Entwicklung im falschen Rhythmus


Antoine Libert Amico: Staatlich-private »Hilfe« greift Lebensweisen der Indigenen an

Am 16. Februar 1996 unterzeichneten die mexikanische Regierung und die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN die Abkommen von San Andrés über indigene Rechte. Umgesetzt hat die Regierung die Verträge nie. Bis heute setzen sich die EZLN und andere für die Selbstbestimmung der indigenen Bevölkerung ein. Darüber sprach mit Antoine Libert Amico, Anthropologe und Agrarwissenschaftler der Universität Chapingo in Chiapas, für »nd« Luz Kerkeling.

nd: Chiapas ist ein Bundesstaat im Süden Mexikos mit einem großen Reichtum an Kulturen, Biodiversität und Bodenschätzen. Dennoch lebt die Mehrheit der Bevölkerung weiter unter Bedingungen der Armut, Diskriminierung, Ausbeutung und Repression. Der Staat und die Privatwirtschaft räumen nun ein, dass es viele soziale und ökologische Probleme gibt. Sie reagieren mit groß angelegten Entwicklungsprojekten. Worum handelt es sich dabei?

Amico: In Mexiko spiegelt sich das Wirtschaftswachstum bis dato nicht in einer Verringerung der Armut wider. Angesichts der sozialen Misere treibt die Regierung eine Reihe von Projekten voran, die sie als »nachhaltige Entwicklung« charakterisiert. Der Staat öffnet den Privatinvestoren Tür und Tor und die UNO gibt sich dafür her, als das öffentliche Gesicht der Sozialpolitik benutzt zu werden. Die Territorien im Bundesstaat werden neu konfiguriert: durch neue Projekte zur Konzentration von versprengten Siedlungen in so genannten Landstädten, durch die Förderung von Monokulturen unter dem Vorzeichen des Mesoamerikanischen Programms für Agrartreibstoffe und durch die angebliche Konservierung der biologischen Artenvielfalt durch Vorhaben im Bereich des Luxustourismus. Jedes Projekt reproduziert aber das Modell einer politischen Planung von oben nach unten, mit gravierenden Fehlern im Konzept und einer nur oberflächlichen Beteiligung der gesellschaftlichen Akteure.

Im Falle der »Landstädte« klingt die Zusammenfassung kleiner Siedlungen nicht so schlecht, um eine Grundversorgung anbieten können. Nach Jahren der Feldforschung kritisieren Sie diese Projekte von Grund auf. Warum?

Das Projekt der nachhaltigen Landstädte an sich klingt nett, aber seine Umsetzung reproduziert ein autoritäres Modell mit einer zentralisierten und vertikalen Planung. Keine einzige Landstadt hat ihre Ziele erfüllen können, die neuen Wohnhäuser bilden oft leere Siedlungen. Die Regierung argumentiert, dass die Gemeinden arm sind, weil sie klein und versprengt angesiedelt sind. Sie offenbart so eine grundsätzliche Geringschätzung gegenüber der kleinbäuerlich-indigenen Lebensweise und der Beziehung, die diese Gemeinden zu ihrem Territorium haben. Die Landstädte wurden vorangetrieben, um die Bevölkerung unter einer humanitären Argumentation umzusiedeln. Auf ihren ursprünglichen Ländereien sollen aber strategische Projekte realisiert werden, darunter neue Wasserkraftwerke.

Könnte die Kultivierung von Ölpalmen nicht eine Lösung darstellen, um aus der Armut herauszukommen? Es gibt doch eine große Nachfrage ...

Die Ölpalme trifft in Chiapas auf gute Anbaubedingungen, der Bundesstaat ist der größte Produzent auf nationaler Ebene. Die Produktion kann auf die Unterstützung durch das »Projekt Mesoamerika«, Nachfolger des neoliberalen »Plan Puebla-Panama«, zählen. Doch obwohl es im Bundesstaat Fabriken zur Produktion von Biodiesel gibt, wird diese »erneuerbare Energie« entgegen der Regierungserklärungen nicht hier hergestellt, sondern aus den USA importiert. Die Ölpalme bringt beachtliche Einnahmen für die Produzenten, aber sie reproduziert ein ausschließendes Modell, genau wie die Zuckerrohrpflanzungen während der Diktatur von Porfirio Díaz Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Produzenten sind Eigentümer der Ländereien, aber sind von der Industrie abhängig, die diese Frucht verarbeitet, den Preis bestimmt, die Werkzeuge liefert und die Kredite vergibt. Dieses Produktionsmodell spornte Emiliano Zapata zur Mexikanischen Revolution an.

Viele organisierte indigene Personen und Gemeinden fühlen sich keineswegs »arm«. Was würde die Einhaltung der Abkommen von San Andrés für die indigene Bevölkerung und die Gesellschaft insgesamt bedeuten?

Es gibt eine Vielzahl von Initiativen der Zivilgesellschaft in Chiapas, von den autonomen Gesundheitsprojekten der Zapatistas bis hin zur Vermarktung von ökologischem Kaffee, um nur wenige Beispiele zu nennen. Angesichts der fehlenden Anerkennung ihrer Rechte setzen die indigenen Gemeinden diese ohne die Erlaubnis des Staates in die Praxis um. Die Projekte zur angeblich »nachhaltigen Entwicklung« in Chiapas verstärken die Abhängigkeit vom Staat und vom Privatsektor. Die Menschen schlagen ein gegenteiliges Modell vor, das auf ihren eigenen Bedürfnissen basiert: eine autonome Antwort, um mit eigener Kraft über ihr eigenes Leben entscheiden zu können. Es wird nicht vorgeschlagen, sich vom mexikanischen Staat abzutrennen, sondern die Beziehung zu ihm zu verändern und so Alternativen aufbauen zu können, die wirklich von der Basis ausgehen.

Quelle: Sozialistische Tageszeitung neues deutschland 6.3.2012