Linkes Lateinamerika?
Das Verhältnis von sozialen Bewegungen und politischen Eliten ist von
Spaltungen geprägt.
Kein Modell, aber ein wichtiger Bezugspunkt für die globalen sozialen
Bewegungen könne sie sein, die Bolivarianische Revolution. Das meint der
venezolanische Botschafter in Wien, Gustavo Márquez Marín in einem
Interview, und spricht damit aus, was viele AktivistInnen denken. Der
Amtsantritt von Venezuelas Präsidenten Hugo Chavéz 1999 hat die politische
Landschaft nicht nur in Lateinamerika verändert. Das von ihm gestützte und
nach dem Befreier Simón Bolivar (1783-1830) benannte Projekt der
gesellschaftlichen Umgestaltung ist für rechte KommentatorInnen nichts als
Populismus. Dabei ist es gerade die Ermutigung zur Selbstorganisation, die
den Bolivarianischen Prozess auszeichnet. Schon vor der Verabschiedung der
neuen Verfassung war die Bevölkerung zur Mitsprache aufgerufen, seitdem ist
ihre „protagonistische“ Rolle festgeschrieben und eine „partizipative
Demokratie“ installiert. Viele Basisgruppen – alternative Medien, linke
Gewerkschaften, Stadtteilorganisationen, Vereinigungen von Indigenen etc. –
beziehen sich positiv auf den vom Präsidenten geschützten Prozess. Trotz
ihrer Beliebtheit bei kommunistischen Kleinstparteien in Westeuropa ist das
entscheidende an der Bolivarianischen Revolution aber weder die
avantgardistische Führung noch die Partei: Es sind die Basisbewegungen, die
den Prozess ausmachen und ihn tragen.
So ist es eigentlich überall. Und doch wieder nicht. Trotz der enormen
sozialstrukturellen und kulturellen Unterschiede zwischen den Gesellschaften
Lateinamerikas ist seit Mitte der 1990er Jahre fast überall das Aufkommen
sozialer Bewegungen zu beobachten. Der mit dem Aufstand der Zapatistas in
Chiapas/Mexiko 1994 ausgelöste Bewegungszyklus zeichnet sich vor allem durch
seine Gegnerschaft zum ökonomischen und soziokulturellen Programm des
Neoliberalismus aus. Die neuen linken Regierungen, in die Ämter gehievt mit
Unterstützung der Bewegungen, verursachen aber Spaltungen – zwischen sich
und den Bewegungen sowie innerhalb dieser.
México
Der Kampf gegen eine korrupte herrschende Klasse, die das neoliberale Modell
vertrat, war sowohl Ansatzpunkt der zapatistischen Guerilla wie auch des
Bolivarianischen Projekts. Trägerschichten und Kampfformen allerdings
unterscheiden sich: Wird der zapatistische Aufstand vor allem von indigenen
Bevölkerungsgruppen getragen und von einer Guerilla angeführt, sind es in
Venezuela die städtischen Unterschichten, die sich in Basiskomitees
mobilisieren. Während die venezolanische Bewegung, bekämpft von den
mächtigen privaten Medien und der rechten Opposition, ihre Macht seit Jahren
staatlich absichert, setzt der zapatistische Prozess auf die Organisation
autonomer Landkreise und basisdemokratische Dauermobilisierung. Auch
gegenüber dem aussichtsreichen Kandidaten der sozialdemokratischen PRD,
Andrés Manuel López Obrador, bleiben die Zapatistas auf deutlicher Distanz.
Schon im August 2004 hatte López Obrador sein „alternatives nationales
Projekt“ vorgestellt und an die „Kraft sozialer, gewerkschaftlicher und
studentischer Bewegungen“ appelliert, die er zum Besten der mexikanischen
Geschichte zählte. Auch mit seiner Absage daran, das Militär für soziale
Konflikte einzusetzen, unterscheidet er sich von sämtlichen mexikanischen
Präsidenten. Die EZLN hat ihren AnhängerInnen die Wahl von López Obrador
freigestellt, mit ihrer „Anderen Kampagne“ aber klar auf libertäre
Selbstorganisation gesetzt statt auf die Eroberung der Staatsmacht. Auch
wenn seine Basis zum großen Teil aus Indigenen besteht, ist der
zapatistische Kampf kein Indígena-Aufstand. Zwar bekämpfen die Zapatistas
die Ausgrenzung der als indigen Klassifizierten, von denen in Mexiko mit 10
bis 15 Millionen Menschen die meisten in ganz Lateinamerika leben. Ihre
Zielgruppe sind aber alle parteiunabhängigen und zivilgesellschaftlichen
Gruppen.
