NEOLIBERALISMUS IN ZAHLEN
Die neue, alte Wirtschaftspolitik in Lateinamerika am Beispiel Mexikos
von Edo Schmidt (San Cristobal de Las Casas, Chiapas/México, 1. Mai 1999)
Ende April ging ein Treffen in Washington zu Ende, das zwar im allgemeinen Kriegsgeheul um Öl, um andere wirtschaftliche sowie um geostrategische Interessen in anderen Teilen der Welt unterging, das jedoch nicht gerade unbedeutend für die wirtschaftliche, soziale und politische Zukunft in vielen Ländern im Süden dieser Welt gewesen sein dürfte. Gemeint ist die halbjährlich stattfindende Konferenz von Weltbank und Exekutivrat des Internationalen Währungsfonds (IWF), auf dem u.a. die Kreditmargen für die Schuldnerländer sowie die Zahlen und Daten über die sog. weltwirtschaftliche Entwicklung bekanntgegeben werden, die die Grundlage sowohl für den jährlichen Weltentwicklungsbericht der Weltbank darstellen als auch Orientierung für die weltweiten Spekulations- und Investitionsinteressenten und für die staatlichen Wirtschaftspolitiken bieten.
So ist z.B. in Washington "entschieden" worden, daß nach der "Asienkrise" von 1997ff. und nach der "Rußlandkrise" des vergangenen Jahres nun Lateinamerika weltweit als "Hoffnungsträger Nr.1" für "sichere" Spekulationen und Investitionen gesehen werden darf, nachdem der afrikanische Kontinent sich - wie jedes Jahr - durch zahlreiche Putschversuche und Kriege zum wiederholten Male selbst "disqualifiziert" hat, wozu allerdings seine Staaten "vom Norden" auch immer wieder entsprechend ermuntert werden. Somit blieben auch nicht allzu viele Regionen der sog. Dritten Welt "zum Entwickeln" übrig; außerdem sorgt in Lateinamerika der "Große Bruder", die sog. Vereinigten Staaten von Amerika für eine gewisse Stabilität, was sich z.B. im Fall Mexikos in der Vergangenheit wiederholt gezeigt hat - wie auch in anderen lateinamerikanischen Staaten, in denen notfalls mit Hilfe von CIA-gesteuerten Militäraktionen und -putschen die nordamerikanische Ideologie der "Entwicklung" durchgesetzt wurde.
In Mexiko wurden z.B. während der sog. "Pesokrise" im Dezember 1994, der schwersten Wirtschaftskrise seit fünfundsechzig Jahren in dem lateinamerikanischen Land, zwischen Nordamerika und Europa innerhalb einer Nacht über fünfzig Mrd. US-Dollar zur Stützung der Währung und zur Rettung v.a. der privaten US-Investitionen "zusammentelefoniert". Diese Krise wurde durch massive Spekulationen mit der mexikanischen Währung ausgelöst, als bekannt wurde, daß die Korruption in Politik und Wirtschaft den Optimismus bei nordamerikanischen Anlegern als unbegründet erscheinen ließ, da diese in eine Luftblase aus überzogenen Produktivitätssteigerungs- und Gewinnerwartungen angesichts des "übereilten" NAFTA-Beitritts Mexikos, der eine weitere Öffnung der mexikanischen Märkte v.a. für US-Kapital bedeutete, investiert hatten. Die Folge war die Einführung einer "neuen Pesowährung", bei der "der wirtschaftliche Sektor eine Stärkung" erfuhr, sprich: es fand eine gigantische Umverteilung von unten nach oben über die Subventionierung der Privatwirtschaft statt. Aber was sprechen die Zahlen denn nun, wer ist Gewinner und wer Verlierer dieser Konferenz in Washington?
Gewinner und Verlierer der Weltwirtschaft
Wie bereits erwähnt, wird in der Zukunft das "nördliche Kapital" vermehrt in lateinamerikanische Staaten fließen. Nach einem Artikel in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada vom 26. April 1999 werden innerhalb dieser Länder Chile und Mexiko als "aussichtsreichste" Kandidaten für ausländische Direktinvestitionen gehandelt.
