Jungle World, Nummer 11 vom 15. März 2006
Herr Chávez, der Sub und wir
Mit linksradikalen Codes deutscher Provenienz sind die Entwicklungen
in Lateinamerika nicht zu verstehen. Doch so manches, was als
fortschrittlich daherkommt, ist ein Remake des alten
lateinamerikanischen Autoritarismus.
von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt
Die Autonomen der achtziger Jahre wären begeistert gewesen: Eine
linksradikale Organisation, die bewaffnete Verbände unterhält, übt
sich an einer horizontalen Organisationsform, schafft sich eine Basis
bei marginalisierten Teilen der Bevölkerung und gestaltet einen
eigenständigen Alltag in ihren Einflussgebieten. Unterdessen reist
eine Delegation durchs Land, um mit Fabrikarbeitern, Hausbesetzern,
Prostituierten oder Migranten über eine gemeinsame Organisierung zu
debattieren. Und Aktivisten von freien Radiostationen verbreiten die
Inhalte der Treffen im ganzen Land.
Es ist kein Zufall, dass immer wieder die Zapatisten herangezogen
werden, wenn in der Linken über internationale Zusammenarbeit und
Perspektiven nachgedacht wird. Trotz aller unterschiedlichen
Bedingungen scheinen wichtige Aspekte des Kampfs der indigenen
Rebellen aus dem südmexikanischen Bundesstaat Chiapas mit den
Vorstellungen undogmatischer Bewegungen in Europa konform zu gehen.
Auch in dieser Disko-Reihe verwiesen in den vergangenen Wochen die
Autorinnen und Autoren immer wieder auf die Zapatisten.
Die zapatistische Rebellion steht gewissermaßen beispielhaft für eine
Reihe von Kämpfen »von unten«, wie sie in Lateinamerika in den
vergangenen Jahren geführt wurden, darunter die argentinische Revolte
vom Dezember 2001, die Aufstände der indigenen Kokabauern in Bolivien
oder die direkten Aktionen der brasilianischen Landlosenbewegung MST.
Sie alle haben eines gemeinsam: Sie spielen im gesellschaftlichen
Leben ihrer Länder eine relevante Rolle und haben dazu beigetragen,
dass die Linke in Lateinamerika eine erhebliche politische Bedeutung
gewonnen hat. Ihre Bemühungen zielen auf die unmittelbare Veränderung
der elenden Bedingungen, unter denen viele Bauern, Indígenas und
andere Marginalisierte leben. Hierin unterscheiden sich die Debatten
des MST oder der Zapatisten grundsätzlich von jenen, die in deutschen
linksradikalen Kreisen geführt werden. Es geht um Realpolitik, nicht
um Ideologiekritik.
Thilo F. Papacek hat also völlig Recht, wenn er schreibt, dass der
EZLN »sich nicht von der Nation emanzipieren, sondern die Indigenen
in einen besseren Nationalstaat integrieren« wolle (Jungle World,
10/06). Die zapatistische Rebellion begann mit dem Vorhaben, ein
Versprechen der bürgerlichen Revolution einzulösen. Nicht von
ungefähr wird selbst im tiefsten Chiapas bei Veranstaltungen nach der
zapatistischen die nationale Hymne gesungen. Es ging und geht um die
Emanzipation einer seit Jahrhunderten rassistisch diskriminierten
Bevölkerungsgruppe, es geht um Verfassungsreformen und rechtliche
Garantien. Wer sich derlei Ziele setzt, hat einen konkreten
Gesprächspartner: den Staat. Autonome, die in Berlin-Friedrichshain
auf ein paar Plakaten »die Nation pulverisieren« wollen, haben es da
freilich einfacher.
Die Indigenen arbeiten darüber hinaus an einer grundlegenden Kritik
der kapitalistischen Vergesellschaftung. Das macht die »andere
Kampagne« deutlich, mit der die Zapatisten versuchen, verschiedene
Bevölkerungsschichten in einem langfristigen Konzept zu organisieren.