Bolivia
Während der Anteil indigener Bevölkerungsgruppen an der Gesamtbevölkerung in
Venezuela nur bei 2 % und in Mexiko bei 10-15 % liegt, machen Indigene in
Bolivien rund 70 % der Bevölkerung aus. Der ehemalige Gewerkschafter Evo
Morales gewann als erster indigener Kandidat im Dezember 2005 die
Präsidentschaftswahl. Mit der Parlamentsmehrheit für die „Bewegung zum
Sozialismus“ (MAS), die hauptsächlich aus Angehörigen der größten ethnischen
Gruppe der Quechua besteht, bekam die institutionelle Vorherrschaft der
Weißen Oligarchie erstmal entscheidende Risse. Dem solle nun nicht die
indigene Hegemonie folgen, sondern die Verknüpfung von „Poncho und
Krawatte“, wie Vizepräsident Alvaro García Linera betont. Mag diese Metapher
Großgrundbesitzer, ausländische Investoren und weißes Establish¬ment
beruhigen, kündigt sie doch gleichzeitig einen wichtigen Ausschluss an. So
kritisiert Maria Galindo von der Frauenorganisation „Mujeres Creando“
grundsätzlich die „Banalisierung der Präsenz von Frauen“ innerhalb der
Linken. Nicht nur in Morales’ Wahlkampf und Partei spielten Frauen eine
marginale Rolle. Selbst von den indigenen Frauenorganisationen und
akademischen „Gender-Technokratinnen“ sei nicht viel zu erwarten: Auch sie
nähmen Frauen, so Galindo, nur als Mütter oder „Partnerinnen von“ wahr, und
nicht als politische Subjekte. Auch aus der Rippe von Evo wird keine Eva
entstehen, bilanziert sie.
Brasil
Noch ungleicher verteilt als in Mexiko und Bolivien ist das Land in
Brasilien. Mitte der 1990er Jahre besaßen 1 % der Bevölkerung 43 % des
Landes. Ein großer Teil dieses Privatbesitzes wird zur Viehzucht genutzt
oder liegt brach. Nur 6% der landwirtschaftlichen Nutzfläche werden von
Kleinbetrieben genutzt. Vor diesem Hintergrund formierte sich die wohl
bekannteste Landlosenbewegung der Welt, der MST (Movimento Sem Terra). Die
Landbesetzungen des MST haben bereits über 300000 Familien, ehemaligen
Kleinbauern und TagelöhnerInnen, zu einer Lebensgrundlage verhelfen können.
Der MST gehörte auch zu den UnterstützerInnen des Kandidaten der
Arbeiterpartei (PT), Ignacio „Lula“ da Silva. Da aber auch er in der
Wirtschaftspolitik nicht die erhoffte Abkehr vom neoliberalen Modell
vollzog, wächst der Unmut nicht nur in den Reihen des MST. Spätestens nach
dem Parteiausschluss von drei linken PT-Parlamentariern, die sich 2004 gegen
die Kürzung der Renten ausgesprochen hatten, zeigt sich auch die PT-Basis
enttäuscht und gespalten. Hinsichtlich der Bemühungen, gegen den Pakt mit
den neoliberalen Eliten eine wirkliche Linkswende in der Regierungspolitik
zu vollziehen, zieht Jorge Martin vom gewerkschaftlichen Dachverband CUT
(Central Unica dos Trabalhadores) eine niederschmetternde Bilanz: „Wir haben
jede Schlacht verloren“.
Argentina
Die Spaltung der Bewegungen für einen radikalen politischen und sozialen
Wandel vollzog sich auch in Argentinien nach Amtsantritt des
Linkskeynesianisten Nestor Kirchner im Mai 2003. Nach dem Zusammenbruch der
Ökonomie im Dezember 2001 hatten sich zunächst breite Bündnisse zwischen
verarmter Mittelschicht und sozialen Bewegungen ärmerer Schichten ergeben:
Neben den Straßenblockaden der organisierten Arbeitslosen, Piqueter@s
genannt, sorgten Nachbarschaftsversammlungen, Tauschbörsen und besetzte,
selbstverwaltete Fabriken auch international für einige Aufmerksamkeit.
