Junge Welt vom 02.11.2005
Diego Cevallos (IPS), Mexiko-Stadt
ZWEIERLEI MASS
Mexiko nach den Hurrikans »Stan« und »Wilma«: Cancún wird aufgeräumt,
in Chiapas bewegt sich nichts
In Cancún und anderen Urlaubszentren der mexikanischen Maya-Riviera
ist das staatliche Bemühen, die vom Wirbelsturm »Wilma« angerichteten
Verwüstungen zu beseitigen, unübersehbar. Schließlich steht die
touristische Weihnachtssaison bevor. Im Bundesstaat Chiapas mit
seiner überwiegend indigenen Bevölkerung dagegen sind seit Oktober
mehr als 80000 Menschen in Notunterkünften untergebracht, nachdem
Hurrikan »Stan« ihre Dörfer zerstört hat. »Es zeigt sich, daß das
Tourismusgeschäft und die Bevölkerung des ärmsten Bundesstaates ganz
unterschiedlich behandelt werden«, klagte vor kurzem Noe Pineda,
Sprecher des in Chiapas ansässigen Menschenrechtszentrums »Fray
Bartolomé des las Casas«.
Wilma, den Meteorologen als den bislang stärksten atlantischen
Wirbelsturm bezeichnen, hatte zwischen dem 21. und 23. Oktober auf
der Halbinsel Yucatán, an Mexikos südöstlicher Karibikküste, der
sogenannten Maya-Riviera, gewütet und in Cancún, Cozumel, Playa del
Carmen und anderen weltbekannten Urlaubsorten schwere Schäden
angerichtet. Hunderte Hotels waren betroffen, ganze Strände
versanken, und viele tausend Menschen, die vom Tourismus leben,
verloren ihre gesamte Habe.
Mehr als elf Millionen Besucher machen alljährlich auf Yucatán Urlaub
und lassen vier Milliarden US-Dollar zurück, mehr als ein Drittel der
Einnahmen, die der gesamte mexikanische Tourismus einbringt. Die
Regierung sagte Cancún und den benachbarten Urlaubsorten jede nur
erdenkliche Hilfe zu. Damit das Tourismusgeschäft so schnell wie
möglich wieder in Gang kommt, ist eine weltweite Werbekampagne
geplant, zu der auch ein Golfturnier gehört.
Ganz anders steht es im armen Chiapas um die Aussichten auf
Beseitigung der von Hurrikan Stan angerichteten Verwüstungen. Hier
waren Anfang Oktober Dutzende überwiegend von Indigenen bewohnte
Dörfer zerstört worden. Für die mexikanische Wirtschaft sind die von
den Einheimischen angebauten Produkte wie Mais, Kaffee und Bohnen
weit weniger wichtig als der Tourismus.
Während in Cancún nur noch wenige Menschen provisorisch untergebracht
sind, harren in Chiapas immer noch mehr als 80000 Menschen in
Notunterkünften aus. Sie berichteten den Vertretern lokaler Medien
und Helfern des Fray-Bartolomé-Menschenrechtszentrums, sie müßten auf
Pappe schlafen und würden nicht ausreichend mit Lebensmitteln und
Wasser versorgt. In Chiapas sind auch zahlreiche Straßen,
Eisenbahnstrecken und Brücken weiterhin unpassierbar.
Senator Arely Madrid von der oppositionellen Partei der
Institutionalisierten Revolution (PRI) klagte, die Regierung habe in
ihrem Eifer, Cancún zu helfen, Chiapas vergessen. Präsident Vicente
Fox wies diesen Vorwurf zurück. Er versicherte vor wenigen Tagen,
beiden Regionen würde gleichermaßen geholfen. Pineda betonte, die
bevorzugte Behandlung von Cancún zeige sich auch daran, daß »die
Regierung angekündigt hat, sich bei der Weltbank und der
Interamerikanischen Entwicklungsbank (IaDB) um zusätzliche
finanzielle Hilfe für die Region« zu bemühen. »Hier wird
ausländisches Geld angeboten, Chiapas hingegen hat von
Staatspräsident Fox gehört, es solle sich selbst um Kredite für den
Wiederaufbau kümmern«, kritisierte der Aktivist.
Hurrikan Stan hat in Chiapas und im Westen des Nachbarlandes
Guatemala am schlimmsten gewütet. In Chiapas kamen dabei zehn
Menschen ums Leben. In Guatemala wurden 669 Todesopfer registriert.
884 Menschen werden noch vermißt. Die meisten Opfer sind Ureinwohner.
Überschwemmungen und Regenfluten lösten Erdrutsche aus, in denen
Hunderte Menschen starben. Straßen, Brücken, Telefon- und
Stromleitungen wurden zerstört. In Chiapas werden die
wirtschaftlichen Schäden der Sturmkatastrophe auf 1,8 Milliarden
Dollar geschätzt, in Guatemala auf eine Milliarde Dollar. In Cancún
und Umgebung forderte Hurrikan Wilma sieben Menschenleben.
Versicherungsunternehmen rechnen damit, daß sie Hotelbesitzer und
andere Tourismuseinrichtungen mit mehr als zwei Milliarden Dollar
entschädigen müssen. »In Chiapas wird es noch Jahre dauern, bis wir
die Schäden beseitigt haben, die Stan angerichtet hat«, meinte
Pineda. »In Cancún dagegen wird der Wiederaufbau schnell
abgeschlossen sein. Bald können die Touristen zurückkommen.«
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