Poonal Nr. 724 vom 4. Juli 2006
Die "Andere Kampagne" demonstriert
Von Wolf-Dieter Vogel
(Mexiko-Stadt, 2. Juli 2006, poonal).- Rund 6.000 Menschen
demonstrierten am Tag der Präsidentschaftswahlen (2. Juli) in der
mexikanischen Hauptstadt, unter ihnen auch der Sprecher der
Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN (Ejército Zapatista de
Liberación Nacional) Subcomandante Marcos. Aufgerufen hatte die
"Andere Kampagne", mit der sich die EZLN und zahlreiche
Basisorganisationen "von Unten und für die von Unten" vernetzen. Im
Mittelpunkt der Aktion stand die Forderung nach der Freilassung
politischer Gefangener, die Anfang Mai bei Auseinandersetzungen
zwischen der Polizei und Linken in der Gemeinde San Salvador Atenco
nahe Mexiko-Stadt verhaftet worden waren. Noch immer sitzen 30 von
ihnen im Gefängnis.
Zudem sprühten Demonstranten zahlreiche Parolen, die sich gegen die
Wahlen wandten. "Unsere Ideen von Gerechtigkeit und Freiheit passen
nicht in eure Urnen," hieß es auf einem der Transparente.
Subcomandante Marcos, der "Delegierte Null" der Zapatisten für die
Andere Kampagne, hatte am Tag zuvor auf einer Bundesversammlung der
bündnispolitischen Initiative in Mexiko-Stadt klargestellt, dass man
sich nicht offensiv gegen die Wahlen stellen werde: "Wir müssen die,
die wählen wollen, wählen lassen und ihnen zugleich sagen, dass es
eine Alternative gibt".
An der Versammlung, die am Freitag und Samstag (30.6 und 1.7.) in
einem alten Kino stattfand, beteiligten sich etwa 600 Menschen aus
verschiedenen politischen Spektren: Indígenas, Studentinnen und
Studenten, Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften,
Stadtteilorganisationen und Bauernverbänden. Im Vordergrund stand die
Vorbereitung der Demonstration am kommenden Tag sowie die Zukunft der
Anderen Kampagne.
Auf der Abschlusskundgebung der Demonstration auf dem Zócaló, dem
zentralen Platz im Historischen Zentrum von Mexiko-Stadt, sprach
unter anderem eine Vertreterin der Bauernorganisation "Frente de
Pueblos Unidos en Defensa de la Tierra" (FPDT) aus San Salvador
Atenco. "Man kann nicht von Demokratie reden, wenn wir weiterhin
belagert, geschlagen und vergewaltigt werden, während die
Verantwortlichen auf freiem Fuß sind", sagte sie mit Blick auf die
Angriffe gegen die Bewohner der Gemeinde. Auch Vertreter der "Anderen
Kampagne" aus verschiedenen Regionen Mexikos hielten Redebeiträge.
Die Demonstration war erst im letzten Moment endgültig beschlossen
worden. Sie bekam eine besondere Note, da am Tag der Wahlen jegliche
politische Betätigung in der Öffentlichkeit verboten ist. Es kam
jedoch nicht zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften.
Auch in anderen Städten Mexikos initiierten Aktivistinnen und
Aktivisten der Anderen Kampagne am Tag der Präsidentschaftswahlen
Aktionen. Ebenso gab es außerhalb des Landes Solidaritätsaktionen für
die Freilassung der Gefangenen von Atenco. So etwa in Rom und Berlin,
wo rund 200 Menschen vor der mexikanischen Botschaft demonstrierten.
Noch kein Sieger bei mexikanischen Präsidentschaftswahlen ermittelt
Von Gerold Schmidt
(Mexiko-Stadt, 3. Juli 2006, npl).- Die mexikanische Bevölkerung muss
noch mindestens bis zum Mittwoch (5.Juli) warten, bis sie weiß, wen
sie zu ihrem nächsten Präsidenten gewählt hat. Der konservative
Regierungskandidat Felipe Calderón von der Partei der Nationalen
Aktion (PAN) und sein sozialdemokratischer Herausforderer Andrés
Manuel López Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution
(PRD) lieferten sich am Sonntag das vorausgesagte Kopf-an-Kopf-
Rennen. Nach einer Hochrechnung der Bundeswahlbehörde lagen sie so
eng zusammen, dass der oberste Wahlleiter Luis Carlos Ugalde es am
späten Abend ablehnte, die Tendenz oder konkrete Zahlen dieser
Rechnung bekannt zu geben.