Gegenüber den Piqueter@s gelang es dem neuen Präsidenten jedoch, eine
Politik des „teile und herrsche“ zu installieren: Die Einbindung moderater
Teile der Bewegung in ein minimales Finanzierungsprogramm isolierte die
radikaleren Kräfte. Maßnahmen wie die Annullierung des Amnestiegesetzes für
ehemalige Akteure der Militärdiktatur sicherten Kirchner zudem eine breite
Akzeptanz in der Bevölkerung. An der sozialen Ungleichheit hat allerdings
auch Kirchner bislang nicht viel ändern können. Angesichts dessen sieht
US-Soziologe James Petras die sozialen Bewegungen ohne Anbindung zur
Mittelschicht in einer desolaten Verfassung, während die Berliner
Lateinamerikanistin Martina Blank eine Verlagerung der diversen Aktivitäten
sozialer Bewegungen auf „sehr konkrete Sozialprojekte in ihren alltäglichen
Lebensrealitäten“ betont.
Autonomie – Repräsentation – Revolution
Wenn diese Strategie vielen auch als Rückzug aus der öffentlichen Sphäre
erscheint, so scheint doch die – vielfältig ausgestaltete – Idee der
Autonomie wieder neue Schlagkraft für soziale Bewegungen zu gewinnen. Zwar
droht die Autonomie-Forderung immer, an neoliberale Konzepte der
„Eigenverantwortung“ anschlussfähig zu sein, mit denen der erweiterte Staat
seinen Rückzug aus Verantwortlichkeiten (für die Umsetzung sozialer
Gleichheit und die Abschaffung von Diskriminierungen) zu legitimieren weiß.
Dennoch ist nicht zu unterschätzen, was Jaime Leroux in der linksradikalen
mexikanischen Zeitschrift „La Guillotina“ im Hinblick auf das zapatistische
Projekt betont: Der Kampf um Autonomie ist immer auch einer „gegen die
Konzentration der Prozesse von Machtproduktion und Normenerschaffung“ und
für eine Dezentralisierung öffentlicher Entscheidungen.
Dass der Anteil von Frauen in Entscheidungspositionen innerhalb der EZLN (30
bis 40 %) und auch unter den Piqueter@s relativ hoch ist, kann nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die ungleichen Repräsentationen nicht erst mit der
Ergreifung der Staatsmacht beginnen. Dennoch bieten soziale Bewegungen
einerseits durch ihre Basisorientierung strukturell die beste Möglichkeit,
die Differenzen auszugleichen. Andererseits stellen sie nach außen die
entscheidenden Kräfte, um gegen neoliberale Großprojekte wie die geplante
gesamtamerikanische Freihandelszone zu mobilisieren. Für das Ur-Dilemma
emanzipatorischer sozialer Bewegungen, angesichts einer starken Rechten
gemeinsam mit – dann schon nicht mehr ganz so – linken AmtsträgerInnen zu
kämpfen oder gegen sie, gibt es aber auch im gegenwärtigen Lateinamerika
keine einfachen Auswege.
Der Schriftsteller und Alt-68er Tariq Ali beurteilte kürzlich in einem
Interview den von John Holloway geprägten Slogan „Die Welt erobern, ohne die
Macht zu übernehmen“ als falsch und „immer schon dumm“. Das bolivarianische
Projekt habe ihn widerlegt. Ausgeblendet wird bei dieser Einschätzung
allerdings, dass nur der Druck sozialer Bewegungen dafür Sorge trägt, dass
Botschafter wie der eingangs zitierte Márquez Marín mit Recht solche Sachen
sagen kann wie: „Ich bin ein Revolutionär und werde es bleiben.“
Jens Kastner
ist Herausgeber (mit Olaf Kaltmeiner und Elisabeth Tuider) des Bandes
“Neoliberalismus – Autonomie – Widerstand. Soziale Bewegungen in
Lateinamerika”, Verlag Westfälisches Dampfboot (2004)
online seit 09.02.2006 10:58:41 (Printausgabe 30)
autorIn und feedback : Jens Petz Kastner
Verein zur Förderung medialer Vielfalt und Qualität, Postfach 239, A-1181
Wien
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