Jungle World Nummer 7 vom 15. Februar 2006

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Nicht die neuen Regierungen, sondern die Basisbewegungen verändern die lateinamerikanischen Gesellschaften. Manchmal, wie in Mexiko, braucht es dafür nicht mal einen linken Wahlsieger. von miriam lang

Es ist durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, dass Michelle Bachelet in Chile oder Evo Morales in Bolivien einen nennenswerten Teil der immensen Hoffnungen, die viele Menschen in sie setzen, nicht erfüllen werden. Eine solche Enttäuschung ist in Brasilien über Luiz Inácio Lula da Silva und in Uruguay über Tabaré Vázquez bereits zu spüren. Machtpositionen und die Eigendynamik von Institutionen verändern bekanntlich Individuen, und das System der repräsentativen Demokratie trägt dafür Sorge, dass die Regierenden sich von ihrer Basis entfernen. Diese Erfahrung haben wir in Westeuropa mit so manchem linksalternativen Politiker bereits gemacht, für Lateinamerika ist sie noch weitgehend neu.

Dennoch bedeuten die Wahlsiege von Morales und Bachelet Umbrüche in der Geschichte des Kontinents. Da wird in einem Land, in dem die katholische Kirche in ihrer reaktionärsten Variante noch immer so mächtig ist, dass bis zum vergangenen Jahr Ehescheidungen gesetzlich verboten waren, eine Frau Ministerpräsidentin, noch dazu eine allein erziehende Mutter, die nicht religiös ist. Und im Nachbarland Bolivien, wo seit Jahrhunderten ein allgegenwärtiger Rassismus die Gesellschaft bestimmt und ordnet, wo Bildung, Eigentum, politische Ämter und soziale Aufstiegsmöglichkeiten ebenso von der Hautfarbe abhängig waren wie Würde und Anerkennung, wird ein Vertreter der Indígenas, der ausgegrenzten Mehrheit, Präsident. In Chile und Bolivien ist das traditionell Undenkbare nun möglich geworden: Eine Frau und ein Indígena repräsentieren nun diese Gesellschaften. Wenn wir Rassismus und Sexismus als Formen der Unterdrückung ebenso ernst nehmen wie die Frage der Eigentumsverhältnisse, dann sind diese Wahlsiege von großer Bedeutung. Nicht wegen dem, was nun kommen mag, sondern wegen dem, was bereits geschehen ist: eine deutliche Verschiebung der symbolischen Machtverhältnisse, die sich jedoch nicht auf die symbolischen Ebene beschränkt, sondern auch auf den Alltag jener Gesellschaften unzählige, sehr konkrete Auswirkungen hat. Diese Verschiebung wurde nicht einfach per Wahlzettel beschlossen, sondern von sozialen Bewegungen erkämpft, die auf dem gesamten Kontinent existieren. Eine ganz andere Frage ist, in welche Richtung sich die linken oder linksliberalen Regierungen entwickeln. Auf jeden Fall wird die Konstellation in Südamerika auf der geopolitischen Ebene immer interessanter. Es zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass ein Block aus dem Süden der geopolitischen Hegemonie der USA größeren Widerstand entgegensetzen könnte. Allerdings könnte die Politik der linken oder linksliberalen Regierungen des Subkontinents in zwei Richtungen deformiert werden: zum einen durch den Druck der internationalen Finanzinstitutionen, was auf eine leicht abgemilderte neoliberale Politik wie in Brasilien hinauslaufen würde, zum anderen durch eine übermäßige Zentralisierung und Uniformisierung der politischen Prozesse, wie sie in Kuba stattgefunden hat.

Transnationale Ökonomien und die schrittweise Transnationalisierung politischer und auch juristischer Prozesse erfordern längst linke Analysen und Strategien, die über den Horizont der Metropolen hinausblicken. Nicht nur, aber eben auch nach Lateinamerika. Allerdings sind die linken Bewegungen dort heutzutage nicht unbedingt alle auf europäische Solidarität angewiesen ^Ö vielleicht ist sogar eher das Gegenteil der Fall. Es wäre auch falsch, wenn die an Bolivien oder Venezuela Interessierten den Fehler wiederholen würden, den manche Kuba-Solidaritätsgruppen machen, indem sie die Solidarität mit der Regierung Fidel Castros als Solidarität mit der kubanischen Gesellschaft deklarieren. Die Interessen einer Regierung, und mag sie noch so links sein, und die Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen fallen niemals vollkommen in eins. Der Kampf um die Hegemonie geht weiter, und auch in diesem Kontext müssen Basisbewegungen gestärkt werden, damit sie so viel Einfluss wie möglich auf die gewählten RepräsentantInnen nehmen können. In Bolivien beispielsweise macht sich der radikalere Teil der sozialen Bewegungen, die durch ihre jahrelangen Kämpfe einen ganz erheblichen Anteil an den beschriebenen symbolischen Verschiebungen hatten und Evo Morales an die Regierung gebracht haben, wenig Illusionen. Gleich zu Anfang hat unter anderem der Gewerkschaftsdachverband COB dem neuen Präsidenten ein Ultimatum gestellt: Wenn er nicht innerhalb von drei Monaten die Erdgasreserven wieder verstaatliche, werde man ihn genauso verjagen wie seine Vorgänger. Noch weiter reicht die Strategie, die die mexikanischen ZapatistInnen neuerdings verfolgen. Sie firmiert unter dem Namen "andere Kampagne", macht wesentlich weniger Schlagzeilen als ein Wahlsieg und wird dementsprechend hierzulande kaum zur Kenntnis genommen. Bisher zielt sie auf eine Vernetzung mexikanischer Basisbewegungen untereinander, unter der Bedingung, dass sie sich als links und antikapitalistisch verstehen. Während die Präsidentschaftskandidaten der drei großen Parteien Pri, Pan und PRD auf Wahlkampftournee sind, tourt auch Subcomandante Marcos durchs Land und besucht einen Bundesstaat nach dem anderen. Aber er kandidiert nicht für die Präsidentschaftswahlen im Juli, sondern warnt die Linke im Gegenteil eindringlich davor, eine gesellschaftliche Veränderung von oben zu erhoffen, und kritisiert das Parteiensystem in seiner Gesamtheit. Seine harschen Angriffe auf die linksliberale PRD haben ihm den Vorwurf eingebracht, die Linke spalten zu wollen. Seit vergangenem Sommer schmiedet der EZLN an einem, pluralistischen, horizontal strukturierten Bündnis aller antineoliberalen und aus dem hegemonialen Projekt ausgegrenzten Kräfte. Parteimitglieder müssen draußen bleiben, dafür sind Jugendbanden, Indígenas, Künstlergruppen, Feministinnen, Transsexuelle, Prostituierte, politische Gefangene, StraßenhändlerInnen, unabhängige Gewerkschaften und marxistisch-leninistische Gruppen beteiligt. Wo die Reise hingehen soll, weiß niemand ^Ö es handelt sich ja gerade um einen kollektiven Versuch für eine neue Politik. Diesmal ist das Experiment aber nicht regional begrenzt, wie beim Aufbau der zapatistischen Autonomieregierungen in Chiapas, sondern auf das ganze Land ausgedehnt. Ständige Rundreisen sollen die notwendigen Strukturen schaffen und für Kontinuität sorgen. Zunächst ist Marcos dran, als Vorhut, Wegbereiter oder "Delegierter Null". Dann soll ab September eine Delegation aus zivilen KommandantInnen des EZLN im Verbund mit anderen VertreterInnen aus dem breiten Bündnis eine weitere Tournee unternehmen. Diese wiederum soll im Frühjahr kommenden Jahres personell ausgewechselt werden usw.

