Interview mit Subcomandante Marcos
Teil 2 - Eine Regierungsform kann durch friedliche Mittel geändert werden.
Hermann Bellinghausen, La Jornada,
10. Mai 2006
Die Gewalt in San Salvador Atenco und anderen Teilen des Landes, wie in San
Blas Atempa, Oaxaca, wurde durch das politische System verursacht, und ist
weit davon entfernt ein Triumph der Regierung zu repräsentieren, trotz der
Repression, der Verhaftung und Ermordung ihrer Gegner. Das, was die
Regierung stattdessen erreicht hat, so Subcomandante Marcos, ist die
nationale Destabilisierung in der Wahlzeit.
Wenn das so weitergeht, wird die Regierung "einen solchen Anstieg der
sozialen Spannungen und der Proteste provozieren, dass die Wahlen in Juli,
aufgrund der sozialen Unruhe, nur unter Aufsicht der Armee und Polizei
stattfinden werden können. Was für ein Bild von Demokratie werden
militärisch überwachte Wahlen der übrigen Welt vermitteln, und wer wird
schon wählen gehen, wenn die Wahlkästen von der Armee bewacht werden und es
überall im Land und auf der ganzen Welt Proteste gibt?
Das Ziel der Anderen Kampagne, so Marcos, ist es die Kämpfe und Widerstände
zu vereinen, um die Regierung auf friedlichem Weg zu stürzen, so wie es auch
in anderen Teilen der Welt geschehen ist. In einem Interview mit der La
Jornada, bestätigte Delegado Zero, dass es die Zukunft der Anderen Kampagne
ist und "immer war zu gewinnen".
HB: Marcos sagt jetzt: "Wir werden die Regierung mit friedlichen und zivilen
Mitteln stürzen; die Reichen werden verschwinden, und die Politiker im
Gefängnis landen". Wovon ist hier die Rede?
M: Von einer politischen Mobilisierung und Artikel 39 der Verfassung, der
besagt, dass das Volk zu jeder Zeit das Recht hat seine Regierung zu
wechseln. Die politische Klasse in der Regierung zerstört alles. Sie muss
abgesetzt werden, aber dabei darf es nicht bleiben, wir müssen gleichzeitig
auch das System verändern.
HB: Aber wie kann man eine politische Klasse absetzen, die die ganze Macht,
das Geld und die öffentliche Gewalt hat?
M: Durch zivile und friedliche Mobilisierung. Das Problem ist, dass wir,
oder zumindest Sie alle, von der Frage vereinnahmt sind, wie dies ohne
Gewalt zu bewerkstelligen wäre. Das klassische Bild ist eine bewaffnete
Armee oder ein Sturm auf den Winterpalast (und dann hat man die Revolution).
Und die Andere Kampagne sagt nein, wir werden vereint entdecken, wie stark
wir sind, und was wir alles schaffen können, aber immer dem zivilen und
friedlichen Weg verpflichtet, mit vielen guten Ideen und Vorschläge, die von
unten kommen. Es geht hier nicht um einen bewaffneten Aufstand oder ein
Zentralkommando. Vielerorts wo der bewaffnete Kampf vorgeschlagen wurde, war
es die EZLN, die nein sagte, weil das eine Option ist, die viele Menschen
ausschließt; sie steht nur denen offen, die sich daran beteiligen können,
und die Mittel dazu haben, und die Mehrheit ist davon ausgeschlossen, oder
noch schlimmer, in die Mitte gefangen. Wir müssen etwas aufbauen, das alle
einbezieht.
HB: Ein Wechsel, ohne dass die Menschen noch mehr zu leiden hätten? Die von
Oben haben Waffen, und sie werden sie nicht freiwillig loslassen.
M: Ja, aber es gibt überall Menschen mit viele Ressourcen. Es geht nicht
darum eine Armee gegen eine andere aufzustellen. Wenn man mit der Logik
anfängt, wie viele Waffen die haben, dann heißt das bereits "wir brauchen
genauso viele oder noch mehr."
