8.3.2016

Zapatistas wehren sich gegen Landraub

Die Befreiungsarmee EZLN im südmexikanischen Chiapas macht Missstände der Regierungspolitik öffentlich


Von Luz Kerkeling, San Cristóbal de las Casas, Chiapas

Die Befreiungsarmee EZLN hat ein skandalöses Vorgehen der mexikanischen Regierung gegen eigene Unterstützer*innen aufgedeckt. Die autonomen zapatistischen Gemeinden befinden sich im Aufschwung.

Die Lage im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas ist komplex: Eine Mehrheit der ländlichen Bevölkerung ist über lokale Machthaber in die Parteien- und Regierungsstrukturen eingebunden. Eine gut organisierte Minderheit, rund 1000 Dörfer und Siedlungen, verstehen sich als Basis der linksgerichteten Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN. In diesen Gemeinden, die teils nicht zu 100 Prozent zapatistisch sind, unterstützen die indigenen Kleinbauern und -bäuerinnen der EZLN das Autonomiekonzept ihrer Organisation und akzeptieren keinerlei Regierungsgelder, um sich vor Korruption und zweifelhaften Entwicklungsprojekten wie Ölpalmen-Monokulturen oder Luxustourismus zu schützen.

Für Aufsehen sorgen derzeit neue Untersuchungen der EZLN. In mehreren Kommuniqués wird über die soziale Situation der ländlichen Gemeinden berichtet. Der Regierung werden Willkür, Landraub, Einschüchterung, sexuelle Übergriffe sowie ein völliges Versagen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik vorgeworfen.

Seit Beginn des zapatistischen Aufstands von 1994 legt die Regierung, begleitet von großen Medieninszenierungen, Hilfsprogramme auf, um ihre Anhänger mit Agrarförderung, Baumaterialien, Sozialmaßnahmen oder Geld bei der Stange zu halten und gleichzeitig Zapatistas aus dem Widerstand »herauszukaufen«. Die EZLN erkannte früh, dass diese Programme keine Hilfs-, sondern Disziplinierungsmaßnahmen darstellten - frei nach dem Motto: »Wenn Ihr weiter Regierungsgelder bekommen wollt, müsst Ihr diese störenden Zapatistas vertreiben, die unsere Entwicklungsprojekte verhindern.«

Tatsächlich ließen sich so viele Regierungsanhänger*innen dazu drängen, gewaltsam gegen Oppositionelle vorzugehen. Doch die Enttäuschung vieler Regierungsunterstützer*innen ist heute groß, wie nicht wenige der EZLN nun anvertrauten. Die EZLN-Subcomandantes Moisés und Galeano fassten einige Zeugenaussagen jüngst zusammen: »In der Gegend von La Realidad erhielten die Leute ein Viehzuchtprojekt der schlechten Regierung. Alle erhielten Rinder, nicht als Gemeinschaft, jeder einzeln. [...] Wie Sie sich vorstellen können, waren die Menschen sehr zufrieden. Sogar Poster und T-Shirts hatten sie, auf denen stand, dass die Regierung die Versprechungen einhält. Und die Politiker ließen sich fotografieren und bezahlten den kommerziellen Medien viel Geld, damit sie die große Nachricht veröffentlichten: ›In den Dörfern der Parteianhänger gibt es Fortschritt, den Zapatistas geht es gleich oder schlechter als 1994‹.

