Interview mit Subcomandante Marcos, Teil III
"Die herrschende Klasse und das System haben keine Lösung"
Hermann Bellinghausen,
La Jornada, 11. Mai 2006
Im letzten Teil dieses Interviews, analysiert Subcomandante Marcos die Linke
aus der Sicht der Anderen Kampagne, und versichert, dass die herrschende
Klasse und das politische System "keine Lösung haben." Er blickt zurück auf
die Umstände innerhalb derer sich der Vorschlag dieser alternativen Bewegung
zum ersten Mal entwickelte, und schätzt die gegenwärtige Lage der indigenen
Bewegung ein. Zuletzt spricht über die Mobilisierungen für Migrantenrechte
in den Vereinigten Staaten und den Linksruck in Südamerika, ganz besonders
in Bolivien.
Bellinghausen: Was passierte nach der neuen Phase des zivilen Zapatismus in
Chiapas?
Marcos: Die politisch-militärische Struktur trat in eine Schweigeperiode,
was nicht bedeutet, dass wir eine militärische Offensive vorbereiteten,
sondern etwas völlig anderes, das weder Verhandlung noch Aufstand war. Wir
führten eine theoretische und praktische Analyse durch. Der theoretische
Teil bezog sich darauf, dass im derzeitigen Kontext des Neoliberalismus,
Nationalstaaten zerstört werden. Während sie Grenzen einreißen, damit Waren
passieren könne, errichten sie neue Grenzen, um die Menschen davon
abzuhalten. Das ist das Paradox, auf der ganzen Welt, dass das Kapital
gleichzeitig überall ist. Tipp ein paar Tasten, und dein Geld ist da wo du
es haben willst; ein paar Handbewegungen, und ein leeres Warenhaus wird zur
Maquiladora, verschwindet dann und taucht wieder in irgendeine andere Ecke
der Welt auf.
Aber nicht die Menschen. Sie bleiben völlig abgeschottet, und auf eine viel
grausamere Art als vorher. Wenn ein Nationalstaat zerstört wird, wird die
herrschende Klasse, die dies ermöglicht hat, ebenfalls vernichtet. In diesem
Vernichtungsprozess fing Carlos Salinas de Gortari an zu töten und zu
korrumpieren. Ich erwähne das, weil sich niemand da oben an die vielen
Menschen zu erinnern scheint, die in der PRD gestorben sind, die, wie wir
sagten, weniger der PRD angehörten, als dem echten sozialen Kampf um eine
bessere Lebensqualität. Wer seine eigenen Tote vergisst, ist selber tot.
Also sagten wir, na gut, die herrschende Klasse hat keine Lösung. Die
Compaņeros vom Nationalen Indigenen Kongress haben die neuen Gesetze
denunziert, die vom Kongress bewilligt wurden. Sie wurden einstimmig
bewilligt, da oben gibt es keine Rechte oder Linke. Und diese Gesetze
erteilen den transnationalen Konzerne die gesetzliche Vorlage, um herzukommen
und von den Indigenas Land zu stehlen und sich da einzunisten, wo sie nichts
zu suchen haben, weil sie die Umwelt zerstören. Das haben wir nicht aus
Büchern gelernt. Die Leute selbst haben uns davon erzählt. Wenn sie jetzt
von der Gewalt an einigen Orten erschreckt sind, das was hinterher kommen
wird ist noch viel schlimmer. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn
im gesamten "Elendsgürtel" rund um Mexiko-Stadt die Menschen die Nase voll
hätten und wie in den Filmen auf die Stadt niedersteigen, um in Straßen und
Häuser einzudringen. Aber wie es sich herausstellt, wird es nicht so sein,
der Wachstum des Kapitals in der Stadt wird auch diese marginalisierten
Gegenden verdrängen und sie immer weiter weg drücken.
Bellinghausen: Es heißt, die Andere Kampagne würde die Schiffbrüchigen
auflesen, die "Neandertaler-Linke" und dass die "zivilisierte und
demokratische" Linke mit der Anderen Kampagne nichts am Hut hätte. Ist es
nicht exklusiv zu sagen, dass die Andere Kampagne die einzige landesweite
linke Bewegung ist?
