Marcos: "Wir bleiben in Atenco bis alle Gefangenen frei sind!"
Hermann Bellinghausen und Gustavo Castillo
La Jornada 6.5.2006
San Salvador Atenco, Bundesstaat Mexiko, 5. Mai. Subcomandante Marcos kehrte
heute nach San Salvador Atenco zurück, und auch wenn der dortige Empfang
nicht so gewaltig ausfiel wie am 26. April, war die Zahl der Menschen, die
er mit sich brachte, fast so groß wie jene derer, die ihn bei dieser
Gelegenheit erwartet hatten. Die Botschaft der Demonstranten lautete "Ihr
seid nicht allein". Er gab bekannt, dass er in Mexiko Stadt bleiben und an
den Aktionen teilnehmen wird, bis alle Gefangenen befreit worden sind.
"Gestern und heute waren wir Zeugen einer wahren Lügen- und Lynchcampagne
gegen die Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra (Volksfront zur
Verteidigung des Landes) und der Bevölkerung von San Salvador Atenco. Mit
manipulierten Bilder, Fotos und Worten stellen sich die Massenmedien in den
Dienst der Lüge. Ein Pressesprecher sagte, er glaube nicht an Zufälle. Er
glaubt genauso wenig an die Wahrheit. Natürlich ist es offensichtlich, dass
jene, die für diese Lügenkampagne der Massenmedien zahlen, das Geld haben,
und wir nicht. Die von Oben, die diese Kampagne finanzieren, stehen nicht
auf der Strasse, sie arbeiten nicht in den Fabriken und auf den Feldern, sie
leben nicht in den Bergen; wir sind es, jene von unten, die das alles tun.
Die Massenmedien führen eine Verleumdungskampagne gegen gute und edle
Menschen aus.
"Die Compaņeros der FPDT sind Anhänger der Anderen Kampagne, und halten sich
an das Versprechen, dass wir uns gegenseitig helfen müssen. Die Compaņeros
von Texcoco baten sie um Hilfe, weil sie vertrieben werden sollten. Diese
Compaņeros und Compaņeras ersuchten um ein Dialog mit den Bezirkspräsidenten
von Texcoco, der zur PRD gehört, und dieses Recht wurde ihnen verweigert,
man drohte ihnen mit Vertreibung. Ignacio del Valle, machte sich mit einer
Gruppe Männer und Frauen auf, um ihnen durch ihre Anwesenheit beizustehen,
so wie das oft getan wird, in allen kleinen und großen Kämpfen von Unten.
Wie sollen wir dieser Diskreditierungskampagne gegen diese Menschen glauben,
die wir gut kennen, und die sie als Kriminelle hinstellen wollen, wenn wir
sie in den schwierigsten Augenblicken an unserer Seite gesehen haben, und
die
uns stets ihre Kraft und ihre Unterstützung gegeben haben ohne
irgendetwas im Gegenzug zu fordern."
An die versammelten Reporter und Kameraleute gewandt, die im Augenblick
aufnahmen, fragte Marcos "Welches Pressemedium kann stolz darauf sein, Peņa
Nieto Stimme zu verleihen, ein Idiot und nun auch ein Mörder?" Die
Massenmedien "leiten eine Schmierenkampagne, und Sie führen sie aus; das
einzige, das Sie erreichen, ist der wachsende Hass und Unmut, der Ihnen
entgegenschlägt. Es werden nicht ihre Bosse sein, die von den Beleidigungen
und der Empörung getroffen werden, sondern Sie, die Kameraleute, Reporter,
Fotografen, weil Sie die Firmen repräsentieren, die diese Falschdarstellung
verkaufen - hier unten glaubt keiner denen von Oben.
