Vorläufiger Bericht über das Massaker von Chincultik
(Menschenrechtszentrum Fray Bartolome de las Casas)
6. Oktober 2008
Am 3. Oktober fand in der Gemeinde Miguel Hidalgo, Municipio La
Trinitaria, eine polizeiliche Operation statt. An dieser waren sowohl
bundesstaatliche und föderale Polizeieinheiten (/Policia Federal
Preventiva/, PFP und /Policia Estatal Preventiva/, PEP) als auch die
Staatsanwaltschaft von Chiapas (/Procuracion de Justicia del Estado de
Chiapas/), das Sicherheitsministerium (/Secretaria de Seguridad y
Proteccion Ciudana/), Beamte des /Ministerio Publico de la Federacion/,
sowie eine Delegation der PGR (/Procuraduria General de la Republica/)
beteiligt.
Als Grund für die Operation wurde die Besetzung des zeremoniellen
Zentrums von Chincultik durch die Bevölkerung von Miguel Hidalgo
angegeben. 28 Personen wurden beschuldigt, das Eintrittshäuschen an den
Eingängen zum Nationalpark Lagunas de Montebello besetzt zu haben. Die
archeologische Stätte von Chinkultic liegt in diesem Park.
Bei der Operation wurden sechs Personen von der Polizei getötet, 17
verwundet und 36 Festgenommen.
Somit liegen Menschenrechtsverletzungen, wie das Recht auf Leben,
körperliche Unversehrtheit und persönliche Sicherheit, Rechtsicherheit
und Würde vor.
Wie FrayBa nach ZeugInnenaussagen dokumentieren konnte, drangen am 3.
Oktober gegen 11:40 Uhr Polizisten der PEP sowie der /Policia
Ministerial/ mit Fahrzeugen, Pferden sowie zu Fuss in die Gemeinde
Miguel Hidalgo ein. Dabei schossen sie Tränengas ab und drangen
gewaltsam in einige Häuser ein.
Daraufhin kreisten die BewohnerInnen der Gemeinde die PolizistInnen ein,
nahm ihnen 77 Feuerwaffen, zudem Schutzschilder und /toletes /ab und
sperrte sie in das Gemeindezentrum von Miguel Hidalgo ein.
Gegen 17:30 Uhr drangen weitere 300 PolizistInnen der PEP sowie der
/Policia Ministerial /mit Tränengas in die Gemeinde ein. Wiederum wehrte
sich die Bevölkerung, diesmal mit Steinen und Stöcken. Daraufhin setzte
die Polizei Feuerwaffengegen die Bevölkerung ein, wobei einige Personen
verletzt wurden.
Kurz nach diesem Zusammenstoß kam Augustin Alfaro Alfaro, der in der
Nähe der Gemeinde wohnt, mit seiner Frau, Eloisa Margartia Espinoza und
deren Kind in einem Auto nach Miguel Hidalgo, um die verletzten Personen
ins nächste Krankenhaus zu fahren.
Als er die Gemeinde verließ, befanden sich folgende Personen in seinem
Auto:
- Rigoberto Lopez Vazquez
- Jose Alfredo Hernandez Ramirez
- Miguel Antonio Ramirez Lopez
- Miguel Martinez Garcia
Ungefähr bei der Kilometermarke 30 der Straße Lagunas de Montebello -
Comitan de Dominguez wurde das Auto von einem Wagen der PEP angehalten.
Die Polizisten verletzten den Fahrer Augustin Alfaro Alfaro an einem
Bein, ließen ihn daraufhin aus seinem Wagen aussteigen und töteten ihn
mit einem Schuss in die Brust. Ebenso erschossen sie Rigoberto Lopez
Vazquez, Jose Alfredo Hernandez Ramirez, Miguel Antonio Ramirez Lopez.
Miguel Martinez Garcia überlebte verletzt. Eloisa Margarita Espinoza
sowie ihr Kind sind ZeugInnen des Massakers, das sie unverletzt überlebten.
Bei der Operation in der Gemeinde wurden Ignacio Hernandez Lopez und
Ricardo Ramirez Ramirez von der Polizei verletzt. Sie starben auf dem
Weg zum Krankenhaus von Amparo Agua Tinta, Municipio Las Margaritas.
36 Personen wurden festgenommen und ins Gefängnis nach San Cristobal und
La Trinitaria gebracht. Die festgenommenen Personen wurden am 5. Oktober
um ca. 21:00 Uhr im Ejido Lazaro Cardenas in der Nähe von Miguel Hidalgo
im Austausch gegen die den Polizisten abgenommenen Waffen freigelassen.
