Rebellion X
Der Streik der Studierenden in Mexiko-Stadt

Im Zusammenhang mit neoliberaler Politik ist von der Hochschule selten die Rede. Die Umstrukturierung der Universitäten vollzieht sich im allgemeinen ohne großes Murren der Betroffenen und die KritikerInnen des Neoliberalismus haben in der Regel anderes zu tun, als Bildungspolitik zu problematisieren.
Als im Sommer 2000 zwei Studierende aus Mexiko auf Einladung des AStA der Humboldt Uni und der Berliner Gruppe FelS auf ihrer Deutschland-Rundreise über den zehn Monate andauernden Streik an der größten Universität Lateinamerikas, der Universidad Nacional Autónoma de Mexico (UNAM) in Mexiko-Stadt, erzählten, konnte allerdings die Ahnung von Verbindungen aufkommen.

Von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt ist in Mexiko in den vergangenen drei Jahren eine bedeutende soziale Bewegung entstanden, die ihren Ausgangspunkt im Abwehrkampf gegen die geplante Einführung von Studiengebühren hatte. Die Streikenden richteten sich nicht allein gegen die Privatisierung des Bildungssektors und gegen die Umwandlung der staatlichen Universitäten in teure bis unbezahlbare Eliteschulen. Protestiert wurde gegen eine Politik, die in Mexiko seit drei Wahlperioden Staatsdoktrin ist und die vom Soziologen Pierre Bourdieu wahlweise als "konservative Revolution" oder "Höllenmaschine" beschrieben wird: Neoliberalismus.

Inwiefern die Situation an einer Hochschule von der neoliberalen Offensive betroffen ist, und welche Auswirkungen diese Politik für eine ganze Gesellschaft haben kann, schildert das von Enrique Rajchenberg S. und Carlos Fazio herausgegebene Buch zum Streik auf vielfältige Art und Weise.
Herzstück des Bandes sind die Gespräche mit den Studierenden selbst. Wie schon Elena Poniatowska in ihrem Standardwerk über die Niederschlagung der mexikanischen 68er-Bewegung ("Massaker in Mexiko") lassen die Herausgeber die Betroffenen zu Wort kommen. Motive und Ziele der Streikenden zeigen sich dabei in einem Kontext, der die Campusgrenzen längst verlassen hat. "Im Grunde" sagt ein Student, "wollten wir den Grundstein zu einer anderen politischen Kultur legen". Institutsbesetzungen und Vorlesungsboykotts werden immer vor dem Hintergrund eines drohenden sozialen und politischen Ausschlusses gesehen. Denn zu nichts anderem würde die Abschaffung kostenfreier Bildung führen in einem Land, in dem 60% der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze lebt. Neben den Statements der Aktivistinnen stehen die Analysen der Intellektuellen. Die Herausgeber und die Ökonomin Ana Esther Ceceņa bearbeiten die Ereignisse als vom Zapatismus beeinflusste soziale Bewegung, als Opfer einer enormen Propaganda ("Telekratie") und als wirksamen Widerstand gegen das weltweite neoliberale Projekt. Eine ausführliche Chronologie rahmt im dritten großen Abschnitt die inhaltlichen Aussagen und macht nachvollziehbar, was geschehen ist und nicht zuletzt was darüber geschrieben steht.

Der Streik wurde nach knapp zehn monatiger Dauer Anfang Februar 2000 von der mexikanischen Polizei gewaltsam beendet. Dabei wurden 745 Studierende festgenommen. Einige Tage später demonstrierten 200.000 Menschen in Mexiko-Stadt gegen das Vorgehen der Polizei und für die Freilassung der Gefangenen. Die Geschichte des Streiks ist aber keineswegs nur eine weitere Episode des Scheiterns emanzipatorischer Kämpfe. Im Laufe des Streiks hatten die Beteiligten Formen der politischen Auseinandersetzung entwickelt, die hier zu Lande ihres gleichen suchen (oder ansatzweise vielleicht noch in der Münchener Räterepublik von 1919 zu finden sind). In Anlehnung an das Politikverständnis der zapatistischen Bewegung im Süden Mexikos wurden streng horizontale Organisationsstrukturen geschaffen, um Hierarchien und Autoritäten aus zu schalten oder gleich zu verhindern. Erzählt wird in diesem Buch auch von Plena des allgemeinen Streikrates (CGH), die jede Woche an verschiedenen Orten unter rotierender Leitung stattfanden, an denen jedes Mal um die 1000 Studierende teilnahmen und bis zu sagenhaften 24 Stunden lang miteinander diskutierten. Die basisdemokratische Organisierung kollektiver Interessen war insofern beispielhaft, als sie sich gerade gegen Versuche richtete, Kollektivität jenseits von Marktanforderungen überhaupt noch zu zu lassen. Das Buch hat also alles Zeug dazu, seinem Hauptanliegen gerecht zu werden, und den Widerstand der mexikanischen Studierenden auch über die Grenzen der Nation hinaus sichtbar zu machen und in einen globalen Kontext zu rücken. Wenn darüber hinaus aber keine Impulse für Studierende hier zu Lande heraus springen, liegt es nicht an den ÜbersetzerInnen, die in dieser Hinsicht alles gegeben haben.


Jens Kastner


Enrique Rajchenberg S. und Carlos Fazio: Rebellion X. Das Jahr des Streiks an der Universität in Mexiko-Stadt, Münster 2001, UNRAST-Verlag, 219 S., 24,80DM, 13 EUR, ISBN 3-89771-009-9.

erschienen in: AK Nr.458, 18.Januar 2002, S.25.