"Wieso meinen die Fernsehsender, die Radiostationen, die Zeitungen, dass wir
ihnen glauben würden, wenn sie die Lüge nur oft genug wiederholen, wenn sie
früher schon über alles gelogen haben, was unten vorgeht? Das einzige was
sie erreichen, ist dass der Unmut wächst, und was gestern hier passiert ist,
ist ein kleines Beispiel davon. Und es werden mehr folgen. Auf den ersten
Bildern von den Festnahmen konnte man eindeutig sehen, wie die Polizei
Gefangene verprügelte, die bereits bewegungsunfähig waren; am Abend war
bereits alles umeditiert; die prügelnden Polizisten waren nirgends mehr zu
sehen. Wo sind diese Bilder abgeblieben? Wo sind die Verschwundenen
abgeblieben? Wir vermissen zwei Compaņeros. Einer ist der Sohn von Ignacio
del Valle, sein Name ist César, und der andere ist Ulises Ríos. Sie sollen
sie zeigen. Die Angehörige der Festgenommenen haben uns gewarnt, dass die
Frauen vergewaltigt werden. Wo ist hier denn ihr Rechtsstaat? Was hat die
Polizei hier in San Salvador Atenco zu suchen, wenn es ein lokales Problem
in Texcoco gewesen ist? Sie tun das, was wir schon letztes Mal gesagt haben,
als wir hier ankamen, sie wollen dieses Land zurück, und sie wollen den
Flughafen. Dafür haben sich die PRD, die PAN und die PRI eingebracht, und
jetzt wollen sie ihre Debatten und Wahlkampagnen darum aufbauen, und um das
Privileg wetteifern, wer vor dieser Ungerechtigkeit den Kopf in den Sand
steckt, und wer ihr applaudiert und sich damit brüstet, ein hartes
Eingreifen zu fordern."
Mit energischer Stimme fuhr er fort: "Hier unten glauben wir nichts davon,
und das nicht nur, weil wir diese Menschen kennen, sondern auch, weil wir
das
Vorgehen der Medien kennen. Wir bitten Sie, sich das hier anzusehen". In
diesem Augenblick zeigte er fünf Gewehrkartuschen. "Das hier wird von der
'unbewaffneten' Polizei verschossen. Man hat uns fünf dieser Kartuschen
überreicht. Hier ist der Beweis dafür, wie unbewaffnet die Polizei gekommen
ist; der Beweis dafür, was diesen jungen Compaņero getötet hat; der Beweis
dafür, dass es nicht darum ging, die Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern
Zerstörung und Tod zu verursachen. Das hier lässt die Polizei des
Bundesstaates México zurück." Dann bot er eine der Patronen der Televisa an.
"Das ist die Wahrheit, die Unfähigkeit der PRD im Rathaus von Texcoco,
vereint mit der von Peņa Nieto und Vicente Fox. Aus drei Idioten wird ein
Verbrecher, und der ist dann nach Atenco gekommen". Im Gegenzug, so fuhr er
fort, "sind wir gekommen, Compaņeros der Anderen Kampagne, denn Sie gehören
zu uns, Ihre Gefangenen sind auch die unseren, und darüber hinaus, wurden
auch Compaņeros und Compaņeras von anderen Organisationen verhaftet, die zu
uns gehören. Wir kommen um Ihnen zu sagen, dass Sie nicht allein sind, dass
wir im ganzen Land weiterhin Mobilisierungen durchführen werden, bis alle
Gefangenen freigelassen, und alle Verschwundenen wieder aufgetaucht sind,
bis alle Haftbefehle wiederrufen worden sind, und Atenco den Frieden
zurückerhält, der an diesem Morgen und an diesem Tag geraubt wurde, als die
es von der Staatspolizei und der Bundespräventivpolizei angegriffen wurde."
Ironisch meinte er: "3000 Polizeikräfte gegen 50 Personen, die sich auf
diesem Platz befinden. Was für Helden, was für ein Rechtsstaat, was für ein
Dreck! Was für ein Privileg, was für eine Ehre für die Regierung, einen
Jungen zu töten. Welche Ehre, Frauen zu schlagen und zu vergewaltigen, was
für eine Ehre alte Menschen zu verhaften und zu verprügeln! Was für eine
Ehre hat dieser Rechtsstaat? Wo war der Rechtsstaat zu der Stunde, als der
Gouverneur (von Puebla, Mario) Marin ihn sich mit zwei Cognacflaschen
erkaufte, zu der Stunde als Seņora Sahagun ein Stück des Landes für ihre
Söhne kaufte, zu der Stunde als diese Räuberbande, die oben ist, beim
stehlen gefilmt und auf Video gezeigt werden?
Er warnte: "Wir werden weiterhin demonstrieren, weiterhin die Leute aufrufen
ihnen nicht zu glauben. Gestern haben wir daran gearbeitet, damit in unsere
Organisation, die EZLN, alles geregelt ist, falls hier irgendetwas passiert.
