26.09.2005
junge Welt * Thema
Zapatisten starten historisches Experiment
EZLN baut außerparlamentarisches Linksbündnis auf. Rund 800 soziale Organisationen aus ganz Mexiko beteiligen sich bisher. Delegationsreisen angekündigt. Absage an alle Parteien
Das Projekt einer landesweiten antikapitalistischen Allianz, das die Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) in ihrer »Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald« im Juni vorgeschlagen hatte, nimmt erste Formen an. An sechs Wochenenden ab Anfang August diskutierte die »Sechste Kommission« der EZLN mit verschiedenen Bevölkerungssektoren Text und Ausrichtung der Erklärung sowie die weitere gemeinsame Vorgehensweise. In Anspielung auf die in einem Jahr stattfindenden Präsidentschaftswahlen nennt die EZLN diesen Prozeß »Die Andere Kampagne«. Vom 16. bis 18. September diskutierten über 2000 Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Mexiko in der autonomen Gemeinde La Garrucha die ersten Schritte, um diese komplexe Aufgabe in Angriff zu nehmen (siehe jW vom 24./25.9.). Mit Unterstützung von 773 sozialen Organisationen wurde die »Sechste Deklaration« im Plenum symbolisch der Öffentlichkeit übergeben. Die unterzeichnenden Gruppen, darunter Frauen-, Indígena-, Gewerkschafts-, Stadtteil- und Umweltorganisationen, wollen in den nächsten Wochen und Monaten eine Informationsoffensive über »Die Andere Kampagne« auf den Weg bringen.
Zapatisten »verlassen« Chiapas
Gleichzeitig gab EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos bekannt, daß eine Delegation der EZLN, an der er selbst teilnimmt, ab dem 1. Januar 2006 bis zum 25. Juni 2006 als »Vorhut« eine Rundreise durch alle 32 mexikanischen Bundesstaaten durchführen wird, um die verschiedenen Kämpfe näher kennenzulernen und zu vernetzen. Eine zweite Rundreise soll von September 2006 bis März 2007 den konkreten Aufbau autonomer Strukturen in ganz Mexiko vorantreiben. Marcos unterstrich, daß die EZLN dabei keinerlei Führungsanspruch anstrebe und er auch nicht als Sprecher dieser Union zur Verfügung stehe.1
Guerillakommandeur Moisés betonte bei der Versammlung vom 17. September, daß es nicht um die Propagierung des bewaffneten Kampfes gehe: »Unser Aufbruch ist politisch und pazifistisch (...) Es ist an der Zeit, daß die Armen Mexikos gemeinsam ¡Ya Basta! rufen.«
Die Regierung unter Ex-Coca-Cola-Manager Vicente Fox von der konservativ-neoliberalen Partei der Nationalen Aktion (PAN) hat den Zapatisten freies Geleit für ihre Reise zugesagt – ob der großen Sympathien für die Rebellen bleibt ihm auch kaum etwas anderes übrig, will er eine Eskalation verhindern.
Der Präsident bemüht sich noch immer, ein liberales und demokratisches Image aufrechtzuerhalten, um Investoren für seine »Entwicklungsprogramme« wie den umstrittenen Plan Puebla-Panamá zu gewinnen, der wegen seiner Mega-Projekte wie Staudämme und der Ansiedlung von Billiglohnfabriken ohne jeden Zweifel schwere soziale und ökologische Krisen nach sich ziehen wird. Der »Wachstum« herbeischwafelnde Diskurs der PAN ist irreführend und führt das seit 1982 vorherrschende neoliberale Dogma der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI), die Mexiko 71 Jahre beherrschte, weiter. Selbst in einer systemimmanenten Betrachtungsweise stellt das »Entwicklungsmodell« von PAN und PRI aufgrund der wachsenden Weltmarktkonkurrenz aus China und anderen Teilen Asiens ohnehin nur ein Strohfeuer dar, zumal die Produktion in den Weltmarktfabriken außer den geringen Löhnen keinerlei Profit für die mexikanische Volkswirtschaft hinterläßt.
