(eine Einschätzung aus der taz)
IN MEXIKO MUSS NEU AUSGEZÄHLT WERDEN, SONST ESKALIERT DER KONFLIKT
Auch Populisten haben Rechte
Nach seiner Niederlage bei den mexikanischen Präsidentschaftswahlen
macht Andrés Manuel López Obrador das, was er am besten kann: Er
mobilisiert seine Anhänger zu Protestaktionen. So will der Politiker
der gemäßigt linken PRD eine dritte Auszählung - diesmal Stimme für
Stimme - durchsetzen. Dass ein Oppositionspolitiker in Mexiko mit dem
Vorwurf des Wahlbetrugs offene Ohren findet, ist nahe liegend:
Schließlich hielt sich die Staatspartei PRI über 70 Jahre lang durch
derartige Betrugsmanöver an der Macht. Auch die aktuellen Meldungen
geben durchaus Anlass zu Zweifeln: Wahlunterlagen werden auf
Müllplätzen gefunden, auf dem Land wählten Menschen unter dem Druck
der örtlichen Machthabenden.
Doch: Bislang konnte López Obrador keine Beweise für einen groß
angelegten Wahlbetrug vorlegen. Viele Ungereimtheiten könnten man
auch seiner Parteien anlasten - denn auch die PRD ist dafür bekannt,
dass sie potenzielle Wähler mit Baumaterial oder Lebensmitteln
beschenkt. PRD-Anhänger bringen daher nun schnell andere Aspekte ins
Spiel, wenn von "Betrug" die Rede ist. Etwa die Tatsache, dass die
beiden großen Fernsehanstalten der gegnerischen kapitalfreundlichen
PAN nahe stehen oder der Konkurrent eine "Schmutzkampagne" geführt
hat. Das ist zu kritisieren, hat aber mit Wahlbetrug nichts zu tun.
Die PAN stärkt so jedoch das Bild eines Kämpfers, der von "denen da
oben" geknebelt wird - obwohl López Obrador ja selbst aus der
traditionellen PRI-Klasse kommt und eng mit Unternehmern
zusammenarbeitet.
Will der PRD-Mann nun durch den Druck der Straße seine
Präsidentschaft durchsetzen? Bislang will er nur erreichen, dass
durch eine dritte Auszählung ein Wahlbetrug ausgeschlossen wird. Das
ist das gute Recht aller, die auf ihn gesetzt haben. Er macht das mit
populistischen Mitteln. Dennoch tun Wahlbehörde und PAN gut daran,
sich seiner Forderung nicht entgegenzustellen. Sollten sie sich
verweigern, würden sie dazu beitragen, dass das knappe Ergebnis als
Wahlbetrug in die Geschichte Mexikos eingeht. Vor allem aber könnten
sie sich für eine unkalkulierbare Eskalation verantwortlich machen -
aus der López Obrador wahrscheinlich gestärkt hervorginge.
WOLF-DIETER VOGEL
taz Nr. 8016 vom 8.7.2006
HINTERGRUND / taz 8.7.2006
López Obrador ruft zu Massenprotest auf
Mexikos Wahlbehörde erklärt den Konservativen Calderón nach einer
selektiven Stimmennachzählung zum Wahlsieger. Sein linker Konkurrent
López Obrador beklagt Unregelmäßigkeiten und fordert eine komplette
Neuauszählung aller Stimmen
AUS MEXIKO-STADT
WOLF-DIETER VOGEL
Der gemäßigt linke Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López
Obrador hat am Donnerstag Widerstand gegen das zuvor von der
Nationalen Wahlbehörde (IFE) verkündete Ergebnis der Wahlen vom
letzten Sonntag angedroht. Die IFE hatte den Konservativen Felipe
Calderón von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) nach einer
zweiten Stimmenauszählung zum Sieger erklärt.
Calderón konnte sich demnach mit einem Vorsprung von 0,58 Prozent der
Stimmen gegen López Obrador von der Partei der Demokratischen
Revolution (PRD) durchsetzen. Der PAN-Mann erhielt 35,89 Prozent,
dessen PRD-Konkurrent 35,31 Prozent. López Obrador erklärte, er werde
die Wahl anfechten: "Um es vorsichtig auszudrücken: Es gibt sehr
viele Unregelmäßigkeiten." Für heute ruft er seine Anhänger zum
Protest in Mexiko-Stadt auf. Bei ähnlichen Anlässen konnte er bis zu
einer Million Menschen mobilisieren.
Die IFE hatte am Mittwoch mit einer Nachzählung begonnen, weil das
erste Ergebnis nur 0,6 Prozent Unterschied zwischen den beiden
führenden Kandidaten betragen hatte. Da Mexikos Wahlrecht keinen
zweiten Wahlgang vorsieht, geht es um jede abgegebene Stimme.
Schließlich trennen die beiden nur 236.000 Stimmen. So wurde die
Nacht zum Donnerstag, in der die zweite Auszählung stattfand, zum
Krimi: Zunächst führte der PRD-Mann mit einen Vorsprung von über zwei
Prozentpunkten. Doch viele Bundesstaaten im wohlhabenderen Norden
wurden erst später bearbeitet, und dort hat die auf Bundesebene
regierende PAN große Zustimmung. Die PRD ist im armen Süden sowie in
Mexiko-Stadt stark.
López Obrador will nun das Wahlgericht anrufen. Denn auch beim
zweiten Durchgang seien wieder nur die Ergebnislisten der rund
130.000 Urnen überprüft worden. Der PRD-Politiker besteht darauf,
dass auch die Urnen geöffnet und "Päckchen für Päckchen, Stimme für
Stimme" nachgezählt werden. "Nur so kann gewährleistet werden, dass
der Sieg von Calderón gerechtfertigt ist", sagte der renommierte
Soziologieprofessor Sergio Zermeno gegenüber der taz. Dies
widerspreche dem Wahlgesetz, erwiderte der Calderón-Wahlhelfer Javier
Lozano. Nur Urnen, bei denen Unklarheiten existierten, dürften
geöffnet werden. Auch die IFE sperrt sich bislang gegen die Öffnung
aller Behälter. Die PRD hatte schon in den letzten Tagen auf
möglichen Wahlbetrug verwiesen. López Obrador sprach von
"Unregelmäßigkeiten" in 50.000 Wahlzentren. Die ihm nahestehende
Tageszeitung La Jornada zeigte Fotos von Wahlunterlagen, die auf
einer Müllhalde gefunden wurden. Die PRD-Politikerin Claudia
Sheinbaum sprach von "einer Art Ameisenraub". Man habe ihrer Partei
an jeder Urne ein paar Stimmen gestohlen.
Die wahlbeobachtende US-Nichtregierungsorganisation Global Exchange
vermutet, dass die "IFE die Partei bevorzugt hat, die an der
Regierung ist". EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner bescheinigte
den Wahlbehörden dagegen "Professionalität, Transparenz und
Unabhängigkeit". Die EU-Kommission hatte 70 Beobachter entsandt.
Reicht López Obrador seine Klage ein, muss das Wahlgericht bis zum 6.
September entscheiden. Am 1. Dezember wird der neue Präsident sein
Amt von seinem Vorgänger Vicent Fox übernehmen. Sollte Calderón die
Nachfolge antreten, wird er die konservativ-klerikale und
wirtschaftsliberale Politik seines Parteifreundes Fox weiter führen.
Gegenüber López Obrador gibt er sich versöhnlich: Er bot seinem
Widersacher einen Posten in seinem künftigen Kabinett an.
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