Zweifellos gibt es Gründe, die nationalstaatliche Ausrichtung der
Zapatisten zu kritisieren. Doch wer daraus schließt, dass sich die
Bewegung an einem paternalistischen Regime wie dem des ehemaligen
argentinischen Präsidenten Juan Perón orientiere, stellt das Anliegen
der Zapatisten auf den Kopf. Die traditionell konservative
mexikanische Linke betrachtet bis heute das Projekt mit
Unverständnis, weil es ohne hierarchische Formen auszukommen
versucht.
Wer die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen und Codes
wild durcheinander würfelt, wird in einer Debatte mit
lateinamerikanischen Linken keinen Millimeter vorankommen. Das gilt
etwa für Horst Pankow, wenn er den aus »Würde«, »Heimat« und »Nation«
bestehenden »völkisch-vaterländischen Zirkus« sowie die
»zapatistischen Sauberkeitskampagnen gegen Prostitution und Drogen«
kritisiert (Jungle World, 4/06).
Er zeigt damit, welche realitätsfernen Interpretationen es
hervorrufen kann, wenn man die Verhältnisse in der
lateinamerikanischen Provinz mit linksradikalen Codes deutscher
Provenienz analysiert. Sollte man Frauen aus zapatistischen Gemeinden
vorwerfen, dass sie ein Alkoholverbot durchgesetzt haben, um nicht
ständig von ihren betrunkenen Männern verprügelt zu werden? Ist es
unverständlich, wenn Menschen, die bis heute von einer mestizischen
Dominanzgesellschaft wie Untermenschen behandelt werden, zuallererst
»Würde« fordern? Wahrscheinlich hilft in der Tat nur eins: »Runter
mit der Ethnobrille!« wie es Stefanie Kron formuliert (Jungle World,
5/06).
Pankow hat trotzdem Recht, wenn er den affirmativen Bezug auf
traditionelle Werte indigener Gemeinden infrage stellt. Noch immer
verteidigt man insbesondere in der globalisierungskritischen Bewegung
munter indianische »Sitten und Gebräuche«, die von demokratischen
Entscheidungsprozessen oder gleichberechtigten
Geschlechterverhältnissen weiter entfernt sind als die schäbigste
bürgerliche Demokratie. Das subsistenzwirtschaftliche Schuften auf
der eigenen Scholle und der heimische Markt gelten als das gute
»Eigene«, das einer feindlichen »globalisierten Welt« gegenüber
steht. Das feindliche »Außen«, das Kultur- und Geschichtslose
repräsentieren - wie sollte es anders sein? - die USA.
Diese Wahrnehmung zieht sich quer durch den Kontinent. Wird sie nicht
in der Praxis konterkariert - wie durch die zapatistische Mischung
aus Moderne und Tradition -, ist es nicht verwunderlich, dass am
anderen Ende der Kette Leute wie der peruanische Ultranationalist
Ollanta Humala Tasso und dessen Kampf für die Wiederauferstehung des
Inkareichs stehen. Mit diesen identitären Vorstellungen lässt sich
noch die krudeste »Völkerfreundschaft« legitimieren.
Vorgemacht hat diese Verbrüderung in jüngster Zeit vor allem Hugo
Chávez. »Im Kampf gegen den Imperialismus, den Kolonialismus, das
Lakaientum und die Nachgiebigkeit« verbündete sich der
venezolanische Präsident mit dem Iran Mahmoud Ahmadinejads und hebt
die »antiimperialistischen und revolutionären« Tugenden der beiden
»Völker« hervor. Dass diese internationale Solidarität im Gegensatz
zu den von der bolivarianischen Bewegung proklamierten
emanzipatorischen Zielen steht, spielt offenbar keine Rolle. Im
Gegenteil, man freut sich schon auf den bevorstehenden Besuch der
palästinensischen Hamas.
Es gibt gute Gründe, die »bolivarianische Revolution« zu verteidigen.