Ich möchte sie davon in Kenntnis setzen, dass wir auf unbestimmte Zeit hier
in D.F. bleiben werden, um an den Aktionen teilzunehmen.
"Mitarbeiter der Presse und Massenmedien: seit Beginn der Anderen Kampagne
haben wir uns entschieden, es den Oberen zu überlassen, sich um den ersten
Preis für Mittelmäßigkeit schlagen. Wir haben niemandem Interviews gewährt,
sondern den alternativen Medien den Vorzug gegeben. Ab sofort werden wir
dazu übergehen, allen Kommunikationsmedien Interviews zu geben, die
garantieren, unser Wort ohne Kürzungen und Schnitte zu präsentieren. Um ein
erstes Interview zu erhalten, müssen sie eine dieser Patronen
veröffentlichen.
Minuten vorher, entrichtete die junge América del Valle, die von der Staats-
und Bundespolizei gesucht wird, eine telefonische Botschaft, die auf dem
Platz von Atenco wie aus den Tiefen einer Flasche klang: "Unsere Würde ist
stärker als die Polizeihunde, die Schläge und das Gefängnis, und wir sagen
ihnen: wir stehen hier weiterhin aufrecht. Sie haben uns nicht geschlagen,
trotz ihrer Vergeltung! Wenn das organisierte Volk gestern ihr Megaprojekt
verhindert hat, wird sich heute zeigen, dass es in Mexiko nicht nur ein
Atenco gibt, sondern viele. Und wir sind alle empört und wütend, aber vor
allem entschlossen, uns weiterhin gegen dieses repressive politische System
zu organisieren. Heute mehr den je, haben wir Grund zu kämpfen, gegen die
Mörder von Javier Cortés Santiago, gegen die Vergewaltiger und die
Gefängniswärter dieses Landes, und gegen alle Lügner und Heuchler, die
dieser Repression Beifall spenden ".
Die Strecke, die Subcomandante Marcos aus der Calle Zapotecos im Obreras
Viertel der Hauptstadt, bis zur Universität von Chapingo zurücklegte, war
eine Zurschaustellung polizeilicher Mobilmachung, und infolgedessen die
angespannteste und gefährlichste Reise, die bisher im Rahmen der Anderen
Kampagne geführt wurde. Gefolgt von mindestens 20 Fahrzeugen der jeweiligen
Körperschaften, setzte er den Weg durch verschiedene Routen der Hauptstadt
fort, und bog dann auf die Strasse Los Reyes - Texcoco. Gegen 16:00 Uhr
durchbrach Delegado Zero den Polizeigürtel und erreichte das Haus, in dem er
die letzten zwei Nächte verbrachte. Offiziellen Quellen zufolge, waren an
dem polizeilichen und militärischen Aufmarsch 120 Kräfte der PFP, PGR,
SEDENA, CISEN und Regierung beteiligt, ohne die Gerichtspolizei von D.F. und
dem Bundesstaat México zu zählen.
In Chapingo wurde er von ca. 1500 Personen erwartet. Innerhalb einer Stunde,
setzte Delegado Zero den Marsch Richtung Texcoco in Bewegung. Es war gegen
18:00 Uhr. Um diese Zeit war die Zahl der Demonstranten bereits auf 2000
Personen angewachsen. Bei der Durchquerung der Stadt Texcoco hatten sich ca.
4000 Menschen dem Zug angeschlossen. Mehrere Gruppen warteten bereits. Die
Hauptslogans lauteten "Atenco, escucha, el pueblo está en tu lucha" (Höre
Atenco, das Volk ist in Deinem Kampf) und "Todos somos Atenco" (Wir alle
sind Atenco).
Die Demonstranten riefen Sprüche gegen die Banken, die PRD-Regierung von
Texcoco, die politischen Kandidaten, die von ihren Wahlplakaten
heruntergrinsten und insbesondere gegen den Gouverneur vom México,
Enrique Peņa Nieto. Der Aufruf "Freiheit für die politischen Gefangenen"
erhielt neue Resonanz. Viele Menschen, schlossen sich dem Zug an. "Wir
wollen, dass alle freigelassen werden", riefen einige Frauen am Rand der
Strasse Texcoco-Lecheria und baten die Kameraleute: "Zeigen Sie alles,
nicht nur das, was denen von Oben gefällt".
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(übs. von Dana)
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