Inhaltlich geht es bisher vor allem um die Verbreitung bestimmter politischer Prinzipien: den Respekt vor dem oder der Anderen und vor Minderheitsmeinungen, Diversität und Pluralität als programmatischer Charakter der Bewegung, die stets kollektive Verteidigung Einzelner gegenüber staatlichen Repressionsversuchen, die Überwindung von Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie, die (auch) in der mexikanischen Linken noch zum kulturellen Allgemeingut gehören. Und eben um die Abwendung von der parlamentarischen Demokratie, die sich in Mexiko als systematischer Klientelismus zeigt.

Der EZLN will nur ein Bündnispartner unter vielen sein. Er will aber, wie er beteuert, sein moralisches Prestige zur Verfügung stellen, das er sich in den vergangenen zwölf Jahren erworben hat. Das bringt zwar gewisse Widersprüche in Sachen Horizontalität mit sich, macht aber auch den Unterschied in Sachen gesellschaftliche Resonanz aus. Wenn die "andere Kampagne" in Mexiko wegen ihres dezentralen Designs auch nicht dieselbe große Aufmerksamkeit erregt wie die Reise der EZLN-KommandantInnen in die Hauptstadt im Frühjahr 2001, so wird sie doch von den Medien und der Regierung genau verfolgt und kommentiert. In den Städten und auch kleinen Dörfern, die Marcos auf Einladung örtlicher linker Gruppen besucht, kommen hunderte, manchmal auch tausende Menschen zusammen, um den diesmal unbewaffnet und allein reisenden Guerillasprecher zu treffen. Eine Massenmobilisierung steht in dieser Phase nicht auf dem Programm, es geht darum, sich kennen zu lernen, um eine Bestandsaufnahme der Konflikte und linken Kräfte im Land und um einen Frontalangriff auf die traditionelle politische Kultur des Landes.

Am Ende soll die Ausarbeitung einer neuen Verfassung für Mexiko stehen ^Ö ob dabei die venezolanische Verfassung Modell steht, die für die dortigen Basisbewegungen eines der wichtigsten emanzipatorischen Instrumente in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden ist, war bisher nicht zu erfahren. Die gründliche Veränderung der mexikanischen Gesellschaft von "unten links" ist jedenfalls kein Ziel, das in eine ferne Zukunft gelegt würde. In dieser Kampagne gegen die traditionelle politische Kultur Mexikos findet sie bereits statt. Marcos nutzt beispielsweise seine Popularität, um Leuten auf der Bühne das Mikrofon zu übergeben, die so marginalisiert sind, dass ihnen ansonsten selbst Anhänger des EZLN kaum zuhören würden.

Die Einladung zur feierlichen Amtseinführung von Evo Morales schlug der EZLN aus. "Wenn wir sagen, wir wenden uns nicht Lateinamerika und auch nicht Bolivien zu, dann sagen wir deutlich: Wir schauen überhaupt nirgends nach oben, sondern immer nach unten, und deshalb sind wir hier und nicht bei der Amtseinführung eines Präsidenten." Es geht darum, konsequent zu sein in der Zerstörung der in Mexiko allzu lange geschürten Hoffnung, man müsse einem Politiker gegenüber nur loyal genug sein, dann werde dieser einen schon mit Wohlstand und Gerechtigkeit belohnen. Die Botschaft der ZapatistInnen lautet: Wir versprechen euch nichts, außer dass wir für unsere GenossInnen einstehen werden. Was wir nicht gemeinsam erkämpfen und entstehen lassen, werden wir auch nicht bekommen. Eine Botschaft, die auch andere linke Bewegungen auf dem Kontinent vor Enttäuschungen schützen kann.




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