Die BankBoston, ein Kreditinstitut, das Informationen für die Firma Wirthlin Worldwide liefert, die wiederum fünfzig US-Banken, dreißig europäische sowie 21 lateinamerikanische Kreditinstitute über Spekulations- und Investitionschancen in der sog. Dritten Welt berät, ermittelte die prozentuale Verteilung des aktuellen Geldtransfers in lateinamerikanische Staaten: Demnach weist Chile mit den stärksten Gewinnerwartungen auf und zieht 32% der "ausländischen Direktinvestitionen in Lateinamerika" an, gefolgt von Mexiko mit 30%; danach folgt Brasilien, das für 13% der Investitionen und Spekulationen interessant ist, danach Argentinien mit 9%, Venezuela mit 6%, Kolumbien mit 2% und schließlich Peru mit 1%. Über die restlichen 7% machte die BankBoston keine Angaben.
Und was passiert mit diesen Staaten? Wird das Kapital aus dem Norden für mehr Wohlstand im Süden sorgen? Zur Beantwortung dieser Fragen sei dem Beispiel Mexikos besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Ausländische Direktinvestitionen in Mexiko
In derselben Ausgabe der La Jornada werden die ausländischen Direktinvestitionen in Mexiko im Zeitraum seit dem Beitritt zum sog. nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) von 1994 bis 1998 aufgeführt. Demnach entstammen dem Haupthandelspartner Mexikos, den USA, 58% des "ausländischen Kapitals" in der mexikanischen Wirtschaft, während der "NAFTA-Partner" Canada z.B. nur vier Prozent "ausländisches Engagement" liefert, gerade mal soviel wie Indien, was zeigt, wer von diesem sog. "Freihandelsabkommen" profitiert. Hier sieht es nämlich so aus, daß die "Liberalisierung des Marktes" in nur eine Richtung verläuft und eine Öffnung des mexikanischen Marktes für US-Firmen und Produkte bedeutet, während gegen zahlreiche mexikanische Waren, v.a. aus dem landwirtschaftlichen Sektor, von US-amerikanischer Seite "Schutzzölle" erhoben werden. Also: freier Zugang auf der einen Seite und Protektionismus auf der anderen.
"Engagiert" in Mexiko sind auch Firmen aus Großbritannien, die einen siebenprozentigen Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen halten, sowie die niederländischen und die deutschen Firmen mit jeweils sechs Prozent. Weitere wichtige Investoren kommen aus Japan mit 3% und aus Südkorea mit einem Prozent. Der Rest von 13% wird nicht weiter aufgeschlüsselt.
Diese Investitionen fanden sich im Zeitraum von 1994 bis 1997 zu 58,5% im produzierenden Sektor wieder, woraus leicht abzulesen ist, daß v.a. nordamerikanische Konzerne, mit geringerem Umfang aber auch andere, das niedrige Lohnniveau sowie die geringen Sozialstandards bzw. die fehlenden Arbeitsnormen in dem "Entwicklungsland" ausnutzen. So fallen in diesen Sektor z.B. auch die riesigen Maquiladora-Fabriken, wo TagelöhnerInnen für einen Bruchteil der normalen Arbeitslöhne im Norden "beschäftigt" werden und als Sklaven der Konzerne betrachtet und dementsprechend behandelt werden. Weitere 13,4% der ausländischen Direktinvestitionen entfielen auf den Handel und 11,4% verblieben im Bankensektor; in den Sektor Transport- und Kommunikationswesen flossen 7,2%, in andere Dienstleistungen 7,1%. Im Bausektor landeten lediglich 1,1% und in anderen Industrien 1,2%. Insgesamt machten die jährlichen ausländischen Direktinvestitionen in Mexiko ca. zehn Mrd. US-Dollar aus, eine Summe, die unmittelbar nach der "Pesokrise" Ende 1994 auf sechs Mrd. US-Dollar schrumpfte, mit Hilfe von Weltbankkrediten und national gesponsorten Subventionen nun jedoch wieder auf dem Stand von 1994 angewachsen ist. Die bereits erwähnte Öffnung des mexikanischen Marktes für ausländische Kapitalinteressen hat eine noch nicht so lange Geschichte, wie überhaupt die Wirtschaftsgeschichte Mexikos eine sehr eigentümliche ist.
