicht nur hoch verschuldete Unternehmen in Liquiditätsengpässe, sondern auch gesunde. Solche Engpässe verschärfen sich, wenn die Unternehmen wegen Marktsättigung und Konjunkturflaute die erhöhten Kosten nicht mehr über die Preise an die Endverbraucher weitergeben können.
Der Ausweg aus dem Dilemma über noch höhere Verschuldung ist meist nicht verkraftbar. Es verbleiben also nur rigorose Einsparungen. Da die fixen Kosten kaum Spielräume bieten, konzentrieren sich diese Einsparungen vor allem auf den Lohnbereich: Jede zu entbehrende Arbeitskraft wird entlassen oder weniger produktive Abteilungen geschlossen. Außerdem stellen die Betriebe geplante Investitionen zurück und üben Druck auf die Preise der Vorlieferanten aus, was die eigene Konkursgefahr auf schwächere kleine Unternehmen verschiebt.
Aber diese Maßnahmen führen - direkt oder indirekt - zu mehr Arbeitslosigkeit. Da diese wiederum Nachfragerückgänge zur Folge hat, kommt es zu einer Selbstverschärfung der Krise. Als letztes Mittel bleiben dann nur noch weitere Entlassungen oder Arbeitszeit- und Lohnkürzungen. Was aber nie angesprochen wird, ist der Tatbestand, daß alle Einsparungsbemühungen weitgehend nur Versuche sind, den explosiven Anstieg der Zinsbelastungen auszugleichen.
Das Problem unserer Wirtschaft und Gesellschaft sind also nicht sinkende Wachstumsraten, sondern hoch bleibende Zinssätze, die nach einfachen mathematischen Gesetzmäßigkeiten die Diskrepanzen zwischen Arm und Reich beschleunigen. Erst wenn die Zinssätze auf die Höhe der Wachstumsraten sinken, kann es zu einer sozial wie ökonomisch stabilen Wirtschaft und Gesellschaft kommen. Der Sozialsenator von Hamburg, Ortwin Runde, beklagte im Mai 1993 die rapide Zunahme von Millionären wie von Sozialhilfeempfängern in seiner Stadt: Wenn man diesen Polarisierungsprozeß nicht stoppe, drohten uns "soziale Auseinandersetzungen wie in Lateinamerika". Solche Verhältnisse mögen bei uns noch eine Weile auf sich warten lassen. Was aber einem wachsenden Teil der Arbeitnehmer an realen Lohneinbußen in wenigen Jahren blühen wird, können wir bereits heute in England, Belgien und noch deutlicher in den USA verfolgen.
Vertiefende Literatur: Helmut Creutz: Das Geldsyndrom. Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft. Langen Müller Herbig, München, 48 DM.
[Aktualisierte Neuauflage als Ullstein Taschenbuch Wirtschaft Nr. 35456; Frankfurt/M., Berlin; 1994]