Beide Kandidaten betonten in Reden gegenüber ihren Anhängern, die
Entscheidung der Wahlbehörde und deren Endergebnis respektieren zu
wollen. Beide erklärten sich jedoch gleichzeitig zum Sieger. Der
zuvor als leichter Favorit gehandelte López Obrador führte
parteieigene Erhebungen an, die eine "unumkehrbare" Entwicklung zu
seinen Gunsten zeigten. Calderón zählte Umfragen und Hochrechnungen
ihm geneigter Meinungsforschungsinstitute auf. In der offiziellen
vorläufigen Auszählung lag Calderón am frühen Montagmorgen nach der
Auswertung von 75 Prozent aller Wahlurnen mit 37 zu 36 Prozent ganz
knapp vorne.
Die im Jahr 2000 nach 71 Regierungsjahren von der PAN abgelöste
Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) stürzte mit ihrem
Kandidaten Roberto Madrazo regelrecht ab. Madrazo wird
voraussichtlich nicht über die 20-Prozentmarke kommen. Damit erfüllte
sich die Prognose von einer Polarisierung zwischen den
Präsidentschaftsanwärtern von PAN und PRD noch stärker als
angenommen. Im Senat und Abgeordnetenhaus wird sich diese
Polarisierung abgeschwächt widerspiegeln. Die PAN liegt hier
eindeutig vor PRD und PRI, ist jedoch weit von einer absoluten
Mehrheit entfernt. Sowohl Calderón als auch López Obrador würden
damit auf eine Oppositionsmehrheit im mexikanischen Kongress stoßen.
Das Kräfteverhältnis könnte sich dann verschieben, wenn die PRI
endgültig zerbrechen und ihre Mitglieder weiter nach rechts und links
aufteilten sollte.
Nach ersten Wahlanalyen gelang den Hauptkontrahenten nicht,
entscheidend in die Bastionen des Gegners einzubrechen. So behauptete
die PRD problemlos ihre absolute Vormachtstellung in Mexiko-Stadt, wo
sie nicht nur López Obrador ein dickes Stimmenpolster bescherte,
sondern weiterhin den Bürgermeister stellen wird. Die PAN unterstrich
ihre Stärke im Landesnorden unter anderem durch klare Siege bei den
Gouverneurswahlen in den Bundesstaaten Jalisco und Guanajuato. Die
Wahl wird wahrscheinlich durch Details entschieden. So könnten López
Obrador letztendlich die drei Prozent Stimmen für die von ihm im
Wahlkampf ignorierte Präsidentschaftskandidatin Patricia Mercado von
einer neu formierten sozialdemokratischen Kleinstpartei zum
Verhängnis werden. Dagegen stimmten die Anhänger einer überraschend
ins Parlament einziehenden rechten PRI-Abspaltung bei der
Präsidentschaftswahl offenbar fast geschlossen für Calderón anstatt
für den eigenen Kandidaten.
Der größte bisher bekannt gewordene Zwischenfall bei den Wahlen ist
die Ermordung von zwei PRD-Beobachtern im Bundesstaat Guerrero. Die
im Vorfeld von der Opposition geäußerten Befürchtungen über einen
"elekronischen Wahlbetrug" zugunsten des Regierungskandidaten wurden
am Wahlabend nicht wiederholt, ohne deswegen vom Tisch zu sein.
Sollte sich der Wahlsonntag im Nachhinein anders als von Präsident
Vicente Fox und dem Bundeswahlleiter dargestellt doch nicht als
"exemplarisch" erweisen, sind Proteste programmiert.
Etwa 40 Prozent der mehr als 71 Millionen wahlberechtigen Mexikaner
machten sich nicht auf den Weg zur Urne. Zu den Skeptikern gehörten
auch die Sympathisanten der von den aufständischen Zapatisten
initierten "anderen Kampagne", für die das aktuelle politische System
des Landes nur varierte Optionen des neoliberalen Modells anbietet.