Marcos: Die Linke ist sehr grundsätzlich definiert. Eine Definition bezieht
sich auf das wirtschaftliche System. Dann gibt es die kulturelle Linke,
gegen Chauvinismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie. Die politische Linke
muss im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen System definiert werden, und
sie muss anti-kapitalistisch sein. Sie muss sich grundsätzlich durch die
Responsabilisierung eines Systems definieren, nicht einer Administration.
Die Andere Kampagne betrachtet sich als Teil der anti-kapitalistischen
Linke, weiter geht sie nicht. Deshalb spricht die Andere Kampagne auch von
Rebellion, nicht von einer Revolution.
Sie ist eine Schule, nicht nur für die Menschen selbst, sondern auch für die
linke Politik. Die Linke, die aus der Anderen Kampagne hervorgehen wird,
wird viele überraschen, ganz besonders jene, die sagen, es seien nur "die
gleichen Leute wie früher". Es sind vielleicht die "gleichen Leute wie
früher," aber ihr gemeinsames Charaktermerkmal ist, dass sie sich nicht
verkauft oder aufgegeben haben. Sicher, sie sind nicht vollkommen, aber es
sind ehrliche Menschen. Und diese Ehrlichkeit hat es ihnen ermöglicht, sich
nicht zu verkaufen oder aufzugeben, und jetzt hilft sie ihnen dabei, von
anderen zu lernen."
Bellinghausen: Welche Rolle spielt darin die Indigene Bewegung. In welcher
Lage befindet sie sich?
Marcos: Mit der Indigenen Bewegung sind wir da einer Meinung, ganz besonders
mit dem (Nationalen Indigenen Kongress) CNI in der zentral-pazifischen
Region. Auch ohne die Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald zu
kennen, kamen sie zu den selben Schlüssen. Der aktive Kern des CNI konnte
sehen, dass die "herrschende Klasse keine Lösung hat, und dass wir hier ein
Problem mit dem wirtschaftlichen System und dem Parteiensystem haben". Also
sagten sie uns, "Wir stimmen zu, dass wir im Grunde über die gleiche Sache,
auf unsere eigene Art reden."
Jetzt geht es uns darum zu versuchen, mit ihnen gemeinsam den CNI
wieder aufzubauen. Wir machen uns Sorgen darüber, dass die Andere Kampagne,
wenn sie da ankommt wo sie soll, die Indigenas wieder vergessen könnte, dass
es wieder nur um Wohnungen und Arbeiter und Campesinos geht und für den
Staat ... die Indigenas wieder nicht existieren. Sie sind vielleicht
Arbeiter und Campesinos und arm, aber sie haben nicht die gleiche Identität.
Deshalb haben wir darauf bestanden, dass es innerhalb der Anderen Kampagne,
den indigenen Sektor oder den Raum der indigenen Völker geben muss, und
zuerst ein Bildungsprozess betreiben muss, um Verständnis für sich zu
schaffen. Wir dachten, das würde viel Arbeit erfordern, aber es geschieht
bereits. Die indigene Bewegung wird in dieser Schule zum wichtigsten Lehrer
werden. Die klarsten und tiefsten Lehren sind bisher immer von den
indigenen Völker gekommen.
Bellinghausen: Wird es mit dieser großen Fragmentierung, diesen vielen
Unterschieden und verschiedenen Haltungen der Anderen Kampagne möglich sein,
all diese Positionen zu vereinen?
Marcos: Wir sind gerade dabei uns gegenseitig kennenzulernen. Wenn sie einem
von uns schaden, schaden sie uns allen. Ohne die Andere Kampagne würde die
Geschichte von Atenco anders aussehen. Sie wäre auf die Organisationen
beschränkt, die dorthin bereits Verbindungen hatten, aber jetzt ist es eine
nationale und internationale Kampagne. Es platziert sie in eine Bewegung,
weil die Parole lautet: schade einem von uns und sie schaden uns allen. Wir
müssen aufeinander aufpassen. Das ist der Unterschied.
Entwicklung und Fortschritt haben ein Oben und ein Unten. Und was wir
gesehen haben, ist dass die Entwicklung und der Fortschritt von Oben, in
Wirklichkeit Unterentwicklung und Rückschritt für Unten bedeutet. So wie die
Reform von Artikel 27, mit ihren Propheten, die jetzt am Verschwinden sind,
die schworen, sie würden die mexikanische Landwirtschaft retten, weil die
Privatisierung des Landes den Fortschritt fordern würde. Dabei wollten die
Campesinos nur ein eigenes Stück Land haben. Von hier geht die ganze
Zerstörung des ländlichen Mexikos aus. Von der Entwicklung der
Agrarindustrie, von den Großgrundbesitzern, von den Enteignungen. Diese
Entwicklung und dieser Fortschritt hat mehr Menschen gezwungen, Arbeit
jenseits der Grenze zu suchen, den Drogenhandel und Anbau beflügelt, und die
Vernichtung ganzer Gemeinden vorangetrieben.