HB: Nicht jeder hat Waffen oder ist bereit Gebrauch von ihnen machen, und
die einen, die sie haben, sind bereit sie einzusetzen.
M: Und die, die es nicht sind, sind die gearschten. Deshalb brauchen wir
eine nicht-militärische Option, die nicht ausschließt, in der alle Raum für
ihre Form zu kämpfen haben. Ein Kampf, der so organisiert ist, kann nur
durch eine Atombombe besiegt werden. Keine Armee oder Polizei kann oder will
sich mit so etwas anlegen. Die Regierung muss sich ändern, und wenn das
nicht von Oben kommt, dann muss sie fallen, so wie viele Regierungen an
viele Orte gefallen sind: durch Mobilisierungen.
HB: Ist es möglich, die bestehenden Macht auf friedlichem Weg zum Fall zu
bringen?
M: Die gegenwärtige politische Klasse, ja. Ihre staatlichen Fundamente sind
bereits zerrüttelt.
HB: Welche Bedeutung haben dann die Wahlen und die nächste Regierung?
M: Das ist nur ein Wechsel im Management, während die da oben in den
Vereinigten Staaten sagen "wir haben kein Problem damit, wer regiert, ob es
die Rechten oder die Linken sind, wir werden das arrangieren, damit sich die
Wirtschaft in der Grundform nicht ändert".
Egal wer der Manager ist, die Firma bleibt die gleiche: Mexiko GmbH. Welchen
Unterschied macht es, ob es Madrazo ist (gegen Madrazo könnten sie sogar ein
paar Vorbehalte haben, weil der weiterhin klauen wird). Was Calderon angeht,
kann man davon ausgehen, dass er die soziale Rebellion verschlimmern wird;
wenn Calderón an die Macht kommt, wird er eine Rückkehr zur militärischen
Niederschlagung von sozialen Konflikte provozieren. Wenn man ein Volk
unterdrückt oder ihm Angst einjagt, fangen sie an nach andere Optionen zu
suchen, und das ist der Augenblick wenn politisch-militärische
Organisationen - Guerilla-Gruppen - sagen, jetzt sind wir an der Reihe.
HB: Und was passiert wenn López Obrador gewinnt?
M: Wenn es keine andere Option gibt, wird er den Nationalstaat mit einem
neuen Management für die gleiche Krise neu errichten.
HB: Deshalb wollen viele, dass López Obrador gewinnt. Jedenfalls sind sie
dazu bereit, aber die Andere Kampagne glaubt nicht, dass das der richtige
Weg ist.
M: Es ist nicht möglich, es ist ein Märchen. Es ist nicht durchführbar,
weder das, was Madrazo vorschlägt, noch Calderón, noch López Obrador, trotz
dieser Idee, dass er mehr Unterstützung hätte, weil nicht wie die anderen
zwei sei. Er besitzt Prestige bei den Grasswurzelorganisationen, er besitzt
die moralische Autorität der Ehrlichkeit, aber das hat er sich durch die
Mannschaft, die er gebildet hat, zerstört, und alle anderen
Verschleierungen, um "nicht der Rechten in die Hand zu spielen".
Aber nichts davon ist machbar. Die Zerstörung ist so tiefgreifend, dass
radikale politische Maßnahmen nötig sind. Wir brauchen ein Programm, das
wirklich links ist. Von oben wird es nicht kommen, weil niemand da oben ihn
vorschlägt. Wir müssen von unten her, einen landesweiten Kampf aufbauen.
HB: Ist der Vorschlag "die Reichen aus dem Land zu werfen" durchführbar?