Menschenrechtsorganisationen stellen der jetzigen Regierung überdies ein außerordentlich schlechtes Zeugnis aus: »Die mexikanische Regierung hat zwar außenpolitisch den Eindruck vermittelt, daß Menschenrechte für sie von entscheidender Bedeutung seien, jedoch stehen diesen innenpolitisch nur geringe Anstrengungen gegenüber, Menschenrechte als durchgreifende Staatspolitik durchzusetzen«, so die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko in ihrem aktuellen Bericht.
Hintergrund
Die EZLN, die Anfang 1994 einen zwölftägigen bewaffneten Aufstand gegen Ausbeutung, Rassismus und neoliberale Wirtschaftspolitik im südmexikanischen Chiapas organisiert hatte, kämpft seitdem vor allem mit Worten und Mobilisierungen. Sie konnte trotz starker Repression in ihrer indigenen Herkunftsregion gegen den Willen der Regierung den Aufbau autonomer Strukturen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wirtschaft und Verwaltung durchsetzen und schuf im August 2003 mit den Juntas der Guten Regierung eine autonome Räteselbstverwaltung, die wegen ihrer basisdemokratischen Funktionsweise und Transparenz auch außerhalb der Bewegung große Akzeptanz findet. Die Zapatisten setzen so die Abkommen von San Andrés über indigene Autonomie de facto um, die EZLN und Regierung am 16. Februar 1996 unterzeichnet hatten, welche aber von der Regierung, der gesamten politischen Klasse und dem Obersten Gerichtshof nie in gültiges Recht umgewandelt worden sind.
Spätestens seit diesem Verrat hat die EZLN die letzten Kontakte zur Parteienlandschaft, auch zur sozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD), abgebrochen.
Antikapitalismus
Die Zapatisten treten mit ihrer aktuellen Initiative in eine neue historische Phase ihres Kampfes ein. Sie wollen in Abstimmung mit anderen Bewegungen und Kollektiven die mexikanische Gesellschaft von unten radikal verändern. Die »Sechste Deklaration« bezieht dabei einen klaren Klassenstandpunkt. Es gehe eben nicht darum, »die Probleme unserer Nation von oben zu lösen, sondern von unten und für unten eine Alternative zur neoliberalen Zerstörung zu errichten, eine linke Alternative«.2
In einer Stellungnahme vom 30. August betonte Subcomandante Marcos das Verständnis der EZLN von Antikapitalismus: »Wenn eine antikapitalistische Bewegung nicht danach strebt, alles zu verändern, nicht nur die Beziehungen zwischen Eigentum und Produktion, dann hat sie keinen Sinn, und wir werden nur die alten Ungerechtigkeiten wiederholen, aber mit einem neuen Alibi. Wenn die Veränderung, die wir anstreben, nicht auch die radikale Veränderung der Geschlechterrollen zwischen Männern und Frauen mit einschließt, die Überbrückung der Generationslücke zwischen ›Erwachsenen‹ und Jugendlichen, die Koexistenz zwischen Heterosexuellen und ›Allen-auf-ihre-Weise‹, dann wird diese Veränderung nur als eine weitere Karikatur unter den vielen enden, die das Buch der Geschichte so zahlreich anfüllen.«
Chancen
Die EZLN sei momentan die einzige Organisation der unabhängigen Linken Mexikos, die die moralische und politische Autorität besitze, ein derart breites Bündnis zu realisieren (La Jornada, 9.9.2005). Mit dieser Einschätzung steht der Anthropologe Gilberto López y Rivas, ein ausgewiesener Kenner der Indígena-Bewegung, keineswegs allein. Die EZLN bemüht sich dabei, ihren vielzitierten Idealen des Mandar obedeciendo (»gehorchend befehlen«, d. h. konsequent den Willen der Basis umsetzen) und des Preguntando caminamos (»fragend gehen wir voran«, d. h. nicht in Dogmen zu verfallen) zu folgen.