Wir sind alle in die Ecke getrieben, zum Schweigen gebracht, vergessen. Sie
sehen uns nicht. Sie nehmen uns nicht wahr. Wir sind in der Defensive. Wir
befinden uns hier und sehen, dass wir stärker sind als gedacht. Es spielt
keine Rolle, ob wir in den Geschichtsbüchern auftauchen; was uns
interessiert, ist unser Platz als Indigenas, und ich spreche nicht nur von
den Zapatisten. Bei den Diskussionen Tuxpan (Jalisco), und dann in der Nahua
Region von Manantlan, konnten wir sehen, wie das System die Umwelt
vernichtet. Es war grauenhaft. Und wir konnten die gleiche Überzeugung
hören, dass wir etwas tun müssten. Die gleiche Überzeugung, die wir von
unseren Compaņeros Huichol gehört haben. Dieses Gefühl lässt sich nicht
anhand von Hochrechnungen ermessen, oder anhand der Sympathie oder deren
Mangel, von jemanden, der von der anderen Seite zusieht. Wir denken, die
Richtige Wahl damit getroffen zu haben, nach unten zu blicken, und dass ja,
vielleicht sagen sie, es sei nicht der richtige oder günstigste Moment dafür
gewesen. Aber die Lage war wirklich verzweifelt.
Es gibt zwei Optionen. Wir bevorzugen die zivile und friedliche Option. Sie
bezieht stärker ein, sie ist reicher, bringt weniger Zerstörung, weniger
Tote, und das trotz der ganzen Probleme und Repression, weil wir nicht
sagen, dass es ein Zuckerschlecken sein wird. Aber es wird leichter sein als
mit einem Krieg, und wenn wir die Andere Kampagne nicht aufbauen, könnte es
stattdessen durchaus zum Bürgerkrieg kommen. Die Andere Kampagne ist die
einzige Alternative für das Überleben dieses Landes. Wie das geschehen wird
und mit welchem System und all das, das ist etwas, das wir alle gemeinsam
aufbauen müssen.
Der Augenblick wird kommen, wenn diese Bewegung ihre Stärke einschätzen
wird. Der Augenblick, in dem eine Bewegung einschätzt, was sie tun kann und
wann, das Datum, die Stunde und den Ort entscheidet, um die Regierung zu
kippen und die Reichen hinauszuschmeißen. Wenn die Menschen anfangen einem
zu sagen, "bis zum Tod, wenn es sein muss" , oder vielleicht sagen sie es
nicht laut, aber man kann sehen, dass es so weit gekommen ist; wenn man
sagt, diese Menschen haben keine andere Option mehr, dann wird es passieren.
Der Fehler ist, das nicht sichtbar zu machen. Die Andere Kampagne ist gegen
diese zwei Optionen: völlige Zerstörung oder Zusammenbruch durch
Fragmentierung und Uneinigkeit.
Bellinghausen: So, als ob sich das Land den Rücken gebrochen hätte?
Marcos: Wie der Balkan, Libanon. Länder, die ihre Identität verlieren, wo
man von ein Bandengebiet in ein anderes gerät, wenn man die Straße
überquert. Genauso wird Beirut beschrieben: so viele Gruppen, ohne Richtung,
ohne irgendwas. Wie die ganze herrschende Klasse, die PAN, die PRI und die
PRD, und all die kleinen Politiker, sie haben ihre Legitimität und Fähigkeit
zum Dialog bereits verloren. Es ist nicht die Frage, mit wem sie ein Dialog
führen, sondern, dass sie überhaupt nichts haben, worüber man ein Dialog
führen könnte. Im Fall Atenco, können sie lediglich die Gefangenen frei
lassen und das Warnlicht, das 'Foco Rojo' (rote Feuer) deaktivieren, wie
sie es nennen, und die Andere Kampagne weiterziehen lassen. Wenn nicht,
werden sie die Krise nur verschärfen. Sie denken, dass sie von selbst
abflauen wird, aber das wird nicht passieren. Sie ist gewachsen, und alle
wissen es.