Weitere 17 Personen wurden verwundet, 10 durch Schläge und 6 durch
Feuerwaffen. Am schwersten verletzt wurde Candido Perez Mendez, der am
6. Oktober in ein Krankenhaus nach Mexico D.F. gebracht wurde. Miguel
Martinez Garcia sowie Madain Martinez Espinos befindet sich im
regionalen Krankenhaus von Tuxtla Gutierrez, Roselin Ramirez Samorano im
regionalen Krankenhaus von Comitan de Dominguez, Darinel Hernandez Lopez
im Krankenhaus von Amparo Agua Tinta, wohin auch Abenamar Calvo Perez am
5. Oktober gebracht wurde.
Aufgrund ihrer Informationen und ZeugInnenaussagen wurden laut FrayBa
grundlegende Menschenrechte verletzt:
1. Recht auf Leben, Recht auf persönliche Unversehrtheit, Recht auf
persönliche Freiheit und Sicherheit, Recht auf gerichtliche Sicherheit,
Recht auf würdige Behandlung, Unversehrtheit, persönliche Freiheit und
Sicherheit, gerichtliche Sicherheit, Würde und Ehre.
Diese Rechte sind im Artikel 133 der mexikanischen Verfassung und der
Gerichtsbarkeit, ebenso im Internationalen Pakt für Zivile und
Politische Rechte und der Amerikanischen Konvention über Menschenrechte
verankert, die einen normativen Bezugspunkt für die Gerichtsbarkeit in
Mexiko darstellen. Alle staatlichen Organe der drei Gewalten sind zu
deren Einhaltung und Erfüllung verpflichtet.
Im Fall von Miguel Hidalgo wurden diese Rechte verletzt, da föderale und
bundesstaatliche Polizeieinheiten im Beisein von öffentlichen Behörden
sowie der Staatsanwaltschaft sechs Personen töteten und sieben Personen
verletzten.
2. Unangemessene Härte und Einsatz der /Seguridad Publica/ gegen die
BewohnerInnen der Gemeinde, Mord, Verletzungen und willkürliche
Verhaftungen.
3. Verletzung des Rechts auf Leben, das in Artikel 22, Absatz 1, der
mexikanischen Verfassung garantiert wird. Dieser Absatz verbietet u.a.
die Todesstrafe.
Ebenso wird dieses Recht in Artikel 6, Absatz 1, des Internationalen
Paktes über Zivile und Politische Rechte und in Artikel 4, Absatz 1, der
Amerikanischen Menschenrechtskonvention garantiert. Der
Interamerikanische Menschenrechtshof verpflichtet die Regierungen dazu,
alles zu unternehmen, um das Recht auf Leben zu gewährleisten. Zudem
müssen die Regierungen die staatlichen Sicherheitsorgane wie die Polizei
überwachen, dass diese ebenfalls das Recht auf Leben einhalten. Die
Polizei hat die Aufgabe, Leben zu schützen und nicht zu töten, zudem
Präventivmassnahmen zu ergreifen, um Leben zu schützen und im Falle
einer Verletzung dieses Recht durch die Polizei, den Fall aufzuklären.
Im Fall von Miguel Hidalgo kann konstatiert werden, dass die Polizei
nicht nur nicht alles unternommen hat, um Leben zu schützen, sondern
dass ihre Aktionen zum Tod von sechs Personen geführt haben.
4. Die mexikanische Verfassung verbietet unter Artikel 19, letzter
Absatz sowie in Artikel 20 und 22, Absatz A, II jegliche Art von Folter
sowie das Verwunden von Personen, auch als Einschüchterungsmaßnahme.
Ebenso garantiert die Amerikanische Menschenrechtskonvention in Artikel
5, Absatz 1 und 2, das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Darunter
fällt auch der Fall der Misshandlung, die im Falle von Miguel Hidalgo
(Einsatz von Tränengas) zur Gegenwehr durch die Bevölkerung führte.
Das Menschenrechtszentrum FrayBa verurteilt aufs Schärfste die
Menschenrechtsverletzungen, die durch Polizeieinheiten und Behörden
gegen die Bevölkerung von Miguel Hidalgo begangen wurden und fordert die
Regierung des Bundesstaates von Chiapas als auch die föderale Regierung
auf, eine neutrale Untersuchung der Ereignisse durchzuführen, die
Verantwortlichen zu bestrafen sowie die materiellen und immateriellen
Schäden zu begleichen. Ebenso fordert FrayBa die Regierungen auf,
Maßnahmen zu ergreifen, dass derartige Menschenrechtsverletzungen nicht
mehr vorkommen.