M: Sicher, das ist bereits geschehen. Da wo sie weggegangen sind, hat sich
die Lage zum Guten verändert. Die Finqueros haben das zapatistische
Territorium verlassen, und sagten, dass der Boden brachliegen würde. Aber
jetzt bringt das Land mehr hervor als damals, als ihnen noch gehörte, und
nur als Viehweide benutzt wurde. Unsere Ernährung hat sich verbessert, der
Kaffeepreis hat sich verbessert, wir haben Wege entwickelt unsere Projekte
ohne Kojoten zu verkaufen, und die Produktion hat sich verbessert. Die
Produktion bei Euzkadi hat sich ebenfalls verbessert, nachdem sie die Fabrik
besetzt haben. Die Orte, an denen die Gemeinden ihre eigenen Organisationen
durchgesetzt haben, haben die niedrigste Verbrechensrate im ganzen Land,
einschließlich der reichen Stadtvierteln, die von privaten Sicherheitswachen
beschützt werden, weil die Privatwachen den Entführern Tipps geben. Überall
wo die Menschen sich selbst organisieren, läuft alles besser.
HB: Aber die wirtschaftliche Macht und Strukturen sind gewaltig. In Atenco
war die Gewalt so überwältigend, dass die Polizei einen sehr ungleichen
Kampf gewonnen hat. Wenn sich das auf nationaler Ebene wiederholt, wird dass
den Menschen nicht noch mehr Repression und Staatsgewalt bringen?
M: Nein, Repression und die Staatsgewalt gibt es bereits, was es nicht gibt,
ist eine Alternative. Weshalb weiß jeder was in Texcoco passiert ist? Weil
die Andere Kampagne dort war und es sichtbar machte. Aber ähnliche Dinge
passieren überall, und davon kriegt niemand etwas mit. Wie viele Morde
finden statt, die man dann der Drogenmafia in die Schuhe schiebt. Überall
finden Enteignungen, Vertreibungen statt, die keine Aufmerksamkeit erhalten,
weil sie für das Wahlergebnis unerheblich sind.
HB: Wie in Atempa, Oaxaca ?
M: Das geschah schon als wir dort ankamen. Sie hatten bereits viel gelitten.
Aber von San Blas Atempa war nicht landesweit bekannt, dazu kam es erst, als
die Andere Kampagne dort durchreiste. Sie kämpften für die Freiheit der
Gefangenen, die bei einem Angriff gegen sie verhaftet worden sind, und für
die Verletzten, die aus den Krankenhäusern gezerrt wurden. Später wurden sie
erneut angegriffen Und auch Atenco ist bereits früher angegriffen worden,
und Compaņeros wurden verhaftet. Und jetzt gibt es diese Eskalation seitens
der PRD, PRI und PAN. Und mitten im Wahlkampf erreichen sie das, was sie
früher nicht erreicht haben: die nationale Destabilisierung. Das haben weder
ich noch die Andere Kampagne geschafft, sondern die politische Klasse - die
Summe aus drei Idioten.
HB: Sie meinen, sie hätten gewonnen.
M: Wir wollen sie den gewinnen, wenn es zwei Monate vor den Wahlen, im
ganzen Land und anderswo auf der Welt Proteste hagelt, wegen eines Problems,
dass sie geschaffen haben? Und nur sie können es wieder in Ordnung bringen,
wenn sie die Gefangenen freilassen, alle Gefangenen. Wenn nicht, wird das so
weitergehen. Wenn die Andere Kampagne so nutzlos ist, so winzig und
unerheblich ohne die konstitutionelle Linke, und alles, was den Gelehrten
sonst noch so sehr zu schaffen macht, wenn Marcos so tot und ausgelaugt ist,
dann können sie doch die Ursache aus dem Weg räumen, die für zunehmende
Sympathie für die Andere Kampagne, und zunehmende Antipathie für die
Massenmedien und die politische Klasse sorgt, und wir werden auf eine
schwache Randerscheinung herabreduziert, mitsamt Marcos, dem Poeten und
alles was sie sonst noch so aufbringt, und setzen unsere anonyme Reise durch
das Land fort.