Über die Entwicklung der mexikanischen Wirtschaft
Als in Mexiko 1910 endgültig die soziale Revolution ausbrach und um "Tierra y Libertad", also um Land und Freiheit gekämpft wurde, gehörte der gerade mal 1 Prozent dünnen mestizischen Elite Mexikos über 90% des Landes, über 95 Prozent der Bevölkerung verfügten hingegen über keinerlei Landbesitz. Nach der Revolution trotzten die durch das Bürgertum betrogenen, aber immer noch bewaffneten Campesin@s (BäuerInnen) ersterem einige Landreformen ab, wobei es v.a. zur Herausbildung von kollektiv genutzten Ejidos kam, eine Form der Bewirtschaftung von Land weitgehend ohne Herausbildung von Privateigentum, die aus vorkolonialer Zeit stammte, aber durch die Kolonialisierung und den Landraub beinahe in Vergessenheit geriet. Diese Kollektivierung von Land wurde verstärkt in den dreißiger Jahren vorgenommen, als der legendäre Präsident Lázaro Cárdenas seinen Sechsjahresplan für die Landreform und für eine erste Industrialisierung Mexikos vorlegte, der u.a. die Verstaatlichung der Erdölindustrie 1938 beinhaltete. Jedoch schritt die Industrialisierung Mexikos nur langsam voran, bis der US-amerikanische Präsident Trumann am 20. Januar 1949 seine berühmte Rede vor den Vereinten Nationen hielt, mit der die Ideologie von den "entwickelten" und den "unterentwickelten" Staaten geboren wurde, und zu dessen Durchsetzung Institutionen wie die Weltbank geschaffen wurden. Es folgte für Mexiko eine Zeit der langsamen Industrialisierung, bei der sich ein städtisches Proletariat zu entwickeln begann. Da den ländlichen Campesin@-Organisationen mehr und mehr Selbstbestimmungsrechte entzogen und eine ihnen fremde Überschuß- bzw. Exportproduktion aufgezwungen wurde, die ihnen sogar den traditionellen Mais- und Bohnenanbau z.T. verbot, versanken die meisten ländlichen Regionen Mexikos erneut in Armut, was bewaffnete Konflikte und eine intensive Landflucht zur Folge hatte. Doch Weltbank und Militär schützten den "Fortschritt der Entwicklung".
Nach den Zahlen von Jaime Serra Puche, dem Ex-Sekretär für Wirtschaftsfragen - ein Amt, das durch das NAFTA-Abkommen erst geschaffen wurde -, verlief die Öffnung des mexikanischen Marktes in neuerer Zeit sprunghaft: In den Jahren zwischen 1980 und 1985 war das Land noch mit nur 1,299 Mrd. US-Dollar am internationalen Handel beteiligt, während im Abschnitt von 1986 bis 1993, nachdem Mexiko dem GATT-Abkommen beitrat, also zu "vom Norden" definierten Bedingungen am Welthandel teilnahm, das "Engagement" auf 3,468 Mrd. US-Dollar anstieg. Im ersten Abschnitt des NAFTA-Abkommens von 1994 bis 1998, als der Handel mit USA (und Canada) intensiviert wurde, stieg das Handelsvolumen nocheinmal auf 9,791 Mrd. US-Dollar an (Zahlen aus: La Jornada vom 26. April 1999).
Der Neoliberalismus verstärkt die Ungleichheit!
Oberflächlich gesehen sieht die wirtschaftliche Entwicklung Mexikos "positiv" aus. Wie verhält es sich jedoch mit der Verteilung dieses Reichtums? Die La Jornada zitierte am 30. April 1999 die Weltbank mit der Schlagzeile, daß Mexiko unter den Ländern mit der schlechtesten Verteilung des Reichtums rangiert. Nimmt mensch sich nur das erwirtschaftete Bruttosozialprodukt (BSP) von 1997 i.H.v. 348,6 Mrd. US-Dollar vor, das sich übrigens seit 1980 verdoppelt hat, so befindet sich die mexikanische Wirtschaft unter den sechzehn größten auf der Welt. Verteilt sich dieses BSP jedoch auf alle MexikanerInnen (zwischen 95 und 100 Mio.. Menschen - ein riesiger Markt!), kommt dabei ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von 3700 US-Dollar heraus, eine Zahl, die der mexikanischen Wirtschaft gerade mal auf Platz 81 der wohlhabenderen Staaten der Welt verhilft.
