Dezember 1998 - Erster Bericht von E. und N. aus Mexiko

Über eine studentische Soligruppe aus Mexiko-Stadt, die im zapatistischen Polhó Projektarbeit macht und über ein Gespräch mit einem ehemaligen politischen Gefangenen aus der EZLN


R. hat ein Treffen mit ihrer Gruppe arrangiert, das ist nämlich so: R. lehrt an der Autonomen Universität in D.F. (UNAM) Sozialarbeit; dort hat sie eine studentische Gruppe initiiert, die sich mit der Flüchtlingsproblematik in Polhó auseinandersetzt und dort verschiedene Projekte am Laufen hat. Sie beteiligt sich u.a. auch an der Karawane "Para todos todo". Wir haben uns mehrfach mit der Gruppe (bis auf einen Mann alles Frauen!) getroffen, Interviews gemacht und Material gesammelt. Darüber hier schon einmal ein kleiner Bericht. Die Angaben basieren auf den Aussagen des Sprechers des autonomen Rates von Polhó und sind in einem 20-seitigen Informe der Gruppe gut ausgeführt, was es noch zu übersetzen gilt...

Polhó ist ein kleines Dorf mit ursprünglich 3.600 EinwohnerInnen, die der Tzotzilischen Sprachgruppe angehören. Formal wird Polhó zu der PRIistischen Gemeinde Chenalhó gezählt. Es befindet sich in den Altos von Chiapas und ist zwei Fahrtstunden von San Cristóbal de Las Casas entfernt. Vor 1994 war Polhó priistisch dominiert, doch im Zuge des Aufstandes der EZLN haben sich die BewohnerInnen nach und nach mit den Forderungen "Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit!" identifiziert.

Nach dem Wahlbetrug bei den Gemeindewahlen im Juli 1994, bei der die PRD-lastigen Wahlurnen verbrannt wurden, haben die PolhóerInnen den offiziellen Sieg der PRI nicht anerkannt und das Amt des Gemeindevorstehers selbstbestimmt besetzt. Das ging vier Monate gut, bis das Dorf auf Anordnung des Gouverneurs von Chiapas, Ruiz Ferro, geräumt und dabei 159 Menschen in den Knast von Cerro Hueco gesperrt wurden. Der andere Teil der Gemeinde hat in einer vierstündigen Vollversammlung im Konsens entschieden, autonom zu sein und zu bleiben. Und so haben sie sich am 19. Dezember 1994 zur "neuen autonomen Gemeinde in Rebellion Polhó/Chiapas/Mexico" erklärt.

Bis Mitte 1997 ging alles soweit gut, bis sich die Situation verschärfte, als priistische Autoritäten der umliegenden Gemeinden Los Chorros und Puebla damit begannen, Wegzölle von den Einheimischen abzuverlangen, um damit ihre Aufrüstung (paramilitärischer Banden) zu finanzieren. Sie planten einen Angriff auf die autonome Ratsversammlung von Polhó. Alle diejenigen, die die Abgabe der Gelder verweigerten, waren der Verfolgung und Repression ausgesetzt. Ihre Häuser wurden abgebrannt und viele Frauen wurden verschleppt und vergewaltigt. 60 Familien mussten aus Los Chorros fliehen und fanden Asyl in Polhó. Die Gewalt spitzte sich in den folgenden Monaten noch zu, und die paramilitärischen Gruppen formierten und erweiterten sich. Ende November 1997 war die Zahl der Vertriebenen in dieser Region auf 4.500 Menschen gestiegen. Das Massaker von Acteal, ein Nachbardorf von Polhó, am 22. Dezember 1997, bei dem 45 Menschen brutal ermordet wurden, bildete den "vorläufigen Höhepunkt".

Auf der autonomen Ratsversammlung von Polhó wurde entschieden, dass sich die Flüchtlinge in Campamentos rund um Polhó ansiedeln können, bis sie wieder in ihre Heimatdörfer zurückkehren könnten... Mittlerweile leben insgesamt 16.800 Menschen in den neun Flüchtlingslagern rund um Polhó, in Acteal und Poconichin. Sie sind auf sehr engem Raum konzentriert und von Militärcamps umzäunt, die nach belieben die eh schon knappe und unzureichende Wasserzufuhr verhindern, indem sie den kleinen Fluss, der durch die Region fliesst, stauen. Ebenso verhält es sich mit dem Brunnen von Poconichin. Die Menschen aus den Campamentos trauen sich nicht, dort Wasser zu holen, weil auch dort ein Militärcamp stationiert wurde, und die Flüchtlinge permanent von den Soldaten drangsaliert werden, - eine der zahlreichen Repressalien, denen die Menschen tagtäglich ausgesetzt sind. Die Konzentration der Flüchtlinge und das Überleben, das ihnen so schwergemacht wird, ist eine Strategie der "Aufstandsbekämpfung".