Aber wir haben dieses Problem nicht geschaffen, wir haben der PRD nicht
gesagt "sagt doch mal eueren Bürgermeister von Texcoco er soll diese
Blumenverkäufer da loswerden". Das hat die PRD selbst zugelassen, und alle
Intellektuellen und Aktivisten, die sich der PRD verschrieben haben, weil
sie darauf hereingefallen sind zu glauben, die PRD sei links. Das
Televisa-Gesetz wurde von PRD-Abgeordneten bewilligt, die sich dann damit
herausredeten, sie hätten es vorher nicht gelesen. Der gleiche Fehler ist
mit dem Indigenen Gesetz passiert, dem Monsanto Gesetz, und alle anderen
Gesetze, die sie bewilligt haben. Sie sehen was passiert, aber sie schweigen
dazu, und werden so zu Komplizen.
HB: Sie sind auch nicht auf den politischen Prozess gegen Marin eingegangen.
M: Das ist auch passiert. Sie sagen "Ah, das ist an uns vorübergezogen".
Glauben sie wirklich, die Menschen würden das Märchen schlucken, dass wir in
einem demokratischen Rechtsstaat leben und all das, so wie es die
konservativen Radiokommentatoren lauthals verkünden? Wer wird den Fox seine
Legitimität abkaufen, während (First Lady) Marta Sahagún ihre Position
benutzt um ihren Söhnen Vorteile zu verschaffen? Oder mit jemand wie Marín
an der Macht, um ein anderes Beispiel zu nennen... Wer wird ihnen glauben?
Niemand glaubt es. Jemand von unten, im Bundesstaat México kann vielleicht
sagen, dass es falsch war einen Polizisten zu schlagen, aber niemand wird
sagen "oh, der arme Kerl", auf keinen Fall, nicht die von unten. Die Option
ist, die Dinge entweder jeder für sich, durch Gewalt neu zu errichten, oder
sich in eine gewaltlose Bewegung zu organisieren.
HB: Kann die Andere Kampagne, objektiv gesehen, das schaffen?
M: Ja. Die indigenen Völker sehen die gleichen Symptome wie damals in 1990.
Wenn wir 1990 die Andere Kampagne gehabt hätten, dann hätte es den
bewaffneten Aufstand nicht gegeben. Seņor Ik wäre nicht tot, auch nicht
Subcomandante Pedro, oder Fredy, oder Aldo, oder irgendeiner von denen, die
bei dem Aufstand gestorben sind, denn wir wären nicht gezwungen gewesen, es
auf diese Weise zu tun. Unsere Stimmen hätten überall Gehör gefunden. Wir
sehen überall das gleiche, dieser Drang loszubrechen und zu sagen "Es
reicht!" Ganz gleich was es kostet. Und wir wissen, dass das ein Rezept für
wahllose Aktionen ist, wenn es keine politisch-militärische oder spontane
Organisation gibt, die stärker ist.
HB: Welchen Effekt hat die Andere Kampagne, wenn sie durch einen Ort, wie
zum Beispiel Zumpango führt? Die Leute dort machten einen gleichgültigen
Eindruck.
M: Es ist ein erster Schritt. Die Idee ist, dass die Menschen dort beginnen
sich umzusehen, Erfahrungen sammeln, Beschlüsse fassen und anfangen mit
anderen zu reden. Bei der Anderen Kampagne geht es nicht nur um die
Anhängern, sondern um die Arbeit, die wir, alle zivilen Organisationen,
einschließlich den Anhängern, gemeinsam mit den Menschen von unten tun
werden. Wir werden ihnen sagen: hier ist ein anderer Vorschlag. Wir werden
euch nicht drängen, weil es um nicht um Macht geht. Wir werden euch
unterstützen, so wie Nacho del Balle und die Front der Dörfer in
Verteidigung des Landes die Blumenverkäufer unterstützt haben. Vielleicht
geht das schief, und sie greifen uns an, oder was auch immer. Aber wir haben
nicht beschlossen, die Blumenverkäufer zu vertreiben. Wir haben dem
Bürgermeister nicht den Befehl erteilt, die Polizei zu rufen. Wir haben den
Massenmedien nicht gesagt, sie sollen die Regierung zum Einsatz repressiver
Gewalt aufzuhetzen. Die Menschen in Atenco haben sich selbst verteidigt. Die
Polizisten wurden nicht bei sich zu Hause verprügelt; sie wurden geschlagen,
als sie beschlossen vorzurücken und Atenco anzugreifen, und das zu tun was
sie später getan haben, mit noch mehr Polizisten. Die Polizei marschierte
ein um die Leute gewaltsam zu räumen, das klappte nur nicht ganz so, wie sie
das geplant hatten, also schickten sie noch mehr Polizisten rein, um das
gleiche zu tun.
