Nur der Verlierer zählt
Nach dem Wahlsieg des konservativen Kandidaten Calderón bei den
mexikanischen Präsidentschaftswahlen spricht sein linker
Gegenkandidat von Wahlbetrug und fordert eine Neuauszählung der
Stimmen.
von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt (JUNGLE WORLD)
Wie viele es wirklich waren, wird wohl niemand so genau sagen können.
Jedenfalls lag das Zentrum von Mexiko-Stadt lahm, als der gemäßigt
linke Politiker Andrés Manuel López Obrador am vergangenen Sonntag
seine Anhänger dazu aufrief, in die mexikanische Hauptstadt zu
kommen. Mindestens eine Million Menschen folgte dem Aufruf,
zahlreiche gelbe Fahnen der Partei der Demokratischen Revolution
(PRD) säumten die Straßen, und unzählige Transparente stellten klar:
"Nein zum verdammten Wahlbetrug".
López Obrador, den alle nach seinen Initialen schlicht Amlo nennen,
stellt die Machtfrage. Glaubt man den Auszählungen der
Präsidentschaftswahl der ersten Juliwoche, dann hat der Kandidat der
PRD knapp verloren. 236000 und damit 0,58 Prozent der 42 Millionen
Stimmen trennten ihn demnach von seinem Konkurrenten, dem klerikal-
konservativen Felipe Calderón von der regierenden Partei der
Nationalen Aktion (Pan). Da das mexikanische Recht keine Stichwahl
vorsieht, scheint der Sieger also ausgemacht. Doch Obrador schlägt
zurück: Manipulierte Computer und eine undurchsichtige Stimmenzählung
hätten ihm den Wahlsieg geraubt, behauptet er. Nun ist der PRD-
Politiker vor das Bundeswahlgericht gezogen und macht zugleich auf
der Straße mobil.
"Stimme für Stimme, Wahllokal für Wahllokal" müsse noch einmal
gezählt werden, fordert er. Bei den bisherigen Auszählungen waren nur
die Ergebnislisten der Wahlbüros verwendet worden, dies habe dem
Betrug Tür und Tor geöffnet. In 55000 der insgesamt über 130000
Wahllokale habe seine Partei Unregelmäßigkeiten ausgemacht. Oft seien
mehr Stimmen abgegeben worden, als Wähler registriert waren, und
manche Urne sei schon vor Öffnung des Wahllokales mit Stimmzetteln
vollgestopft gewesen. Um seine Vorwürfe zu untermauern, hat Amlo
mehrere Videos vorgelegt, die Manipulationen beweisen sollen.
Sollte sich bei einer erneuten Zählung herausstellen, dass "wir dann
immer noch verloren haben, ist die Sache erledigt", erklärte Manuel
Camacho Solis, der für die Koordination der Proteste zuständig ist.
Die dritte Zählung widerspreche dem Wahlgesetz, erwidern Politiker
der Pan. Nur wenn ein konkreter Vorwurf vorliege, dürfe eine Urne
geöffnet werden. Auch die Nationale Wahlbehörde (IFE) sperrt sich
bislang gegen die Öffnung aller Behälter.
Allerdings steht sie von Tag zu Tag mehr in der Kritik. Ein Software-
Programm sei manipuliert worden, behauptet die PRD. In den neunziger
Jahren zur Gewährleistung sauberer Wahlen gegründet, sei die IFE zu
einer "unausgeglichenen Behörde" mutiert, kritisiert die linke
Journalistin Blanche Petrich. Auch internationale Beobachter sind
skeptisch. Nach Meinung der US-amerikanischen Organisation Global
Exchange hat die "IFE die Partei bevorzugt, die an der Regierung
ist". Der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso,
hingegen bescheinigte der Behörde, die Wahlen seien vorbildlich
durchgeführt worden.
