junge Welt vom 29.08.2005

Diego Cevallos (IPS), Mexiko-Stadt

Aufstieg ohne aufzusteigen

Mexiko: Statistiken weisen ein Sinken der Armutsquote aus. Kritiker bezweifeln die von Regierung und Wirtschaftskommission vorgelegten Zahlen

Guadelupe hat den Klassenaufstieg geschafft. Seitdem die 32jährige, die sich in Mexiko-Stadt mit dem Sammeln von Dosen und Altpapier durchschlägt, ihre monatlichen Einkünfte allmählich von umgerechnet 70 auf 85 US-Dollar gesteigert hat, gehört sie wie Tausende anderer ihrer Zunft in Mexiko statistisch nicht mehr zu den Allerärmsten. An ihrem mühseligen Alltag hat sich dadurch nichts geändert. »Ich bin nicht weniger arm als früher«, meint sie. »Würde ich sonst mit meiner Karre herumziehen und Müll sammeln?«

In Mexiko, wo im Juli 2006 Neuwahlen anstehen, beglückwünschte sich die Regierung Fox zu den jüngsten Statistiken. Schließlich belegen diese, daß das Land mit seinen 104 Millionen Menschen Fortschritte im Kampf gegen die Armut macht - zumindest auf den ersten Blick. Wie aus einem Bericht (»Millennium Development Goals: a Latin American and Caribbean Perspective«) hervorgeht, den die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) kürzlich veröffentlicht hat, ist der Anteil der mexikanischen Bevölkerung, die in extremer Armut lebt, im Zeitraum zwischen 1992 und 2004 von 16,2 auf 11,7 Prozent gesunken. Arm, so die Statistik, waren 2004 37 Prozent der Mexikaner. 1992 waren es noch 44,2 Prozent gewesen.

Die neuen Zahlen seien kein Grund, sich zufrieden zurückzulehnen, meinte die für Zentralamerika und Mexiko zuständige CEPAL-Direktorin Rebeca Grynspan. Sie verwies insbesondere auf die ungerechte Verteilung des Wohlstands. Die jetzt von CEPAL vorgelegte Untersuchung für Mexiko entspricht mit ihren Schlußfolgerungen Erkenntnissen, die die Weltbank vor einem Jahr veröffentlicht hatte. Danach ging der Bevölkerungsanteil, der in bitterer Armut lebt, zwischen 2000 bis 2002 von 24,2 auf 20,3 Prozent zurück. Mexikos Regierung differenziert den Armutsbegriff. So gelten Landbewohner mit einem Monatseinkommen von höchstens 52 Dollar als extrem arm, während für die städtische Bevölkerung die Einkommensgrenze für die Ärmsten bei 70 Dollar gezogen wird. Dieser unterschiedlichen Bemessungsgrenze verdankt auch die Müllsammlerin Guadelupe ihren statistisch errechneten sozialen Aufstieg.

Héctor de la Cueva, ein Sprecher der Organisation Kontinentale Soziale Allianz (ASC), kritisiert denn auch die von CEPAL und der Regierung Fox vorgelegten Armutsstatistiken. »Sie sind sehr fragwürdig und führen zu Fehlschlüssen, denn ein Mensch kann von einem Tag auf den anderen aus der Kategorie der extremen Armut in die nächst höhere aufsteigen«, sagte er. ASC sitzt in São Paulo und ist eine Dachorganisation von Gruppen, die gegen die neoliberale Handelspolitik mobil machen. »Für uns steht fest, daß das in Mexiko und in der Region vorherrschende Wirtschaftssystem Armut und Ungleichheit produziert. Auch in den so lauthals gefeierten sozialen Programmen sehen wir keine Lösung«, betonte de la Cueva.

Zwar sagen etliche Studien mit ihren Zahlen aus, daß in Mexiko die Armut bemessen am persönlichen Einkommen zurückgeht, doch betonen Kritiker, daß sich an der sozialen Ungleichheit im Land nichts geändert hat. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik verfügen zehn Prozent der mexikanischen Haushalte über ein monatliches Durchschnittseinkommen von umgerechnet 4261 Dollar, während die ärmsten zehn Prozent von 166 Dollar leben müssen. In Mexiko verdienen die zehn Prozent, die der höchsten Einkommensgruppe zugerechnet werden, 25mal mehr als die einkommensschwächsten zehn Prozent. Diese Kluft blieb seit 20 Jahren gleich tief.




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