HB: Es gibt die Sorge, dass die Straßenblockaden und die Aktionen das Leben
der Bürger beinträchtigen. Ist es angemessen für die Andere Kampagne, dazu
aufzurufen, wenn sie als gewaltsame Mittel betrachtet werden?
M: Das ist keine Gewalt. Es ist das Problem. Das Problem ist nicht die
Andere Kampagne, oder die Aktionen, sondern die Situation, die es
hervorruft: eine illegale, illegitime Handlung, die Verhaftung und
Erpressung einer unschuldigen Gruppe von Menschen, die Anhänger der Anderen
Kampagne sind. Das Prinzip der Anderen Kampagne ist es, sich gegenseitig zu
unterstützen. Menschen werden gefangengenommen, und anstatt zu diskutieren,
ob es ein Problem damit ist, wenn das Gemüse zu spät auf den Markt kommt,
oder wenn es ein Verkehrsstau gibt oder die Leute zu spät zur Arbeit kommen,
sollten wir uns fragen, weshalb es diese Situation überhaupt erst gibt. Und
welche andere Option zu kämpfen haben diese Menschen denn? Ein bewaffneter
Aufstand? Man soll keine Autobahne sperren, keine Straßen blockieren, keine
Protestzüge abhalten. Na dann, klar, man schließt sich einer bewaffneten
politischen Bewegung an und macht einen bewaffneten Aufstand, und die Leute
hören einem zu.
HB: War eine Atenco nicht eine Falle, deren Reaktion vorausgesehen und
benutzt wurde um die Repression zu rechtfertigen?
M: Sie können gar nichts rechtfertigen. Die Falle haben sie sich jedenfalls
selbst gestellt.
Ich bleibe dabei, dass die Analysten so viel Zeit damit verbringen nach oben
sehen, dass sie völlig vergessen nach unten zu blicken. Sie halten den Staat
für viel schlauer, als er es eigentlich ist. Die Dinge sind außer Kontrolle
geraten. Und sie sagen, "Nein, das war alles perfekt geplant."
Nein, sie haben nicht alle Anführer der FPDT geschnappt. Sie haben Nacho und
den anderen gekriegt, weil sie die Blumenverkäufer unterstützt haben, und
deshalb in der Nähe waren. Wenn es eine geplante Aktion gewesen wäre, hätten
sie die Führung der FPDT ganz enthauptet.
HB: Soll Atenco das "Angstvotum" wieder zum Leben erwecken, wie 1994 die
Ermordung (des mexikanischen Präsidentschaftskandidaten, Luis Donaldo)
Colosio?