Noch deutlicher wird aber diese ungleiche Verteilung, wenn hinter diese Durchschnittswerte geblickt und entdeckt wird, daß real über 40 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut leben, d.h. von weniger als 2 US-Dollar am Tag - wobei die meisten gar nicht am Geldkreislauf teilnehmen. Die Weltbank spricht von einem "Problem der persönlichen wirtschaftlichen Situation der MexikanerInnen" und verschleiert dabei, wie ihr eigenes Engagement, ihre eigene "Entwicklungsstrategie", für Mexiko fehlschlug. Nach den Zahlen der Weltbank habe sich in den achtziger Jahren das durchschnittliche verfügbare Einkommen jedes Jahr um mindestens einen Prozentpunkt verringert, und in den letzten sieben Jahren um jährlich 0,5%. Die Weltbank schreibt in ihrem Bericht, daß "trotz des NAFTA-Beitritts Mexikos" diese Realeinkommensverluste zu verzeichnen sind - es müßte jedoch eigentlich heißen: wegen!
Nach aktuellen Zahlen der OECD sind von diesem Sinken der Realeinkommen v.a. die unteren Einkommen betroffen, die seit den achtziger Jahren bis heute bis zu vierzig Prozent Einbußen zu verzeichnen hätten. Damit liegt Mexiko voll im neoliberalen Trend, der die Einkommen sinken und die Gewinne explodieren läßt. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung nehmen fast 43% der verfügbaren Einkommen ein, die reichsten 20 Prozent bekommen fast 60% aller Einkünfte der nationalen Wirtschaft Mexikos. Die Weltbank notiert dazu, daß diese Ungleichheit jedoch nicht so hoch sei wie in Brasilien oder Chile - letzteres ist seit dem Militärputsch von 1973 das US-amerikanische Pilotprojekt in Sachen Neoliberalismus gewesen -, jedoch höher als in El Salvador, Peru, China und Indien. Von den anderen 96 Ländern, über die Ungleichheitsberichte vorliegen, seien nur zwölf schlechter als Mexiko zu bewerten!
Nach den Indikatoren der Weltbank über die "Entwicklungssituation" in der Welt leben rund 4,9 Mrd. Menschen in sog. Entwicklungsländern, während 900 Mio.. Menschen in den "am meisten entwickelten Ländern" leben (dürfen!). "Dieser Graben scheint sich immer noch zu vertiefen und zu verbreitern", so der Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, der auch seinerseits angab, daß sich die wirtschaftliche Situation der MexikanerInnen im Laufe der letzten 17 Jahre erheblich verschlechtert habe. Genaue Zahlen hierüber könne er jedoch nicht liefern, da sie innerhalb Mexikos von der Regierungspartei zurückgehalten würden! Er verdeutlichte, daß die Fortschritte im Erziehungs- und Gesundheitssystem z.B. nur einer kleinen Minderheit der Bevölkerung vorbehalten sind.
Trotz aller Ungleichheit weiter auf neoliberalem Kurs...
Der Wirtschaftsminister der Regierung Zedillo, José Angel Gurría, offenbarte vor dem Komitee für wirtschaftliche Entwicklung des IWF die nächsten "notwendigen Schritte" seiner Haushaltspolitik in Richtung auf einen "Impuls für die Entwicklung" seines Landes, was sich wie der Katalog einer neoliberalen Wirtschaftspolitik liest:
a) Disziplin bei den Staatsausgaben und der Haushaltsführung,
b) Preisstabilität,
c) Öffnung des Marktes: Beseitigung von Handelsschranken und Investitionshemmnissen,
d) Deregulierung und Werbung für ein besseres (weil privatisiertes!) Gesundheits- und Sozialsystem,
e) Schlanker Staat: Einsparungen im öffentlichen Sektor,
f) geichzeitige Liberalisierung und bessere Überwachung des Finanzsystems.
Im allgemeinen sei eine Wirtschaftspolitik angezeigt, die ein stärkeres Wirtschaftswachstum erlaube sowie die Lebensbedingungen für den Großteil der Bevölkerung verbessere, so Angel Gurría. Die Daten der Weltbank offenbaren, wie sich der Charakter der mexikanischen Wirtschaft in den vergangenen Dekaden veränderte, und daß das Ziel der gerechteren Verteilung der Erträge so nicht zu erreichen sind. Es ist z.B. eine stark zunehmende Privatisierung festzustellen, durch die die öffentliche Hand über immer weniger Produktions- und Dienstleistungsbereiche verfügt; befanden sich 1970 noch 44% des gesamten Wirtschaftsbereiches in der öffentlichen Hand, so hielt diese 1990 nur noch 28%.