Bellinghausen: Weshalb sind viele Intellektuelle, die früher sympathisiert
haben, jetzt auf Distanz gegangen? Sind sie weniger interessiert oder
wirklich verärgert?
Marcos: Weil wir einen anderen Weg gewählt haben. Das haben wir uns ganz am
Anfang überlegt. Wenn die Sympathie einer Gruppe von Intellektuellen, Teil
der Deckung war, die uns vor einem militärischen Angriff schützte, dann
würden diese Intellektuellen, oder ein großer Teil von ihnen, in dem
Augenblick wenn sie mit den Oberen sympathisieren, und wir gleichzeitig die
Oberen ablehnen, ihre Verbindungen zu uns abbrechen. Wir wussten, dass dies
passieren würde. Aber wir werden nicht vergessen, was sie für uns getan
haben. Wir sind ihnen dankbar, auch wenn sie jetzt auf uns scheißen, weil
wir uns erinnern.
Bellinghausen: Was verbindet die Migrantenbewegung in den Vereinigten
Staaten mit der Anderen Kampagne?
Marcos: Wir erreichen die Migranten auf zwei Ebenen. Erstens, und am
stärksten, von unten, das heißt, über die Familien. Überall wo die Andere
Kampagne hinkommt, erzählen sie uns, dass es dort praktisch keine Familie
gibt, die nicht jemanden verloren hätten, entweder weil sie gestorben sind,
oder weil sie über die Grenze gegangen und nicht wieder zurückgekommen sind,
und sie haben das Bedürfnis nicht nur ihre Familien, sondern auch ihre
Gemeinden wiederaufzubauen. Sie erzählten uns, wie ihre Eltern, Männer und
Frauen, Jugendliche auswandern mussten, weil unser Land ihnen keine würdige
Arbeit geben kann. Und sie erzählen von den Opfern, die sie bringen müssen,
um Geld hinüberzuschicken, ohne zu wissen, ob es überhaupt ankommt. Auf
dieser Ebene, herrscht unten eine Lage der wirtschaftlichen Verzweiflung.
So weit zu "von unten". Aber wir haben uns auch das "oben" angesehen, als
die Compaņeros dort drüben uns erzählten, das ist das Problem und das hat
uns dazu gebraucht, von hier aus unsere Stimme abzugeben, weit weg von
unseren Familien. Und hier gibt es auch keine politische Option. Wir müssen
uns an etwas anderem beteiligen, dass uns anerkennt, denn der
Migrantensektor in den Vereinigten Staaten ist wie ein Jagdrevier, besonders
jetzt, da man auch das Recht hat auch aus dem Ausland zu wählen. Und diese
Gruppen haben es geschafft, mit dieser Stärke und Rebellion, etwas innerhalb
des Imperiums zu errichten, und sie werden sich nicht so leicht von
irgendwelchen Politikern zuhause einfangen lassen, egal wie links er zu sein
behauptet. Im Augenblick, da sie sehen, dass die Andere Kampagne ein Raum
ist, in dem sie sich ihre Autonomie, ihre Unabhängigkeit und Identität
bewahren können, nun, dann schließen sie sich uns an.
Wir können sehen, dass die Auswanderung weiter zunehmen wird. Mit dem
Zynismus von Fox, der sagt, die nationale Wirtschaft blühe, weil die
Migranten regelmäßig Geld nach Hause schicken. Aber die Vereinigten Staaten
werden die Grenze auf viele verschiedenen Weisen schließen. Sie werden Leute
deportieren und die stille Einwilligung der mexikanischen Regierung
erhalten, die Grenze dichtzumachen.
Das wird dann alles hier zum Dampfkessel. Wohin sollen die ganzen Menschen
gehen, ohne Arbeit, ohne Land, ohne alles? Es entsteht ein sehr starker
sozialer Druck, für den weder der Arbeitsmarkt, noch die Sozialpolitik, noch
irgendwas eine Lösung bietet, weil sie nichts zu produzieren oder zu
verkaufen haben. Die Leute erzählen uns manchmal, dass sie tonnenweise Mais
haben, aber ihn nicht ernten können, weil die Preise so niedrig sind. Es
wäre für sie teurer es abzuernten, als es stehen zu lassen, weil es sich
nicht verkauft, weil es keine guten Preise gibt.