M: Das ist eine weitere Erfindung. Da nach einhelliger Meinung aller
Kandidaten, alles durch die Wahlumfragen entschieden wird, benutzen sie das
Angstvotum um sich gegenseitig fertig zu machen. Keiner von ihnen hat die
Nase lange vorn, weil es dem einen Herrn - nämlich Calderon - an Intelligenz
mangelt, der andere -Lopez Obrador - hat Angst, und der wieder andere -
Madrazo - ist blutdürstig. Da sie in den Umfragen nahe beieinander liegen,
entscheiden letztendlich die Massenmedien, weil alle Kandidaten ihnen diese
Stellung einräumen. Deshalb ist das Votum nicht wirklich wichtig. Es spielt
für sie keine Rolle, ob die Leute ihre Stimme abgeben oder nicht. Es ist
nur wichtig, dass sie weiterhin die Kontrolle behalten. Vom Angstvotum war
schon früher die Rede. Vor Atenco sollte das Spiel so ablaufen. Jose
Barberan sagte, "Schaut euch die Wahlen in 1994 an: die Prozente in den
reichen Vororten waren die gleichen wie in den Armenvierteln". Als wir uns
1994 mit Cardenas trafen, sagten wir ihm "Sie werden Dritter. So läuft das
Spiel". Aber damals gab es keine Andere Kampagne und auch nicht die
Zermürbung durch die Massenmedien, die es heute gibt, weil sie sich der
politischen Klasse angeschlossen haben.
HB: Sind sie nicht mächtiger?
M: Die beherrschende Klasse ist mächtiger, aber sie hat für die Menschen
immer weniger Bedeutung, sie ruft immer weniger Interesse hervor. Wären die
Dinge die sie gesagt haben, ansonsten nicht auch beim Protestmarsch von
Chapingo nach Atenco aufgekommen? Sachen wie "Verschwindet! Radikale!
Mörder! Nimm die Maske ab!" Genau das Gegenteil ist passiert. Haben sie uns
nicht etwa einen ganzen Tag lang damit bombardiert? Das ist ihnen auch nicht
mehr wichtig. Was für sie zählt, ist was die Kommentatoren sagen, oder sich
alle bei Televisa um einen runden Tisch einzufinden und zu sagen "wir sind
ja so intelligent, so human".
Haben sie nicht solche Sachen gebracht wie "Ich glaube nicht an Zufälle,
alles war geplant"? Das ist auch nicht wahr, weil die Bilder und die
Ereignisse so zurechtgelegt wurden, um zu der Geschichte zu passen, die sie
erfunden haben. Genau wie damals, als sie sagten der UNAM Streik sei ein
Komplott gegen Cárdenas gewesen, als ob es nicht ausreichte, dass die PRD
gegen ihren eigenen Kandidaten konspirierte.
HB: Irgendwo wurde mal gesagt, wir in Mexiko würden nichts glauben, bevor er
nicht wirklich geschieht. Wo genau befinden wir uns jetzt gerade?
M: Die Andere Kampagne ist die einzige landesweite Bewegung, die wirklich
von links kommt. Ich meine landesweit, weil sie in allen 32 Bundesstaaten
existiert. Und mit links meine ich nicht, dass sie revolutionär,
reformistisch, oder anti-kapitalistisch ist oder nicht, obwohl sie sich zur
Zeit ziemlich stark auf diese Marcos Figur oder die EZLN konzentriert,
garantiert gerade das, dass es keine vorherrschende oder homogenisierende
Kraft darin gibt. Jeder und jede von uns hat darin seinen oder ihren eigenen
Raum und Forderungen, und das der Bewegung erlauben ein landesweiter Kampf
zu werden.
Gestatte mir etwas über Atenco zu sagen, darüber, was passieren wird, wenn
sie die Situation nicht entschärfen. Sie denken, sie hätten diese Dummheit
bereits hinter sich, dass es zwar enorm dämlich war, aber na ja, "wir werden
das benutzen um es Lopez Obrador anzuhängen und ihn in den Wahlumfragen
endgültig runterzuziehen und Calderon rauf, und danach sehen wir zu, wie wir
Calderon auch noch runterbringen". Es ist ihnen egal wer die Entscheidungen
trifft, solange sie alle an der Leine sind.