Die studentische Gruppe der UNAM war dieses Jahr drei Mal in Polhó und hat Bestandsaufnahmen der Lebenssituation der Flüchtlinge vorgenommen. Sie haben uns ausführlich berichtet. Es ist grausam! Hier ein kleiner Einblick: Die Menschen leben in Plastikmüllbehausungen, haben kaum etwas zu essen und v.a. die Kinder sind alle krank. Das knappe Wasser (s.o.) ist verseucht und wird sowohl als Trinkwasser, zum Kochen und auch zum Waschen benutzt. Sie haben weder Land, das sie bestellen könnten, noch irgendwelche anderen Produktionsmittel. Sie sind daher abhängig von Spenden der Zivilgesellschaft. Die Bevölkerung hat erklärt, dass sie nur die Hilfe akzeptiert, die von der Zivilgesellschaft ausgeht, weil sie so lange nichts von der Regierung annehmen wollen, bis der klare und authentische Wille seitens der Regierung zu erkennen ist, Massnahmen zur Entspannung der Region zu ergreifen. D.h. sie fordern von der Regierung den vollständigen Abzug des Militärs aus der Region, zweitens die Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen und drittens die Umsetzung der Vereinbarungen von San Andrés über indígene Rechte und Kultur.

Die studentische Gruppe initiiert derzeit drei Projekte in Polhó:

1. Die Reduzierung, Beseitigung und Trennung von Müll. Der einzige (!) Lastwagen der Gemeinde wird für Krankentransporte u.ä. gebraucht und kann nicht für den Abtransport von Müll genutzt werden. Die Menschen leben mitten in Müllbergen, die das Wasser und die Erde verseuchen und Ungeziefer anziehen.

2. Die Ausbildung von gemeindeeigenen LehrerInnen. Damit das begonnene Schulprojekt nicht beendet werden muss, wenn die von der Universidad Autonoma Metropolitana (UAM) eingesetzten fünf (!) LehrerInnen wieder nach Mexico D.F. zurückkehren. Dies ist für das kommende Jahr zu erwarten, da die drastischen Haushaltskürzungen im Ausbildungsbereich für das Jahr 1999 solche Projekte in Zukunft verunmöglichen.

3. Die Verminderung von Krankheiten durch die Reinigung von Wasser. Das Einbauen von einfachen Wasserfiltern in die Haushalte, um einigermassen sauberes Trinkwasser zu erhalten, ist relativ leicht zu bewerkstelligen. Die durch Parasitenbefall aufgeblähten Bäuche aller (!) Kinder z.B. sind in erster Linie auf das verseuchte Wasser zurückzuführen. (Dieses Projekt hat Münster mit 250,-DM unterstützt.)

Die Gruppe hat noch viele weitere gute Ideen für sinnvolle Projekte, es fehlt ihnen eben an den Mitteln.

Es gäbe noch viel über die Situation in Polhó, über die Geschichte ihrer Autonomie und den Kontext, in dem dies alles steht, zu erzählen. Aber das hier sollte erstmal ein kleiner Bericht von unserem Treffen mit der Gruppe von R. sein...
Der folgende Bericht ist von unserem Treffen mit einem Ex-Gefangenen aus der EZLN:

Wir sitzen also bei einer Freundin im Zimmer. Emiliano, ein Ex-Gefangener und Mitglied der EZLN, der natürlich in Wirklichkeit ganz anders heißt, beginnt damit, uns seine Geschichte zu erzählen. Eine Freundin übersetzt simultan, sodaß eine zwar ruhige, aber angespannte Situation entsteht. Wir werden sehr direkt ZeugInnen eines Teils der Verbrechen, die der Staat Mexico an vielen "seiner" BewohnerInnen begeht und sehen so, wie er sein Gesicht bzw. seine Maske in eine hässliche Fratze zu verwandeln beginnt, die uns so auch in Argentinien, Chile, Guatemala oder sonstwo auf dem lateinamerikanischen Kontinent begegnen könnte. Dies ist eine Beschreibung dessen, was der peruanische Intellektuelle Vargas Llosa einmal eine "dictatura perfecta" nannte.