Wozu will man Mais anbauen oder irgendwas anderes, wenn es einem nichts
bringt? Also wir alles vernichtet, und stattdessen importieren wir
Nahrungsmittel. Wie in einem Krieg, in dem die Armee alles zerstört und die
Ernte verloren geht, und die Menschen flüchten müssen. Und die Vertriebenen,
von denen es in diesem Fall Millionen gibt, sind es, die die Wirtschaft
aufrechterhalten, aber das geht nicht lange. In diesem Sinn, befasst sich
die Andere Kampagne auf beiden Seiten der Grenze, mit dem was unten
passiert, also da wo wir sein sollten, unter den Auswanderern und ihren
Familien.
Das ist das Andere Mexiko, das wir vereinen werden. Diese ganze
Mobilisierung findet außerhalb der politischen Parteien statt, weil es für
sie weder die Demokraten noch die Republikaner gibt. Es gibt für sie keine
Parteien, das ist ebenfalls Teil der Krise der politischen Klasse überall
auf der Welt. Und damit diese Bewegungen dort überleben können, so wie sie
sind, mit ihrer eigenen Latino-Identität, und nicht nur als Mexikaner,
kommen sie ebenfalls an einem Punkt, an dem sie sagen, wir müssen irgendwas
tun. Und keiner der Organisatoren, keiner derer, die zu dieser Bewegung
aufgerufen haben, hat mit soviel Beteiligung gerechnet. Es geschehen Sachen,
die nicht in den Handbüchern der politischen Kolumnisten stehen, die nichts
mit dem Gleichgewicht der Kräfte zu tun haben. Das heißt, niemand passte auf,
was unten geschieht, niemand hat bemerkt, dass da unten ein
organisatorischer Prozess vor sich geht, der nicht davon abhängt was oben
mit den politischen Parteien oder der herrschenden Klasse passiert.
In dem Augenblick, in dem sie beginnen Aktionen auf vereinigter Front
vorzuschlagen, werden sie sagen, das ist wie das, was am 1. Januar 1994
passiert ist, aber auf ziviler, friedlichen Weise. Aber in beiden Fällen,
fließt das mexikanische Blut mit viel Würde.
Bellinghausen: Wir die Andere Kampagne gut empfangen werden, wenn sie sich
der Grenze nähert?
Marcos: Es gibt bereits Aktionen von Compaņeros der Anderen Kampagne von der
Anderen Seite. Wir haben gesagt, dass wir ein anderes Land aufbauen müssen,
damit unsere Leute nicht weggehen müssen, und jene, die bereits weg sind,
die Option haben zurückzukommen. Was sie dort drüben aufgebaut haben, ist
ein Teil von uns, als ob wir ein Teil von Mexiko nördlich vom Rio Grande
exportiert hätten. In unsere eigenen Geschichte ist es Teil unseres
Schmerzes, aber auch Teil der gleichen organisatorischen Erfahrung. Sie
kommen zusammen als Zapoteken, Mixteken, Chiapaneken, weil es viele
Bundesstaaten gibt, die Indigenas exportieren. Wir wollen ein anderes
Mexiko, in dem alle Ursachen, die Menschen zwingen auszuwandern
berücksichtigt werden; wo wir sagen können, dass es hier Platz gibt, dass
die Menschen zurückkommen können, dass sie nicht weggehen müssen.
Bellinghausen: Welchem Szenario steht die Andere Kampagne heute in
Lateinamerika gegenüber?
Marcos: Im Fall von Bolivien, wurde das so dargestellt, als ob wir die
Bewegung verachtet und abgewiesen hätten, weil wir nicht zur Amtseinführung
von Evo Morales erschienen sind. Wir sagten, dass im Gegensatz zu Mexiko und
anderer Orte, es hier einer Volksbewegung tatsächlich gelungen ist, die
Struktur aufzubrechen und sie mit ihrer eigenen zu ersetzen. Daher stellt
sie das vor einer Menge Probleme, darüber welche Art von Beziehung zwischen
der Regierung und der Bewegung existieren sollte und all das. Was sie dort
tun sollten, ist nach unten zu blicken, zur Bewegung, die das alles möglich
gemacht hat, und ihre Entscheidungen respektieren. Nicht die Entscheidungen
auf Regierungsebene, auf institutioneller Ebene, sondern die Entscheidungen,
die unten gemacht werden.
