"Das Land muß von unten her verändert werden"
Indigene Bevölkerung Mexikos wartet auf mehr Rechte. Gespräch mit Michael Chamberlin
Michael Chamberlin ist stellvertretender Direktor des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas, Chiapas, Mexiko
F: Vor zehn Jahren, am 16. Februar 1996, unterzeichneten die mexikanische Regierung und die linksgerichtete Zapatistische Befreiungsarmee EZLN nach monatelangen Verhandlungen die sogenannten Abkommen von San Andrés über die Rechte der indigenen Bevölkerung. Bis heute hat jedoch die Regierung diese Verträge nicht erfüllt. Was würde eine Umsetzung der Abkommen für die indigenen Gruppen bedeuten?
Die Umsetzung der Verträge würde ein erster Schritt sein, Mexiko als ein plurikulturelles Land anzuerkennen. Es wäre der Beginn einer notwendigen Reform, um die verschiedenen Identitäten einzubeziehen, die den Staat bilden. Es wären Schritte möglich, um die strukturelle Diskriminierung, zu der die indigene Bevölkerung seit über 500 Jahren verdammt ist, zu überwinden.
F: Seit vielen Jahren analysieren Sie die soziale, politische und ökonomische Situation in Chiapas und Mexiko. Warum erfüllen die Regierungen die Abkommen nicht?
Die Anerkennung der Indígenas als Bevölkerungsgruppen innerhalb von Mexiko wäre eine durchgreifende Reform des Repräsentationssystems und der politischen Entscheidungsfindung. Die indigen geprägten Regionen sind heute in Mexiko die Orte, an denen die wichtigsten Naturressourcen bewahrt wurden. Wenn die indigenen Gruppen ihre Gebiete kontrollierten und über ihre Ressourcen selbst entscheiden könnten, würden sie der aktuellen politischen Klasse und deren Verbündeten, den Großkapitalisten, die Macht nehmen.
F: Was sind heute die Forderungen der indigenen Gruppen? Wie organisieren sie sich? Nehmen viele an der sogenannten Anderen Kampagne der EZLN teil, die eine außerparlamentarische Linksallianz aufbauen will?
Da die drei Gewalten des Staates den Verrat begangen haben, die unterzeichneten Abkommen nicht umzusetzen, und weil sie die Ausgrenzung der Indígenas beenden wollen, haben deren Vertreter sich dafür entschieden, ihre eigenen Autonomien aufzubauen. Und das nicht nur in Chiapas, sondern in vielen Teilen des Landes - mit kleinen und großen Erfolgen. Nichtsdestoweniger stellen viele indigene Gruppen fest, daß ihr Kampf nicht erfolgreich sein wird, wenn sie ihre Kräfte nicht mit dem Rest der marginalisierten Bevölkerung vereinen. Ihnen ist klar geworden, daß die politische Klasse - so wie sie jetzt strukturiert ist -, niemals die Abkommen von San Andrés erfüllen oder ein Gesetz verabschieden würde, das den Interessen und Bedürfnissen aller Mexikaner - inklusive der Indígenas - entspräche. Sie haben erkannt, daß es nötig ist, das Land zu verändern, eine andere Form der Politik zu finden und eine neue Verfassung zu erarbeiten. Dies ist genau der Vorschlag der "Anderen Kampagne", die zur Zeit die Zapatistas nach vorne treiben.
F: Im Juli sind Präsidentschaftswahlen in Mexiko. Was ist im Hinblick auf die Rechte der Indígenas von den drei Präsidentschaftskandidaten Madrazo (Exstaatspartei PRI), López Obrador (sozialdemokratische PRD) und Calderón Hinojosa (konservativ-neoliberale PAN) zu halten?
Es ist leider erwiesen, daß die drei Staatsgewalten und die Parteien kein Interesse an den Abkommen von San Andrés haben. Denn damit würden sie die indigenen Bevölkerungsgruppen als kollektive Subjekte öffentlichen Rechts anerkennen und so stärken. Daher richtet sich die Politik der Indígenas auch nicht mehr an die Parteien oder den Kongreß, sondern an die ausgegrenzte Bevölkerung, um diese davon zu überzeugen, von unten etwas aufzubauen.
Interview: Luz Kerkeling
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