Doch diese Privatisierung stößt zunehmend auf Widerstände, da viele zu Recht einen Verlust ihres Arbeitsplatzes sowie das Sinken der Einkommen und der Arbeitsnormen befürchten. Zur Zeit gibt es eine sehr starke Bewegung der ArbeiterInnen in der staatlichen Elektroindustrie, die sich heftig gegen die Privatisierung "ihrer" Unternehmen wehrt, sowie eine starke Streikbewegung der Studierenden gegen die Einführung von Studiengebühren und Zulassungsbeschränkungen, die der Staat anstelle seiner Verantwortung ein- und durchzuführen gedenkt.
Außerdem sah die mexikanische Bevölkerung skeptisch bei der Privatisierung der Telefonindustrie zu, an der sich viele PRI-Mitglieder, v.a. der letzte Präsident Mexikos, Salinas de Gortari, stark bereicherte und mit Hunderten von Mio. US-Dollars in Form von Aktienpaketen dieser neuen Telefongesellschaft im Gepäck das Land Richtung Dublin verließ.
Die sog. Öffnung des Marktes bewirkte, daß sich der Anteil der Ex- und Importe an der Gesamtwirtschaft Mexikos stark veränderte: so stieg der Anteil dieses Zweiges von 15% 1970 auf 60% 1999. Der "Markt" veränderte sich von einer annähernden Wohlstandsproduktion hin zur "Bedürfnisbefriedigung".
Auch hat sich die Lebenssituation der Menschen in Mexiko stark verändert. Lebten 1970 noch 59 Prozent in urbanen Räumen, stieg dieser Anteil bis heute auf 75 Prozent an. Mexiko D.F. ist mittlerweile mit 24 Mio. EinwohnerInnen die größte Stadt, die es auf der Welt gibt, und es gibt noch viele andere Millionenstädte in Mexiko. Im gleichen Zeitraum nahm die Arbeitslosigkeit stark zu, allerdings liegen keine genauen Zahlen vor, da viele Menschen sich aufgrund der fehlenden staatlichen Fürsorge in der sog. Schattenwirtschaft verdingen, aber auch weil statistische Grundlagen über die Anzahl der Erwerbspersonen insgesamt fehlen.
Dennoch scheint hier auf, daß sich ein zunehmend großer Teil der Bevölkerung Mexikos vom "Markt" und von der "Entwicklung" ausgeschlossen und an den Rand gedrängt, "marginalisiert" wiederfindet. Immer mehr Menschen müssen und wollen ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage autonom vom Staat organisieren, jenseits der "Entwicklungsideologie". Wo dies geschieht, tritt der Staat zunehmend autoritärer mit seinen Repressionsorganen auf. So haben sich z.B. Hunderttausende in Chiapas oder in Mexiko D.F. oder Tausende in Oaxaca oder in Guerrero, in Tabasco oder in anderen Teilen des Landes autonom (selbst-) organisiert, und werden deswegen vom Militär und von sog. "Polizeien" bedroht und bekämpft. Viele Campesin@s und StadtbewohnerInnen haben einen Weg gefunden, trotz der entwürdigenden Ideologie der "Entwicklung", die sie als "unterentwickelt" abstempelt und als "mit Mängeln behaftet" (nicht nur rassistisch!) diskriminiert, ihre Würde durch ihr selbstorganisiertes Leben, das oft genug Kampf ums Überleben bedeutet, da es Absicht der Repression durch den Staat ist, ihnen die Lebensgrundlage zu verweigern und verunmöglichen zu wollen, wiederzufinden und zu erstreiten.
Wenn es in Mexiko eine "Entwicklung" gibt, die sichtbar voranschreitet, dann ist es der Zuwachs an wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten und die gleichzeitige Entwicklung von politischen Alternativen zum Staat und seiner "westlichen Demokratie-Ideologie" sowie von wirtschaftlichen Alternativen zum Kapitalismus mit seiner hybriden Wettbewerbs- und Fortschrittsideologie, zum sog. Neoliberalismus.
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