[...] Der verfluchte Regierungsinspektor kam wieder und rief alle Dorfmitglieder zusammen. Da sagt er allen, während er Papiere herauszieht und den Menschen zeigt: ›Das ist die Liste über alles, was ihr schon von der Regierung bekommen habt. Daher gehört das Land jetzt nicht mehr Euch, Ihr müsst von hier weggehen. Und es ist besser, wenn Ihr im Guten geht, wenn nicht, wird es für Euch schlecht aussehen.‹ [...] Das heißt, während die Menschen - vergnügt über die Unterstützung der schlechten Regierung - ihr Vieh betreuten, waren sie in Wirklichkeit Knechte, da das Vieh ihnen nicht gehörte. Alle Papiere, die sie unterschrieben, bedeuteten nichts anderes als den üblen Verkauf ihrer Ländereien, ohne dass sie das wussten. [...] Da plötzlich gefror ihnen das Lächeln und das Lamentieren begann, die Trauer, der Schmerz und die Wut. Denn dort handelt es sich um eine Tourismuszone, da, wo der Jataté-Fluss wunderschöne kleine Inseln formt. Darauf sind sie aus, die Herren Trittbrettfahrer der Geldscheine.«

Offenbar schrecken Teile des Staatsapparates auch nicht vor sexueller Gewalt zurück: »In zwei Gemeinden wollten die Frauen ihre Projekte erhalten. Die Regierung sagte, dass auch die Mädchen kommen müssten. Das Treffen war in Tuxtla Gutiérrez, der Hauptstadt von Chiapas [...]. Als sie nach Tuxtla kamen, trennten sie die Mädchen von den Frauen. Aber eine Erwachsene gelangte irrtümlich in die Gruppe der Mädchen. Sie nahm mit ihrem Mann Verbindung auf und sagte ihm, dass sie drei Stunden in einem Haus festgehalten wurden. Die Mädchen berichteten, dass sie zu sexuellen Handlungen gezwungen wurden. Heute wird in der Gemeinde erzählt, was die Beamten machen: Im Gegenzug für das Projekt zwingen sie sie zum Sex. [...] Das heißt, die schlechte Regierung kehrt in den Gemeinden der Parteianhänger wieder zur Auferlegung des Rechts der ersten Nacht zurück. Wenn ein Mädchen vor der Heirat stand, hatte der Großgrundbesitzer das Recht, diese Frau zu vergewaltigen.«

Den autoritären Staatsstrukturen setzen die Zapatistas ihre Autonomie entgegen. Gegenüber »nd« berichtet eine Vorsitzende des zapatistischen »Rates der Guten Regierung« von Morelia, der mehrere 10 000 Menschen verwaltet, sichtlich zufrieden über die Situation in der Zone: »Das kapitalistische Tourismusprojekt von Agua Azul liegt auf Eis. Unsere Leute sind von Vertreibung bedroht, aber wir haben dort noch immer die Kontrolle.« Ein Kollege ergänzt: »Wir haben vieles erreicht, in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Frauenrechte, Kollektivarbeit, Agrarökologie, Selbstversorgung und Rechtsprechung. Häufig kommen Parteianhänger, um sich Schiedssprüche von uns einzuholen, weil sie ihrer offiziellen Regierung nicht mehr vertrauen.«

In ihren Verlautbarungen betont die EZLN, das besonders die Projekte der Frauen gut vorankommen. Laut Angaben der EZLN wächst die zapatistische Bewegung derzeit, vor allem Jugendliche treten ein. Für Sommer, Herbst und Winter sind große Treffen zu den Themen Kunst und Kultur, indigener und Unterklassen-Widerstand sowie kritische Wissenschaften geplant. »Aufgeben kommt nicht infrage, wir machen weiter«, betont die Ratssprecherin aus Morelia selbstbewusst. Ein älterer Kenner der Region, mitnichten Zapatist, bestätigt die Einschätzungen der EZLN im Gespräch: »Seitdem es diese Regierungsprogramme gibt, gehen die Leute nicht mehr auf die Felder arbeiten. Viele Jugendliche hängen herum, sie gehen nicht einmal mehr zur Schule. Und dann fängt es manchmal mit der Kriminalität an. Aber da, wo die Leute noch mit Herzblut ihre Felder bearbeiten, geht es den Dörfern gut.«

* Mehr Infos unter: www.chiapas.eu

(erschienen in: Sozialistische Tageszeitung "neues deutschland" 8.3.2016)