Mit leiser Stimme beginnt Emiliano zu erzählen, daß er im Jahr 1984, mit zehn Jahren, zur EZLN ging. Da er noch so jung war, verschaffte die EZLN ihm eine Ausbildung in der Schule und anschließend als Maschinenbauer. Man hilft sich gegenseitig, wenn man nicht viel hat...
In den Achtziger Jahren bildeten sich in mehreren chiapanekischen Dörfern Solidargemeinschaften. Aus dieser Bewegung entstand das, was als die "Zapatistische Bewegung" bezeichnet werden könnte, und was z.B. zu den "Frauengesetzen" aus dem Jahr 1993 führte. Ebenfalls 1993 stieß das mexikanische Militär mehr oder weniger zufällig auf ein Ausbildungs- und Übungscamp der EZLN im Norden von Chiapas. Emiliano lässt zwar offen, inwieweit der Commandante Daniel hierfür verantwortlich war, berichtet aber, dass es in der Folge zu einem handfesten Streit zwischen ihm und der Comandancia gekommen sei. Daraufhin verliess Daniel die EZLN und wurde bei der Staatsanwaltschaft vorstellig und verpfiff einen Teil der geheimen Struktur der EZLN, so z.B. ein paar Namen sowie konspirative Adressen in ganz Mexico.
Nun folgte "Altbekanntes": Am 1. Januar 1994 wurde das zentralamerikanische Land Teil Nordamerikas durch den Beitritt zur nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA - und gleichzeitig ging die EZLN militärisch in die Offensive. Ein großer Teil der indígenen Bevölkerung von Chiapas bewaffnete sich und besetzte mehrere Städte, Dörfer und Ländereien und sagte "ˇYa Basta! - Es reicht!". Oder anders: "Wir Ausgeschlossenen machen nicht mit bei den Plänen der Herrschenden, uns und unser Land preiszugeben und vollständig den Gesetzen des Neoliberalismus zu unterwerfen!".
Seit 1989, dem sog. "Ende der Geschichte", also der scheinbaren Niederlage jeglicher Alternativen zur bestehenden kapitalistischen Weltordnung, war dieser Akt der Verzweiflung wohl das erste - in den Medien wahrzunehmende - Signal, daß der Kampf gegen die Herrschenden noch nicht beendet ist, und daß sich immer wieder Widerstand gegen die Pläne der Reichen regen wird. Auch wenn sich der Großteil der EZLN zwei, drei Tage später wieder zurückzog, blieben viele ehemalige Ländereien von Großgrundbesitzern in der Hand der nunmehr autonomen, d.h. vom Staat unabhängigen Kollektive!

