Nichts geht ohne Basisdemokratie

Internationaler Kongress im mexikanischen Chiapas rund um die Ideen der Zapatistas


Vor 18 Jahren trat die Zapatistische Befreiungsbewegung aus Chiapas in Mexiko auf die Weltbühne. Ein internationaler Kongress debattierte aus diesem Anlass in San Cristóbal über Auswege aus Umweltzerstörung, Krieg und Kapitalismus - mit der Basisdemokratie der Zapatistas als Vorbild.

Chiapas, Mexiko, im Januar. Vier Tage diskutierten Intellektuelle und soziale Aktivistinnen und Aktivisten aus Mexiko, Nord- und Lateinamerika auf dem »II. Internationalen Seminar: Planet Erde - antisystemische Bewegungen« über die aktuellen Herausforderungen für emanzipatorische Kräfte weltweit. Anlass war der 18. Jahrestag des Aufstands der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN vom 1. Januar 1994.

Aufgerufen zu dem vielfältigen Treffen, das in der Tradition vieler Foren stand, die seit 1994 von der EZLN organisiert wurden, hatte die »Universität der Erde«, ein großes autonomes Bildungszentrum am Rand von San Cristóbal. Die Zapatistas selbst begingen ohne öffentliche Beteiligung das Jubiläum in ihren fünf abgelegenen Verwaltungszentren im Regenwald von Chiapas.

Der Veranstaltungsort symbolisierte eines der Ziele des Treffens - den Aufbau von Alternativen. Denn in dieser sehr anderen Schule werden jährlich Hunderte junge Indigene in unterschiedlichen Berufen ausgebildet, um danach in ihre Gemeinden zurückzukehren und die Autonomieprozesse dort zu stärken.

Täglich kamen über 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Treffen. Wie bei vielen Kongressen waren es die Pausengespräche, die tatsächlich die Menschen zusammenbrachten. Beim Schlendern in der Hochlandsonne über das weite Gelände oder bei Kaffee und Gebäck wurden die Beiträge lebhaft diskutiert. An den Bücher- und Kunsthandwerkständen wurde gestöbert und gefachsimpelt, viele Vertreterinnen und Vertreter unabhängiger Medien führten Interviews durch und so vernetzten sich zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Unter den knapp 30 Podiumsgästen befanden sich der mexikanische Friedensaktivist und Dichter Javier Sicilia, die bolivianische Feministin Julieta Paredes, die Occupy-Wallstreet-Aktivistin Marlina aus New York sowie weitere Redner aus Chile, Kuba, Mexiko und den USA.

Zentraler Ausgangspunkt vieler Beiträge war die katastrophale Situation, in der sich Mexiko, aber auch viele andere Länder befinden. Aus unterschiedlichen Perspektiven wurden die ausufernde Gewalt, das Versagen der etablierten politische Klasse und die Menschen- und Umweltfeindlichkeit des kapitalistischen Systems konstatiert. So kritisierte Paulina Fernández, Politikwissenschaftlerin aus Mexiko-Stadt, dass 98 Prozent der Menschenrechtsverletzungen in Mexiko straflos blieben. Mit klaren Zahlen belegte sie, wie sich mexikanische Staatsfunktionäre in »völliger Schamlosigkeit« während ihrer Amtszeit die Taschen füllten. Im Interview unterstrich sie, dass die Zapatistas demgegenüber selbstorganisiert »ihre autonome Verwaltungsarbeit leisten, ohne dafür entlohnt zu werden«. Im Gegensatz zu den Staatsautoritäten könnten sie bei Kritik »jederzeit von der Basis abgesetzt werden«. Der Dienst an der Allgemeinheit stehe über dem Gewinnstreben der Einzelnen.

Luis Andrango aus Ecuador warnte vor der zunehmenden Entbäuerlichung der Landwirtschaft, die immer stärker von agrarindustriellen Konzernen dominiert werde. Er betonte die Bedeutung des bäuerlichen Netzwerks Vía Campesina, dem 150 Organisationen aus 70 Ländern angehören. Der Verband kämpft für die Ernährungssouveränität jeder Gesellschaft, ein Konzept, das Andrango als »die einzige Möglichkeit« bezeichnete, den Klimawandel und das Verschwinden der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern zu stoppen.

Alle Rednerinnen und Redner unterstrichen, dass viele antisystemische Bewegungen durch das besondere zapatistische Politikverständnis inspiriert worden sind. Hervorgehoben wurde dabei der undogmatische, stets fragende Charakter der Bewegung sowie die Ablehnung der Übernahme der Staatsmacht zugunsten einer radikalen Demokratisierung von unten.

Der Ex-Rektor der Universität von Mexiko-Stadt (UNAM), Pablo González Casanova, vertrat die von vielen geteilte These, dass die aktuellen Mobilisierungen gegen Neoliberalismus und undemokratische Regimes auf dem gesamten Planeten ohne die zapatistische Rebellion von 1994 undenkbar seien.

Ein Grundkonsens der Beiträge war der Vorschlag, trotz aller Schwierigkeiten und Unterschiede die Selbstorganisation voranzutreiben, nicht nur gegen Kapitalismus, auch gegen Patriarchat, Rassismus und Umweltzerstörung. Die einende, Hoffnung machende Brücke bildete dabei der Aufbau der Autonomie in den zapatistischen Territorien. Viele Reden endeten mit einem kämpferischen »Es lebe die EZLN!«, das vom Publikum stets mit einem begeisterten »Viva!« quittiert wurde.

Ein Fortschritt des Kongresses war laut Paulina Fernández die Einsicht, dass es notwendig ist, eine klare antikapitalistische Position zu beziehen, sich deutlich vom Parteiensystem zu trennen und das Politikmachen wieder in die Gesellschaft zurückzuholen.

Was nach den vielen Reflexionen, Analysen und Vorschlägen weiter zu diskutieren bleibt, ist die Frage, wie eine effektivere Organisierung der ausgegrenzten Mehrheiten vorangebracht werden kann, ohne in orthodoxe Muster zu verfallen, die sich immer wieder als äußerst anfällig für Spaltung, Repression und Korruption erwiesen haben.

Tosenden Beifall erhielt der abschließende Beitrag einer alten indigenen Frau aus dem Publikum. Sie bedankte sich dafür, dass viele Teilnehmer von weit her angereist waren, sie bedankte sich für die vielen schönen Reden und endete mit den Worten: »Und jetzt müssen wir uns an die Arbeit machen!«

Luz Kerkeling, Chiapas, Mexiko

10.1.2012