Die EinwohnerInnen von San Salvador Atenco zeigen sich ungeschlagen
von Hermann Bellinghausen und Javier Salinas
La Jornada, 12, Juli, 2006
San Salvador Atenco, México, 11. Juli.
Um zu wissen, dass die Wunde von Atenco noch immer offen ist, reicht
es schon herzukommen. Der Protestmarsch, der heute von Chapingo aus
zum Bezirkshauptort führte, wurde von Repräsentanten der Volksfront
für die Verteidigung des Landes einberufen und angeführt, zu Pferde,
mit Traktoren und zu Fuß. Viele hatten beim Marschieren ihre
Gesichter mit Skimasken und Halstüchern verhüllt, und dass nicht um
wie Zapatisten auszusehen - die Macheten in ihren Händen
identifizierten sie zur Genüge - sondern um zu verhindern, von der
mexikanischen staatlichen und bundesstaatlichen Polizei erkannt zu
werden, die den Protestmarsch umringte, ihn mit Videokameras und
Fotografen in Zivilkleidung infiltrierte, und die Menschen von Atenco
daran erinnerte, dass es noch nicht vorbei war, dass die Haftbefehle
gegen sie immer noch in Kraft waren. Dass ihre Compaņeros weiterhin
eingesperrt sind. Dass die Aggressionen und Erniedrigungen, die sie
zwei Monate zuvor erlitten haben, weiterhin unbestraft bleiben. Dass
es keine Anzeichen dafür gibt, dass die Behörden jemals vorhaben
werden, die Verantwortlichen zu bestrafen. Dass der Druck, sie ihres
wertvollen Landes zu entledigen weiterhin anhält. Die Macht gibt sich
noch nicht geschlagen.
Das tun sie auch nicht, obwohl die Regierung weiterhin Furcht und
Unterwerfung anbietet. Unter diesen Voraussetzungen zu marschieren,
erforderte Mut und Entschlossenheit. Viele sind immer noch
gesetzesflüchtig. Der Protestmarsch war intensiv und stark, und von
einem kämpferischen Geist erfüllt, obwohl er über drei Stunden
dauerte, und lediglich 500 Personen teilnahmen (andere schlossen sich
ihnen im Zentralpark von Atenco an). Auf der Strecke Chapingo-Texcoco-
Acuexcoman-Atenco wurden sie von Subcomandante Marcos und Angehörigen
der Anderen Kampagne begleitet. Unterwegs versammelten sich hunderte
Personen um schweigend ihren Durchzug zu beobachten. Heute erfüllten
sich vier Jahre seit der ersten großen Repression, die sie erlitten
haben, in Acolman, nach dem Verrat des damaligen Gouverneur des
Bundesstaates von México, Arturo Montiel.
Am Abend sprach Delegado Zero zu den Menschen von Atenco, die sich im
Zentralpark versammelt hatten. Er überbrachte ihnen "Grüße von den
Männern, Frauen, Kindern und alten Menschen der EZLN", und bestätigte
erneut die Verpflichtung, mit ihnen gemeinsam zu kämpfen " für die
Freiheit und Gerechtigkeit der politischen Gefangenen". Er
informierte sie auch darüber, dass die Andere Kampagne in 32
Bundesstaaten der Republik Mobilisierungen und Solidaritätsakte für
die Freiheit der Gefangenen durchgeführt hatte. Dass in 52 Orten auf
der ganzen Welt ebenfalls Solidaritätsaktionen stattgefunden hatten.
Und er sagte Ihnen: " Es gibt da eine Frage, die wir alle, die unten
kämpfen, uns immer wieder stellen. Die EZLN hat sie sich vor 22
Jahren gestellt. Wir stellten sie uns wieder in den ersten
Januartagen in 1994, als sie uns mit Hubschraubern, Flugzeugen,
Panzern und mit der ganzen Macht der Bundesarmee angegriffen hatten.
Wir stellten sie uns wieder in Februar 1995, als die Regierung uns
verriet und die Soldaten unsere Gemeinden angriffen. Und jedes Mal
wenn wir Probleme haben, stellen wir uns diese Frage, so wie Sie es
selbst vor vier Jahren getan haben, als Sie dafür angegriffen wurden,
weil Sie ihr Land verteidigten, und wie Sie es später wieder taten,
nach der Repression am 3. und 4. Mai [2006]."
Marcos sprach weiter: "Jedes Mal, wenn wir Probleme haben,
Schwierigkeiten, Tote, Verletzte, Verschwundene, Gefangene, antworten
wir darauf - manchmal wenige von uns, manchmal viele - ja, das ist es
wert. Es wird ein Tag kommen, vielleicht früh am Morgen, am
Nachmittag oder am Abend, vielleicht wird es regnen oder heiter sein,
da wird Ignacio del Valle hier auf diesem Podium stehen. Er wird uns
etwas dünner vorkommen, wegen der Tage im Gefängnis, und Sie, die
Leute von Atenco, werden ihn fragen: "Hör mal Nacho, war es das alles
wert, um mit all diesen Menschen solidarisch zu sein, die sich
verlassen fühlten, weil sie wenige waren, und die Autorität
konfrontieren mussten? War das die ganzen Tage im Gefängnis und die
Schläge wert?" Und die anderen Gefangenen werden ebenfalls hier
stehen, aber frei, und Sie werden auch sie fragen, ob die Schläge,
die Aggressionen, die Vergewaltigungen es wert gewesen sind. Und sie
und Nacho werden dann sicher Witze reißen wie immer, aber sie werden
Ihnen die Wahrheit sagen: "Ja, das war es wert."
Nachdem er den Bemühungen der Frauen und Jugendlichen Ehre erwies,
die die Verantwortung auf sich genommen hatten, die Gefangenen nicht
alleine zu lassen "trotz des großen Druckes, mit dem sie zu kämpfen
haben", versicherte Delegado Zero, dass es "jetzt, da sich die
dunklen Wolken der Wahlen bereits wieder zu lichten beginnen",
gerichtliche Möglichkeiten gab. "Die Festnahmen und alles was getan
wurde, war nicht nur illegitim, sondern auch illegal. Wir müssen
jetzt die politischen Mobilisierungen weiterhin aufrechterhalten, um
die Regierungen unter Druck zu setzen, damit Gerechtigkeit
widerfährt."
Und dies, wie der Dichter Juan Gelman schreibt, wird es dann wert
gewesen sein.
URL: http://www.jornada.unam.mx/2006/07/12/024n1pol.php
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(Übs. von Dana)
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