Die Zapatisten starten ihre neue politische Offensive

Miriam Lang / 15. August 2005

Nicht etwa Verhandlungen mit der mexikanischen Regierung stehen auf dem Programm, sondern eine Absage an alle politischen Parteien

Delegierte von 32 Organisationen reisten am ersten Augustwochenende in eine entlegene Gemeinde des südöstlichsten mexikanischen Bundesstaats, um mit den zapatistischen VertreterInnen zu diskutieren. Auch EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos trat nach mehreren Jahren erstmals wieder öffentlich in Erscheinung, in Begleitung einer Reihe von Kommandantinnen und Kommandanten, die einer eigens für die neue Initiative gegründeten Kommission angehören, der Comisión Sexta.

Die zapatistische Einladung richtete sich an alle politischen und sozialen Organisationen sowie Einzelpersonen der mexikanischen Linken, die bereit sind, eine Politik gegen neoliberale Umstrukturierung zu entwickeln - und zwar jenseits der Hoffnung darauf, dass ein neuer Präsident ab dem nächsten Jahr die Dinge selbst in die Hand nehmen könnte. Arbeiter, Bauern, Stadtteilaktivisten, Schwule und Lesben, Feministen, Jugendliche, Nichtregierungsorganisationen - alle sind zum Mitmachen eingeladen, solange sie keiner eingetragenen politischen Partei angehören.

Der "andere Wahlkampf"

La otra campaņa, Spanisch für "die andere Kampagne" oder auch "der andere Wahlkampf", so lautet das Motto der neuen politischen Initiative der EZLN, die sie mit der Sechsten Erklärung aus dem lakandonischen Urwald bereits im Juni eingeleitet hatte.

Die Rebellen wollen, wie schon seit ihrem Aufstand 1994, eine "andere Politik" von unten entwickeln, für die sie jetzt erneut Verbündete suchen. Doch während beim Demokratischen Nationalkonvent vom Juni 1994 die Sympathisanten des damaligen PRD-Spitzenkandidaten Cuauhtémoc Cárdenas explizit eingeladen waren, sich an der neu zu schaffenden linken Front zu beteiligen, sind heute alle, die der Partei der Demokratischen Revolution PRD angehören und auf deren Hoffnungsträger Andrés Manuel López Obrador setzen, bei den ZapatistInnen unerwünscht.

Gerade weil mit Andrés Manuel López Obrador ein Mitte-Links-Mann der aussichtsreichste Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Juli 2006 ist, mobilisiert die EZLN und sucht neue Verbündete. Denn die Zapatisten glauben nicht an den politischen und ökonomischen Wechsel, den der bisherige Hauptstadtbürgermeister von der Partei der Demokratischen Revolution verspricht. Sie halten ihn in erster Linie für einen populistischen Modernisierer, der einmal mehr die Interessen der Unterschichten verraten wird: "López Obrador will das Paradigma der neoliberalen Neuordnung sein", so Marcos in einem Kommuniqué vom 20. Juni. López Obrador erreichte den Höhepunkt seiner Populärität, als die Regierung Fox und die Konservativen in diesem Frühjahr aus fadenscheinigen Gründen ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einleiteten, um ihn vorzeitig aus dem Rennen um die Präsidentschaft zu nehmen. Während hunderttausende Mexikaner für ihren Helden "AMLO" auf die Straße gingen, versuchte die EZLN, das letztlich gescheiterte Amtsenthebungsverfahren zu entpersonalisieren, um es als eine prinzipielle Frage von Demokratie und politischer Kultur zu thematisieren.

Nichtsdestotrotz gilt López Obradors Wahlsieg seitdem als sehr wahrscheinlich. Um so wichtiger ist es den Zapatisten, gesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren, die den PRD-Mann von links unter Druck setzen und die Interessen der Unterschichten vertreten können. Nach Abschluss der auf sechs Wochenenden angelegten Vorgespräche soll eine Delegation, die sich aus einem Teil der EZLN-Führung sowie Vertretern anderer linker Organisationen zusammensetzt, durchs ganze Land reisen, um direkte Gespräche mit denjenigen zu führen, die durch die neoliberale Politik der letzten Jahre benachteiligt werden. Ziel der längerfristig angelegten Initiative ist, ein gemeinsames, nicht auf Wahlen ausgerichtetes Aktionsprogramm für die mexikanische Linke sowie eine neue Verfassung für ganz Mexiko zu erarbeiten.