Kontext von Chiapas und vorhergehende Ereignisse
Repressionen durch staatliche Organe gegen indigene Gemeinden, die
Menschenrechte (zivile, politische und WSK-Rechte) einfordern
Im Jahr 2008 haben viele indigene Gemeinden versucht, ihre Rechte auf
Land und Territorium, das Recht auf Schutz und Partizipation an
natürlichen Ressourcen sowie das Recht auf Schutz des kulturellen Erbes,
das für die Identität der Gemeinden als indigene Bevölkerung von großer
Bedeutung ist, zu erkämpfen und durchzusetzen.
_Im Folgenden ein paar Beispiele, v.a. im Bezug auf den Kampf um Land,
der von staatlichen Organen unterdrückt wurde: _
- 15. April: Predio San Antonio de Tonina, Municipio Ocosingo: Alfonso
Cruz Espinosa und Benjamin Martinez Ruiz klagen beim
Menschenrechtszentrum FrayBa an, von der INAH (Nationales Institut für
Anthropologie und Geschichte) Drohungen zu erhalten, ins Gefängnis zu
kommen oder ökonomisch bestraft zu werden; Grund: ihre Felder liegen am
Rand der archäologischen Stätte von Tonina, somit "dringen" sie u.U. in
das Gebiet der Stätte ein, um ihr Land zu bearbeiten.
- 16. Juli: Mitglieder der z.T. paramilitärisch organisierten OPDDIC
versuchen, gewaltsam das Kassenhäuschen am Eingang der Wasserfälle Agua
Azul, Municipio Chilon, zu übernehmen; die Kasse wurde zuvor von
BewohnerInnen der Region übernommen, um von den Einnahmen zu profitieren.
- 22. Juli: Cruzton, Municipio Venustiano Carranza; Beamte der PEP
werden von der Gemeinde vertrieben; die PEP hatte einen Monat lang die
Wasserquelle sowie die Felder der Gemeinde besetzt, die ein Jahr zuvor
diese wiederbesetzt hatte; bei dem Konflikt geht es zudem um Gold, dass
in der Region, in der sich die Gemeinde befindet, angeblich vorhanden ist.
- 10. September: Huitepec, Zweite Sektion, im Municipio San Cristobal;
Beamte der Staatsanwaltschaft suchen 2 Personen, die seit 2006 das
zapatistische Naturreservat pflegen.
- 3. Oktober: Miguel Hidalgo, Municipio La Trinitaria (s.o.)
Ereignisse, die zu Massakern geführt haben:
- 30. Mai 1980: Massaker von Wolonchan, Municipio Sitala; während einer
friedlichen Demonstration wurden einige KleinbäuerInnen getötet
- 14. März 1997: Massaker in der Gemeinde San Pedro Nixtalucum, El
Bosque; 4 Zapatistas von Armee und Polizeieinheiten getötet;
Zwangsumsiedlung von 80 Familien.
- 22. Dezember 1997: Acteal, Municipio Chenalho; 45 Tote (ein Baby, 14
Kinder, 21 Frauen, 9 Männer); begangen von Mitgliedern der /Partido
Frente Cardenista /und der PRI mit Rückendeckung von Armee und Föderalen
Polizeieinheiten; das Massaker dauerte ca. 7 Stunden; Beamte anderer
Polizeieinheiten waren ca. 200 Meter entfernt, ohne jedoch
einzuschreiten; Die intellektuell Verantwortlichen des Massakers sind
immer noch nicht bestraft worden.
- 28. Januar 2003: Massaker in der Gemeinde Tres Cruzes, Municipio
Chamula; Polizeieinsatz durchgeführt von Beamten der /Sub-Procuraduria
Indigena;/ 5 Tote
- 13. Novemeber 2006: Massaker in Viejo Velasceo Suarez, Municipio
Ocosingo; begangen durch Polizeieinheiten und zivile Personen der
Nachbargemeinde; 4 Tote, 4 Verschwundene.
- 1. Mai 2008: Hinrichtung in der Colonia San Juan Grijalva, Municipio
Tecpatan, Beamte der PEP töten Luis Fernando Guzman Hernandez, ohne
Haftbefehl und ohne Verfolgungsgrund.
- 3. Oktober 2008: 6 Tote im Ejido Miguel Hidalgo, Municipio La
Trinitaria (s.o.).
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