Bellinghausen: Was für ein Problem gibt es mit der Regierung in Bolivien?
Marcos: Sie blickt nach oben. Evo ist an der Macht, er ist Präsident, aber
in diesem Sinn sollte die Regierung nach unten blicken.
Bellinghausen: Du siehst sie also nicht als eine Volksgewalt?
Marcos: Noch nicht. Sie könnte dazu werden. Wir hören noch darauf, was die
Bewegung von unten sagt, die Indigene Volksbewegung, die das alles geleitet
hat. Wir haben ihnen ganz klar gesagt: wir blicken nach oben, wenn die
Menschen von unten uns sagen nach oben zu blicken. Wir fühlen uns der
Bolivianischen Indigenen Bewegung sehr stark verbunden, aber sie achten
selber noch darauf, wie sich alles entwickelt, und es wäre ein Fehler von uns
gewesen, nicht nur seitens der Anderen Kampagne in Mexiko, sondern auf
kontinentaler Ebene, nach oben zu blicken und nicht nach unten.
So wie die Zapatisten der kubanischen Bevölkerung Mais geschickt hat, nicht der
Kubanischen Regierung. Ob die Regierung miteinbezogen wird, haben nur sie zu
entscheiden, nicht wir. Und besonders in diesem Fall, ist eine klare linke
Botschaft, weil es heutzutage in der demokratischen oder progressiven Linken,
oder wie man sie sonst nennt, sehr angesagt ist, Kuba zu kritisieren, die
Blockade zu vergessen und zwischen Castro und Kuba zu unterscheiden. Eine
wirklich linke Position wäre es zu sagen, hier findet ein Machtmissbrauch
gegen ein Volk statt und das wichtigste ist Solidarität. Das Volk kann
seine eigenen Entscheidungen treffen. Die kubanische Bevölkerung hat Batista
gestürzt - keiner hat ihnen zu sagen, was ein Diktator ist.
Bellinghausen: Glaubst Du, dass mit den jüngsten Regierungswechseln in
Lateinamerika ein wirklicher Wandel stattfindet?
Marcos: Noch nicht. Es gibt zwei Beispiele. Da gibt es Lula in Brasil, den
wir als die nordamerikanische Machtoption in Lateinamerika und der
restlichen Welt ansehen, die sowohl die administrativen Staaten für die
Rechte wiederherstellt, als auch mit der Linken redet. Das andere Beispiel
ist Bolivien, mit der Implikation einer aufständischen Bewegung, die Evo
Morales an die Macht brachte.
Bellinghausen: Argentinien? Uruguay?
Marcos: Da ist es sogar noch schwächer. Was passiert ist, dass überall
Staaten zusammenbrechen, und dann gibt es nur zwei Optionen: die Rechte und
die Linke. Aber so lange sie nur Verwalter sind, unterscheiden sie sich nur
in der Rhetorik voneinander, und manchmal nicht einmal darin, wie es in
Chile, Uruguay und in Mexiko der Fall ist. Der interessanteste Fall ist
Bolivien, für was es bedeuten könnte. Und dann gibt es die ständige
Reibereien zwischen Lula und der (Movimiento de los Sin Tierra) MST, wegen
der ganzen Forderungen, die Lula nicht erfüllt hat, während er ein
neoliberales Modell durchsetzt.
Bellinghausen: Hat die MST die Andere Kampagne angesprochen?
Marcos: Ja, und sie sind an dem Vorschlag eines neuen Wegs interessiert,
eine Linke, die nicht nur in der Rhetorik besteht, sondern die sich gegen
den Kapitalismus stellt. Aber Bolivien ist der Fall, dem wir die größte
Aufmerksamkeit zuwenden, und wo wir nach unten blicken möchten. Wir wollen
niemanden sagen, was sie tun sollen; wir möchten, dass sie es uns sagen,
aber das muss von unten kommen. Wir möchten nicht hören, was Evo Morales über
Bolivien zu sagen hat, sondern was die aufständischen Indigenas zu sagen
haben, die Menschen, die in Brasilien, Argentinien, überall kämpfen . . .
was die Menschen von unten zu sagen haben. Und genauso ist es mit Venezuela,
es muss von unten kommen.
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(übs. von Dana)
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