Und jetzt stellt sich heraus, dass sie dabei auch noch gegen Marcos und die
EZLN vorgehen müssen, und sie denken "Gehen wir doch aufs Ganze, knöpfen uns
die EZLN vor und lassen Marcos verhaften". Genau das schlägt die COCOPA (Die
Regierungskommission für Frieden und Versöhnung) gerade vor. Mardazo hat mit
diesen Erklärungen nichts zu tun, aber jemand in der COCOPA hat gesagt, dass
das Gesetz für Dialog nicht mehr gültig ist. Jetzt ist es wieder wie in
1994. Genau das sagen die PRI und die PAN. Und so wie die Dinge stehen, wird
es nicht lange dauern, bis die PRD das auch sagt. Was sie also provozieren
werden, ist die soziale Spannung und Proteste so weit zu verschärfen, dass
die Wahlen in Juli in einem Klima der sozialen Unruhe stattfinden werden,
und sie die Armee und Polizei einsetzen müssen. Was für ein Bild der
Demokratie werden militärüberwachte Wahlen der übrigen Welt vermitteln, und
wer wird schon wählen gehen, wenn die Wahlkästen von der Armee bewacht
werden?
HB: Und werden sie nicht sagen, dass es Marcos war, der das Klima der
demokratischen Harmonie sabotiert hat?
M: Das ich sie sabotiert hätte? Ich habe die Polizei nicht nach Atenco
geschickt. Nein, es wird so kommen, dass alles zusammenbricht. Das Kapital
benötigt Ruhe und Ordnung, keine Wahlen. Es wird keine Ruhe geben, egal ob
es Wahlen gibt oder nicht. Das Kapital braucht Ruhe.
HB: Regierbarkeit?
M: Das ist das gleiche. Regierbarkeit ist Ruhe und Ordnung. Und wir sehen
gerade, dass Ordnung nicht so aufgezwungen werden kann. Order wird durch
Legitimität durchgesetzt, nicht durch Gewalt. Und die Regierung will sie
durch Prügel und Verhaftungen durchsetzen, und indem sie die Menschen
unterdrückt, die Straßenblockaden, Protestkundgebungen und Demonstrationen
abhalten, und immer mehr Leute ins Gefängnis steckt. Wir werden ein Punkt
erreichen, an dem entweder die gesamte Bevölkerung im Gefängnis sitzt, oder
sie genug Angst generiert haben um Marcos auszulöschen. Das eine machen sie
schon, als nächstes kommt die Angst. Und welche Optionen haben die sieben
bewaffneten Gruppen, die sich laut der Zeitung von heute im Roten Alarm
befinden? Nicht die EZLN, die in der Anderen Kampagne ist, sondern die
anderen politisch-militärischen Organisationen. Das wird ihnen die soziale
Basis verschaffen, die sie jetzt nicht haben.
Wenn eine zivile, gewaltfreie Mobilisierung wie die Andere Kampagne nicht
mehr möglich ist, gibt es nur noch den Weg der anderen Option. Das ist das
Zeichen, das sie senden, und sie werden das richtig stellen müssen, denn
wenn sie glauben, die Kontrolle durch die Polizei und durch Fernsehen, Radio
und Presse erhalten zu können, liegen sie falsch. Das haben wir bereits in
den 20 Bundesstaaten gesehen, die von der Anderen Kampagne besucht wurden.
Man kann uns nicht kontrollieren.
HB: Kann die Andere Kampagne ein Gegenmittel für die gewaltsame Revolte
sein?
M: Nicht nur für die gewaltsame, sondern auch die isolierte Revolte.
HB: Was ist sie dann?
M: Wir haben keine Angst.
HN: Eine gewaltfreie Revolte?
M: Ein Aufstand.
HB: Wenn das die Option ist, die von der Anderen Kampagne vorgeschlagen
wird, welche Zukunft hat sie im gegenwärtigen Szenario?
M: Ihre Zukunft war es immer schon zu gewinnen. Der Anderen Kampagne wird es
gelingen all diese Kämpfe und Widerstände zu vereinen; alle linken
politischen Organisationen werden zusammenkommen, so wie das in der Karawane
der Fall war. Sie wird in diesem Land eine noch nie da gewesene kulturelle,
politische, wissenschaftliche und humanistische Bewegung schaffen, von unten
und von links.
* * *
(übs. von Dana)
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