Bei der »Sechsten Deklaration« handelt es sich um den vierten Versuch, in Mexiko eine landesweite Linksallianz aufzubauen. Der Soziologe Onésimo Hidalgo vom politisch-ökonomischen Forschungszentrum CIEPAC aus Chiapas erläuterte im Interview die Unterschiede zu den vorherigen Initiativen von 1994 bis 1997, die nicht zuletzt aufgrund von Arroganz und Sektiererei unter den linken Akteuren selbst scheiterten: »Das wichtigste ist, daß sich die EZLN in ›Die Andere Kampagne‹ selbst aktiv einbringt. Zuvor hatte sie Vorschläge gemacht und Initiativen skizziert. Die ›Andere Kampagne‹ ist eine völlig andere Sache als der Nationale Demokratische Konvent oder die Zapatistische Front FZLN. Es geht darum, vielfältige Kräfte zu binden und eine Alternative aufzubauen, dafür zu sorgen, daß die Regierung den Willen der Bevölkerung erfüllt. Hier können sich alle Bevölkerungsgruppen einbringen. Die Teilnahme an Wahlen wird rundweg abgelehnt. Es geht darum, einen Zug zu bauen, der an vielen Stationen hält, an denen alle ein- und aussteigen können – mit einem einzigen Zweck: gegen den Kapitalismus zu kämpfen und eine Alternative aufzubauen. Dieser Zug kennt keine Rückfahrt. Es geht um eine neue Art, Politik zu machen, außerhalb des Parteisystems.«
Der Politikwissenschaftler Ricardo Martínez von der Nationalen Autonomen Universität UNAM aus Mexiko-Stadt faßt die Diskussion während der Ersten Vollversammlung der »Anderen Kampagne« vom 16. bis 18. September so zusammen: »Es wurde sich für eine neue Verfassung ausgesprochen. Dabei soll der Respekt gegenüber den verschiedenen Denk- und Handlungsweisen gewahrt bleiben. Die elf elementaren Forderungen der EZLN (Arbeit, Land, Obdach, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden) sollen rasch umgesetzt werden. Eine weitere Vertiefung des Neoliberalismus soll verhindert werden. Ferner wurde ein globales antikapitalistisches Projekt anvisiert, das von der lokalen und nationalen Ebene aus agieren soll.«
Risiken
Der bisherige Zuspruch zur Kampagne ist beachtlich und es scheint so, als wollten die neuen Bündnispartner vermeiden, in alte Ausgrenzungsmechanismen zu verfallen. Nichtsdestotrotz ist der mexikoweite Aufbau einer basisdemokratischen Allianz ein hochkomplexes Vorhaben, das nur schwierig zu realisieren ist. Comandante Zebedeo mahnte am 16. September folgerichtig, nicht in Spalterei, Wettkampf und Korruption zu verfallen. Marcos unterstrich den pluralistischen Charakter des Bündnisses: »Die Einheit, die wir brauchen, ist nicht diejenige, an die wir gewöhnt sind. (...) Eine Einheit, die nach Hegemonie und Homogenität dürstet, ist zum Scheitern verurteilt.« Trotz dieses Appells an Toleranz und Heterogenität schwebt ein Damoklesschwert über dem noch jungen Bündnis.
Tatsächlich werden sowohl die interne Kommunikation als auch die Entscheidungsfindung des Netzwerkes in Zukunft eine große Herausforderung darstellen. Einige Gruppen verwiesen in diesem Kontext auf die Möglichkeiten des Internets, andere favorisierten regelmäßige Lokal- und Regionalversammlungen.
Zweifler innerhalb und vor allem außerhalb der »Anderen Kampagne« fürchten ob der radikalen Schelte der EZLN gegenüber der sozialdemokratischen PRD, deren Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador große Chancen auf einen Wahlsieg im Sommer 2006 hat, eine Schwächung der Gesamtlinken und größere Möglichkeiten für die reaktionären Kräfte von PAN und PRI.