Die andere Kampagne hatte auf einer Vollversammlung allerdings
beschlossen, die Wahlen nicht zu behindern. Auf einem kleinen
Protestmarsch durch das Stadtzentrum demonstrierten ihre Mitglieder
einschließlich des Subcomandante Marcos gegen die "Hegemonie der
Parteien in der Politik".
Ex-Präsident Echeverría wegen Völkermord unter Hausarrest
Von Gerold Schmidt
(Mexiko-Stadt, 1. Juli 2006, npl).- Holt die Geschichte Mexikos Ex-
Präsidenten Luis Echeverría (1970-1976) doch noch ein? Seit
vergangenem Freitag ist Echeverría auf richterliche Anordnung unter
Anklage des Völkermordes verhaftet. Ihm wird als damaligem
Innenminister die Hauptverantwortung für das so genannte Massaker von
Tlatelolco am 2. Oktober 1968 in Mexiko-Stadt angelastet. Der
Staatsterror forderte nach konservativen Schätzungen mehrere hundert
Tote unter den gegen das Regime protestierenden Studenten. Nun muss
sich noch entscheiden, ob tatsächlich ein Strafprozess gegen
Echeverría angestrengt wird oder er ein weiteres Mal davon kommt. Von
wirklicher Haft kann bis dahin nicht die Rede sein. Wegen seines
fortgeschrittenen Alters steht der 86-jährige nur unter Hausarrest.
Noch im September 2005 verweigerte ein anderer Richter den von
Sonderstaatsanwalt Ignacio Carillo Prieto geforderten Haftbefehl. Er
bewertete den Fall als verjährt. Und im Parallelverfahren zum so
genannten Fronleichnamsmassaker vom 10. Juni 1971, das in die
Präsidentschaft Echeverrías fiel, hatten es im Juni 2003 und Anfang
2005 zwei Richter abgelehnt, wegen Völkermord zu ermitteln. Richter
José Angel Matta Oliva sah nun beim Massaker von Tlatelolco erstens
den Tatbestand des Völkermordes als gegeben an. Zweitens stützte er
sich auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes. Demnach kann
Echerverría sich anders als sieben weitere angeklagte ehemalige
Staatsfunktionäre und Militärs nicht auf die im mexikanischen Gesetz
festgelegte Verjährungsfrist von 30 Jahren berufen. Die Zeit in und
an der Regierung, in der er Immunität genoss, dürfe nicht mitgezählt
werden.
Sollte es wirklich zum Strafprozess mit möglicher Verurteilung
kommen, wäre dies der erste wirkliche Erfolg für Sonderstaatsanwalt
Carillo in den fünf Jahren seiner Amtszeit. Der noch amtierende
konservative Präsident Vicente Fox hatte die
"Sonderstaatsanwaltschaft für Soziale und Politische Bewegungen der
Vergangenheit" 2001 mit dem Versprechen eingerichtet, die unter den
vorausgegangenen PRI-Regierungen begangenen Verbrechen gegen die
Opposition aufzuklären sowie die Verantwortlichen zu bestrafen. Doch
bisher erlebte Carillo nur Rückschlage. Vielen Kritikern galt die
Sonderstaatsanwaltschaft als Fassade, die das Menschenrechtsimage der
Regierung aufpolieren sollte.
Der Haftbefehl gegen Echeverría wird unterschiedlich bewertet. Nicht
nur die PRI verwies auf ein mögliches Wahlkampfmanöver. Der
richterliche Beschluss zwei Tage vor den Präsidentschafts- und
Parlamentswahlen überraschte ebenfalls Menschenrechtsorganisationen
sowie Familienangehörige von Opfern und Überlebende des Massakers.
Für die bekannte Menschenrechtsaktivistin Rosario Ibarra de Piedra,
deren Sohn während Echeverrías Amtszeit "verschwand", lenkt der
Haftbefehl nur ab. Edgar Cortez, Koordinator eines landesweiten
Menschenrechtsnetzwerkes sprach vom "wahrscheinlichen Zusammenhang
mit den Wahlen". Betroffene des Massakers äußerten die Befürchtung,
die Hoffnung auf Gerechtigkeit könnten ein weiteres Mal betrogen
werden. Geht es nach Echeverrías Anwalt, werden sie damit Recht
behalten. Der Sonderstaatsanwalt werde "den Ex-Präsidenten niemals im
Gefängnis sehen", versicherte er.
QUELLE: www.npla.de/poonal
|