Das Militär nahm Rache an der wehrlosen Bevölkerung von Chiapas und erreichte so bald einen Waffenstillstand mit der EZLN, der immerhin die Straffreiheit von EZLN-Angehörigen zum Gegenstand hatte. Entgegen dieses Waffenstillstandes stürmten am 7. Februar 1995 maskierte Spezialeinheiten des Militärs zwei Häuser: eins in Mexiko D.F., das andere in Veracruz. Emiliano wurde in dem Haus in Veracruz "festgenommen" und - wie seine Mitgefangenen - schwer mißhandelt und gefoltert. Als erstes wurden ihm die Augen verbunden, dann wurde er mehrere Stunden lang geprügelt und getreten, mit kaltem Wasser abgespritzt und wieder bis zur Bewußtlosigkeit geprügelt. Er sollte Namen nennen und Geheimes über die EZLN verraten, was er jedoch verweigerte. Dann wurden er und seine männlichen und weiblichen Mitgefangenen auf Pick-up's unter eine Plane gesteckt. Die Soldaten standen auf ihnen, und sie wurden nach einer mehrstündigen Fahrt zu einem Flugplatz verschleppt. Dort wurde Emiliano in ein Flugzeug verfrachtet. Noch immer waren ihm die Augen verbunden, und er konnte seine Peiniger nicht sehen, die ihm drohten, ihn aus dem Flugzeug zu werfen, wenn er nicht rede.
Emiliano machte den "Überläufer", den Ex-Comandante Daniel, dafür verantwortlich, die Adressen "ausgeplaudert" zu haben. Nun sitzt er uns gegenüber und erzählt uns seine Repressionserlebnisse und bleibt doch so ruhig dabei. Ich hätte längst über den Verräter unwiederholbare Flüche ausgestoßen...
Nachdem er - entgegen den Drohungen seiner Folterknechte - auf einem Militärflughafen in Mexiko D.F. gelandet war, wurde er in ein Militärgefängnis gebracht. Dort wurde er wiederholt gefoltert und zeitweise mit nassen Tüchern bedeckt, damit die Elektroschocks den gesamten Körper durchdringen konnten. Die Militärs bedienten sich auch der typisch lateinamerikanischen Foltermethode, bei der in eine Sprudelflasche Chili gegeben und diese Mischung dann in die Nase - und damit in die Lungen - ihrer Opfer gesprüht wird. Irgendwann ließ man ihn "in Ruhe", d.h. er mußte insgesamt zwei Monate in Isolationshaft zubringen, mit fünf und mehr Soldaten rund um die Uhr in seiner Zelle, die ihn "bewachten". Nach zwei Monaten ohne Lebenszeichen von außerhalb dieser Folterstätte, wurde er mit seinen Mitgefangenen, die diese Torturen ebenfalls durchmachen mußten, zusammengelegt. Es dauerte aber noch lange, bis sie den ersten Anwaltsbesuch bekamen oder Verwandte und Freunde sehen konnten.
Diese Geschehnisse könnten sich in jeder lateinamerikanischen Militärdiktatur abgespielt haben, wir sind jedoch immer noch in Mexiko, einem Land, in dem die "perfekte Diktatur" als eine "Farce einer Demokratie" aufgeführt wird, vor einem Publikum, das aus Internationalem Währungsfond, Weltbank, Vereinten Nationen, Europäischer Union und anderen Organisationen besteht, die diesem Land eine "hoffnungsvolle Schwellensituation" attestieren.
Die "Festnahmen" wurden in der Öffentlichkeit als Erfolg der "Ermittlungen gegen Terroristen der EZLN" dargestellt, über das Schicksal der Gefolterten verlautete jedoch keine Silbe, außer einem Bild von einer Zelle, das die "gefährlichen Terroristen" hinter Gittern zeigt, und ein anderes mit "sichergestellten" Waffen und Propagandamaterial. Emiliano und seine fünfzehn Mitgefangenen blieben über zwei Jahre im Knast, bevor sie freigesprochen werden mußten, da ihnen keine strafbare Handlung nachzuweisen war.
In den Prozeßverhandlungen wurden sog. medizinische und psychiatrische Gutachten vorgebracht, aufgrund derer sie diese "Sonderbehandlung" erfuhren: Ausgestellt von Polizeibeamten, bescheinigten sie eine "hohe Gewaltbereitschaft", eine "extrem hohe kriminelle Energie" sowie gleichzeitig Schizophrenie und Paranoia bei allen Arrestierten. Ihre gesundheitliche "Begutachtung" führte die Folterspuren auf "Unfälle bei Fluchtversuchen" zurück. Erst als ihre Verteidiger glaubwürdige Gegengutachten beibringen konnten, die erst nach eineinhalb Jahren Prozeßdauer zugelassen wurden, räumte das Gericht ein, den Gefangenen überhaupt keine Straftat nachweisen zu können, die auch nur eine "banale Hausdurchsuchung" gerechtfertigt hätte. Sie wurden also knapp zwei Jahre nach dem Überfall "unidentifizierbarer Militärkräfte" und nach der Medienkampagne gegen die arrestierten "EZLN-Terroristen" wieder freigelassen, da ihnen keine Straftat konstruiert bzw. vorgeworfen werden konnte.
Ich frage mich, wie Emiliano bei seinen Ausführungen so ruhig bleiben konnte. Und ich frage mich, wieso ich ein derart vernebeltes Bild des Staates Mexico hatte, der tatsächlich anderen lateinamerikanischen Oligarchien in Bezug auf Repression gegen die Bevölkerung in nichts nachsteht. In den Gefängnissen dieses Staates sind noch heute Tausende von Gefangenen eingepfercht, die nach jahrelanger Haft noch nicht einmal einen Richter und schon gar keinen Rechtsanwalt gesehen haben.


-> Startseite Gruppe B.A.S.T.A.