„Mexiko führt einen Krieg gegen die Bevölkerung“

Anti-Drogenkampf dient als Vorwand für Repression gegen die sozialen Bewegungen.

Interview mit Carlos Fazio. Fazio ist Analyst der mexikanischen Innen- und Außenpolitik und Journalist der Zeitung La Jornada. Er nimmt als renommierter Intellektueller am "Tribunal des Volkes" in Mexiko teil.




Frage: Vor wenigen Tagen wurde die zweite Sitzung des "Tribunals des Volkes" gegen Regierungsvertreter durchgeführt, die in verschiedenen Teilen Mexikos für die Repression gegen soziale Bewegungen verantwortlich gemacht werden. Was ist das Ziel dieser Mobilisierung?

Der landesweite Prozess, der in dieser Etappe in San Salvador Atenco durchgeführt wird, hat als Hauptziel die Präsentation von Zeugenaussagen von Repressionsopfern. Im Moment geht es um die Repression in Atenco, Oaxaca, Guerrero und weiteren Orten, wo die Menschen gegen aufgezwungene Industrie- und Infrastrukturprojekte oder autoritäre Regierungswillkür mobilisieren.
Angesichts der völligen Abwesenheit der Gerechtigkeit in Mexiko geht es um die Idee, dass es eine neue Form von Gerechtigkeit geben soll, die von der Bevölkerung ausgeht. Die Verantwortlichen sollen einem Prozess unterzogen und schließlich auch verurteilt werden. Dies hört nicht in Atenco auf, im Dezember wird es eine weitere Anhörung in Guadalajara, Jalisco, geben und dann eine weitere 2008. Für Mitte 2008 werden die Urteile erwartet.
Dies hat selbstverständlich zunächst einen symbolischen Charakter, aber diese Dokumentation von Zeugenaussagen und Beweisen könnte als Ausgangspunkt für internationale Instanzen fungieren, damit diese auf Mexiko und die entsprechenden Funktionäre Druck ausüben. Letztendlich geht es um die Etablierung eines Rechtsstaates.
All das geschieht vor dem Hintergrund, dass in Mexiko ein Prozess stattfindet, in dem sich der Staat in eine faschistoide Richtung entwickelt. Die enorme Militarisierung des Landes verletzt die Menschenrechte massiv. In Kürze wird die Umsetzung des sogenannten "Plan Mexiko" bekannt gegeben. Dies ist ein Plan, der Millionen von Dollar umfasst und von den USA finanziert wird und dessen Hauptaspekt das Militär ist. Das zeigt uns, dass der Prozess der Militarisierung weiter vorangetrieben wird. Was daraus im Wesentlichen folgt, ist ein Krieg gegen die Bevölkerung, gegen die sozialen Bewegungen - unter dem Vorwand eines Krieges gegen das Drogenbusiness. Damit einher geht ebenfalls ein erheblicher Souveränitätsverlust für Mexiko.

Frage: Wie ist in diesem Kontext die aktuelle Regierung von Felipe Calderón Hinojosa zu charakterisieren? Er ist nach Vicente Fox ja bereits der zweite Präsident von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) in Folge.

In Mexiko gibt es eine plutokratische Regierung. Die Millionäre, die das Land kontrollieren, haben die letzten beiden Präsidenten installiert. Die Präsidenten agieren in der Tat wie die Verwalter der realen Macht, also der ökonomischen Macht, die vom nationalen Kapital in Verbindung mit dem internationalen Kapital, konkret mit transnationalen Konzernen aus den USA, Spanien und dem weiteren Europa ausgeht. Calderón kann als Verfechter einer bestimmten Kontinuität charakterisiert werden. Diese Regierung ist keine Regierung der aktuellen PAN, es handelt sich um eine Fassade, dahinter steckt auch eine Ultra-Rechte, die den Aufständen der fundamentalistischen Christen aus den 1920er Jahren entstammt. Aber vor allem dient die Regierung dem Kapital und den entsprechenden Projekten wie dem Plan Puebla-Panamá, einem infrastrukturelles Mega-Projekt, das vor allem den großen multinationalen Unternehmen nutzt.

Frage: Können Mobilisierungen wie dieses "Tribunal des Volkes" auch dazu beitragen, eine größere Einheit zwischen den sozialen Bewegungen und den verschiedenen Strömungen der Linken zu schaffen?

In Mexiko gibt es einen bedeutenden Prozess von sozialen Kämpfen und einen starken Widerstand, der von der Bevölkerung ausgeht. Doch unglücklicherweise sind viele dieser Bewegungen sehr versprengt. Das Tribunal ist auch eine Anstrengung, um über ein fokussiertes Kampfprogramm die verschiedenen Widerstandsbewegungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene für bestimmte Aktionen zusammenzuführen. Wir hoffen, dass es kurzfristig möglich ist, die Linke zu vereinen, aber wir wissen, dass dies schwierig sein wird, weil es auch innerhalb der Linken viele Auseinandersetzungen gibt. Doch wir denken, dass Bemühungen wie diese zu einer größeren Einheit beitragen können.

Frage: Was kann die internationale Solidaritätsbewegung in dieser Situation unternehmen?

Die internationale Solidarität spielt eine Schlüsselrolle, um die sozialen Kämpfe zu unterstützen. Es geht nicht nur darum, die Beschwerden der lokalen Bewegungen zu erwähnen, sondern darum, auch die komplexen Hintergründe der Prozesse, die sich in Atenco, Oaxaca oder allgemein abspielen, zu erklären. Das bedeutet, Aktivitäten zu unternehmen, um diese Nachrichten breit zu streuen, in den jeweiligen Herkunftsländern in Europa oder Nordamerika, in denen die Großkonzerne nicht selten ihren Muttersitz haben. Auch die materielle Unterstützung kann wichtig sein, zum Beispiel im Fall der Minenarbeiter-Witwen von Pasta de Concho, die ohne Zuwendungen gar nicht in der Lage wären, Anklagen gegen die Funktionäre zu erheben, die für den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich sind.

Interview: Luz Kerkeling, Gruppe B.A.S.T.A., Atenco 20.10.2007