Warum aber nehmen internationale Unterstützer verschiedener Couleur
diese Allianz mit einem Klerikalfaschisten wie Ahmadinejad kritiklos
hin? Basiert diese Nähe »nur« auf dem manichäischen Weltbild, wie es
typisch für den Antiimperialismus ist und das die beiden vereint?
Die Tatsache, dass mit dem Argentinier Norberto Ceresole ein
ausgemachter Holocaust-Leugner zu den engsten Beratern von Chávez
zählte, sollte zu denken geben. Der mittlerweile verstorbene Ceresole
schrieb Texte über die »jüdische Frage« und »angebliche Gaskammern«,
die auf Neonazi-Webpages als Hintergrundmaterial dienen. Er baut auf
seine Erfahrungen mit dem argentinischen Peronismus.
In seinem 1999 veröffentlichten Text »Caudillo, Armee, Volk - ein
postdemokratisches Modell für Venezuela« plädiert er für das Prinzip
des autoritären Caudillismus, dessen Macht auf der direkten Beziehung
eines Führers zu den Massen beruht. Da es sich um eine eigenständige
lateinamerikanische Sache handle, sei dies kein Rückschritt, sondern
eine Voraussetzung für eine gerechtere Verteilung des nationalen
Reichtums. Obwohl Chávez sich Ende der neunziger Jahre von dem
Faschisten getrennt hat, ist kaum zu verkennen, dass einige von
dessen Thesen weiterhin die Politik in Venezuela bestimmen: etwa die
zentrale Rolle des Militärs im zivilen Leben oder die ausgedehnte
Macht des Präsidenten und seine direkte Beziehung zu »seinem Volk«.
Diese Form von Regime ist in Lateinamerika nicht so neu, wie die
Freude vieler Linker über bolivarianische Gesundheitsstationen,
Alphabetisierungskampagnen oder Bildungsprojekte glauben lässt. In
verschiedenen Variationen haben Mexikos Lazaro Cardenas, Brasiliens
Getúlio Vargas und Argentiniens Perón versucht, soziale Bewegungen in
den Nationalstaat einzubinden, der immer auch totalitäre Aspekte
aufwies.
Andrés Pérez González unterscheidet innerhalb der
lateinamerikanischen Linken zwischen autoritären und libertären
Tendenzen (Jungle World, 6/06). Doch so sinnvoll dies klingt, ist es
dennoch zu vereinfacht. Denn antikapitalistisches Denken, das über
das traditionelle antiimperialistische Schema nicht hinausreicht,
ist in »libertären« Kreisen ebenso zu finden wie in »autoritären«.
Dennoch wird es für die weitere Entwicklung von zentraler Bedeutung
sein, wie sich die verschiedenen Bewegungen zu den linken Zentren der
Macht stellen.
Chávez hat bereits auf dem Weltsozialforum in Caracas im Januar
bewiesen, dass er es ernst meint. Sein Plädoyer für eine
»antiimperialistische Alternative für den Sozialismus« zielte
jedenfalls deutlich auf eine Einbindung der sozialen Bewegungen.
Dabei stößt der Präsident auf offene Ohren. Einige internationale
Größen der globalisierungskritischen Szene, beispielsweise Ignacio
Ramonet oder Emir Sader, fordern ohnehin, dass das Weltsozialforum
eine größere politische Effizienz erhalten müsse. Und was könnte
effektiver sein als die Beteiligung an der Staatsmacht?
Eindeutig anders haben sich die Zapatisten entschieden. Man wolle mit
der politischen Klasse nichts zu tun haben, ließ ihr Sprecher
Subcomandante Marcos zum Auftakt der »anderen Kampagne« wissen. In
dieser Frage jedenfalls setzen die Rebellen einen wichtigen
Kontrapunkt. Sie wenden sich gegen eine Politik, die das Risiko in
sich trägt, dass emanzipatorische Prozesse in totalitären Strukturen
verenden. Und das mit gutem Grund, denn diese Erfahrungen haben Linke
oft genug gemacht.
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