Über diese Einschätzung kann Alfonso Celestino nur grinsen. Er ist in
einem Projekt beschäftigt, das im Rahmen eines Uno-Programms für
saubere Wahlen sorgen sollte. "Jede Partei in Mexiko arbeitet mit
Betrug", sagt er. "Der Unterschied besteht darin, dass die Pan als
Regierungspartei wesentlich mehr Geld für solche Manöver ausgeben
kann als etwa die PRD." Tatsächlich gehört Wahlbetrug in Mexiko zur
politischen Tradition: Stimmzettel verschwinden, Dorfbewohner wählen
unter Aufsicht der örtlichen Machthaber, Wahlzettel werden für ein
paar Pesos verkauft. So hielt sich die Partei der Institutionellen
Revolution (Pri) über 70 Jahre an der Regierung, 1988 verhinderte sie
durch einen Betrug den Sieg des späteren Mitbegründers der PRD,
Cuauhtémoc Cárdenas, bei der Präsidentschaftswahl.
Auch deshalb reagieren kritische Gewerkschafter, Bauernvertreter und
Stadtteilaktivisten empfindlich auf die Ungereimtheiten. Selbst von
Subcomandante Marcos, dem Sprecher der Zapatistischen Befreiungsarmee
EZLN, bekommt Amlo Schützenhilfe. Marcos sprach von einem
großangelegten Betrugsmanöver der Regierung des Präsidenten Vicente
Fox. Zwar stellte der Zapatist umgehend klar, dass er die PRD "nicht
zu unseren Freunden zählt". Dennoch sind seine Äußerungen
ungewöhnlich. Schließlich hatte er im Rahmen der von den indigenen
Rebellen initiierten "Anderen Kampagne" betont, man wolle mit dem
Wahlspektakel nichts zu tun haben. Die von den Zapatisten im
Bundesstaat Chiapas kontrollierten Gemeinden boykottierten die
Wahlen. Obrador sei die "linke Hand der Rechten", meinte Marcos.
Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar hat sich Obrador
durch einige Sozialreformen während seiner Amtszeit als Bürgermeister
der Hauptstadt einen guten Namen bei den Armen gemacht. Zugleich hat
er aber eng mit Unternehmern zusammengearbeitet, und selbst der
Regierung nahe stehende US-amerikanische Institutionen sehen in dem
"moderaten Linken" keine Gefahr. Kritiker aus der radikalen Linken
werfen ihm vor, dass er selbst in der Pri groß geworden ist und deren
autoritäres Führungsverhalten übernommen habe. "Viele unserer alten
Feinde aus der Pri wollen uns heute als PRD-Politiker sagen, wo es
lang geht", kritisiert der Mitbegründer der PRD, Marco Rasgón. Er
verweist darauf, dass sich Obrador mit Leuten umgeben hat, die einst
hohe Funktionen in der Staatspartei innehatten, etwa dem
Kampagnenberater Camacho Solis. Er gehörte zu den Politikern der
Pri, die 1988 den Wahlbetrug organisierten.
Kann sich Obrador durchsetzen? Immerhin hat er entsprechende
Erfahrung. Als er im Jahr 1996 um den Gouverneursposten im
Bundesstaat Tabasco kämpfte, trennten ihn nur wenige Stimmen von
seinem Konkurrenten. Mit Unterstützung der Arbeiter des staatlichen
Erdölunternehmens Pemex kämpfte er gegen den "Wahlbetrug", allerdings
ohne Erfolg. Als ihn seine Widersacher im vergangenen Jahr wegen
eines kleinen Verwaltungsvergehens aus dem Bürgermeisteramt der
Hauptstadt vertreiben wollten, gingen über eine Million Menschen für
ihn auf die Straße. Präsident Fox ließ daraufhin das Verfahren
einstellen, und Obrador bereitete seine Anhänger mit einer
fulminanten Ansprache auf neue Ziele vor. "Das war die Rede des
nächsten Präsidenten Mexikos", erinnert sich der Soziologieprofessor
Sergio Zermeño.
Vom Präsidentenamt trennen Obrador bislang noch 236000 Stimmen. Die
könnte er, sollte der Vorwurf des Wahlbetrugs Substanz haben, mit
einer Neuauszählung erhalten. Ob diese tatsächlich stattfindet, wird
das Wahlgericht entscheiden. Bis spätestens 6.September müssen die
Richter ihr Urteil fällen. Für Obrador ist schon jetzt klar: "Ich
werde meinen Sieg verteidigen."
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