Die EZLN selbst begründet ihre Kritik an der Parlamentslinken mit dem Verrat während der Abstimmungen über eine pro-indigene Verfassungsänderung, mit der Verstrickung von PRD-Kadern in repressive antizapatistische Aktivitäten in Chiapas, mit Korruptionsvorwürfen sowie mit Belegen, daß das Wahlkampfteam von López Obrador dem Umfeld des Expräsidenten Salinas de Gortari entstammt, der als Chef der jahrzehntelangen Einheitspartei PRI für brutale Repression und den neoliberalen Ausverkauf des Landes durch das »Freihandelsabkommen« NAFTA zwischen Kanada, USA und Mexiko steht.
Nicht ohne Grund sehen viele Beobachter und die Zapatisten selbst die große Gefahr, daß die EZLN-Delegation und die Unterstützer angegriffen werden und zu Tode kommen könnten. Sie setzen auf die interne Solidarität aller Unterstützer der »Anderen Kampagne«: »Wir wissen, wer diejenigen sind, die wollen, daß es Tote gibt, und daß es für sie von Vorteil wäre, wenn jene, die kämpfen, sterben würden, besonders, wenn Zapatisten sterben. Sie planen, wie sie uns töten werden. Deshalb vertraue ich Ihnen so viel an, Compañeros und Compañeras«, so Guerillaleutnant Moisés am 16. September in La Garrucha. »Doch wenn das passiert, wird unser Kampf nicht aufgehalten werden, wir sind darauf vorbereitet«.
Ausblick: Zustimmung und Kritik
Es gehe um nicht weniger, so Subcomandante Marcos am 18. September, »dieses Land von unten zu erschüttern und auf den Kopf zu stellen«. Er unterstrich dabei in Anspielung auf seine Medienpräsenz und die des PRD-Kandidaten López Obrador: »Was wir aufbauen müssen, entscheidet sich nicht auf den Bühnen, durch das Charisma oder in den Fähigkeiten oder Fehlern der Rhetorik, es muß unten ermittelt werden, unten entschieden werden und unten erarbeitet werden.«
Während einige linke Intellektuelle wie die Autorin Elena Poniatowska oder der Schriftsteller Carlos Monsiváis die Kritik an der PRD und ihrem Präsidentschaftskandidaten für kontraproduktiv und überzogen halten, begrüßen andere wie der Anthropologe Gilberto López y Rivas oder der Soziologe Pablo González Casanova die »Andere Kampagne« ausdrücklich. González Casanova beurteilt die neue Initiative der Zapatisten gar als »ein neues historisches Ereignis, das weltweite Bedeutung erlangen könnte«. Es handle sich um ein visionäres anarchistisches Projekt, das auf eine lange Zeit angelegt sei und das mit dem Vorschlag für eine neue Verfassung beginne, wobei diese von kollektiven Protagonisten erarbeitet werde (La Jornada, 7.9.2005). Carlos Montemayor, ein Experte der lateinamerikanischen Guerilla-Bewegungen, weist darauf hin, daß die scharfe Kritik an der PRD als Kritik am gesamten Parteiensystem zu betrachten sei (La Jornada, 9.8.2005). Der marxistische Politologe Guillerma Almeyra schließlich betont die Wichtigkeit, daß die EZLN sich mit ihrer Initiative endlich aus der lokalen Isolation löst, wobei er gleichzeitig zu bedenken gibt, daß die EZLN damit ein Terrain betritt, auf dem sie nicht über ein Monopol verfügt (La Jornada, 11.9.2005).
Die neue politische Offensive der Zapatisten stellt somit eine extreme Herausforderung an die erklärten Gegner – die mexikanischen Eliten –, aber auch an die eigenen Protagonisten dar.
Luz Kerkeling
1 Alle Äußerungen der EZLN entstammen der Homepage der Zapatistischen Front zur nationalen Befreiung www.fzln.org.mx bzw. der entsprechenden Übersetzung auf der Homepage der Gruppe B.A.S.T.A. www.gruppe-basta.de
2 Sechste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald, in: Café Libertad (Hg.): Tierra y Libertad 58, Hamburg 2005, S. 12
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