Absage an alle Parteien

Die Absage der ZapatistInnen richtet sich nicht nur an die Mitte-Links-Partei PRD, sondern an die gesamte politische Klasse Mexikos und ausnahmslos alle Parteien. Subcomandante Marcos in seinem Kommuniqué vom 20. Juli:

Der Kapitalismus hat mit der neoliberalen Globalisierung einen authentischen Weltkrieg eingeleitet. (...) Dieser Krieg zerstört nicht nur die sozialen Beziehungen. Er versucht auch, sie der Logik des Siegers entsprechend neu zu ordnen. (...) Der neoliberale Krieg hat die traditionelle Politik entstellt und zwingt sie, im Takt eines Werbespots zu funktionieren. Und die Zerstörung, die die neoliberale Bombe in der mexikanischen Politik angerichtet hat, war so effektiv, dass es dort oben, unserer bescheidenen Ansicht nach, absolut nichts zu tun gibt.
La Jornada 20. Juli 2005

Eine solche, grundsätzlich vom politischen Establishment abgewandte Position vertritt die EZLN bereits seit dem 1. Januar 2003, nachdem 2001 ihr Vorstoß gescheitert war, mit einer Karawane durch das ganze Land zu ziehen und mit einer vor dem mexikanischen Parlament die Verabschiedung einer Verfassungsänderung durchzusetzen, die den indigenen Gruppen Mexikos weitgehende Autonomierechte garantieren sollte. Anstatt die Verträge von San Andrés, die die EZLN nach Friedensverhandlungen mit der Regierung im Jahr 1996 unterzeichnet hatte, in Gesetzesform zu gießen, hatten die Parlamentarier damals lediglich ein weichgespültes indígena-Gesetz verabschiedet, das diesen bloß das Recht auf kulturelle Differenz zugestand - und zwar mit den Stimmen eines Teils der PRD-Fraktion, obwohl diese Partei programmatisch für die Umsetzung der Verträge von San Andrés stand.

"Wir wollen ehrlich sein", sagte EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos deshalb am 6. August. "Vor 12 Jahren haben wir gesagt, dass wir an die PRD glaubten, aber wir haben uns geirrt, als wir dachten, diese Leute würden konsequent mit dem sein, was sie sagten. Sie sind nicht konsequent, und wir werden denselben Fehler nicht noch einmal machen." Und: "Die PRD hat uns geringschätzig behandelt, und dafür werden sie bezahlen."

Die Feindschaft der ZapatistInnen gegenüber der PRD hat sich in den letzten Jahren immer weiter zugespitzt: Am 10. April 2004 wurde in Chiapas eine Demonstration der zapatistischen Basis von Paramilitärs, die der PRD angehörten, in einen Hinterhalt gelockt und scharf beschossen, mit einem Saldo von über 30 Verletzten. Zwar hatte sich die Parteiführung damals distanziert, doch hat die Landesregierung von Chiapas, an der die PRD beteiligt ist, bis heute keinerlei Schritte unternommen, um die Verantwortlichen zu Rechenschaft zu ziehen.

Seitens der PRD-Führung nimmt man die erklärte Feindschaft der ZapatistInnen heute nach außen hin gelassen. Der PRD-Generalsekretär Acosta Naranjo: "Hier liegt ein Irrtum vor. Weder Marcos noch die EZLN sind unsere Feinde."

Die linken Intellektuellen Mexikos dagegen sind sich uneins, wie sie die neue zapatistische Offensive bewerten sollen: Während die Schriftstellerin Elena Poniatowska sie als "Spaltung der mexikanischen Linken" kritisiert, findet der Historiker Carlos Montemayor, der als Experte für die Guerillas des Landes gilt, dass man die Kritik von Marcos nicht als eine gegen eine bestimmte Partei oder einen Kandidaten gerichtete Offensive begreifen sollte, sondern als grundsätzliche Kritik an einem ganzen politischen System, das sich von den Menschen entfernt habe:

"Ich glaube das Wichtigste daran ist, dass die mexikanische Politik momentan eine Eliteangelegenheit ist. Das Herausragendste an Marcos' Aufruf für eine andere Politik ist, dass er die Möglichkeit in Betracht zieht, im Dialog mit der Basis ein besseres Land zu entwerfen."
Carlos Montemayor

Die mexikanische Regierung begrüßte unterdessen den Umstand, dass die Zapatisten, die sich weiterhin als politisch-militärische Organisation definieren, nach wie vor auf den politischen Kampf setzen und offensive bewaffnete Aktionen ihrerseist explizit ausgeschlossen haben. Sie bot der EZLN für ihre angekündigte Rundreise durch Mexiko Sicherheitsgarantien an.

Alarm wieder ausgesetzt

Am 19. Juni hatte die EZLN mit der Ausrufung einer Alarmstufe rot für Unruhe gesorgt. Alle Aktivitäten der 5 regionalen Autonomieregierungen waren in den Untergrund verlegt worden, Menschenrechtsbeobachter und Nichtzapatisten sollten das EZLN-Territorium verlassen und alle Aufständischen waren zu den Waffen gerufen worden.

Dieser Ausnahmezustand, der in einer ungewöhnlich martialischen Rhetorik verkündet wurde, wurde später damit begründet, dass die Durchführung einer internen Umfrage an der Basis abgesichert werden sollte, in der diese über die einzuschlagende politische Strategie abstimmen sollte. Die Regierungstruppen hatten im Jahr 1995 eine solche Umfrage für eine Offensive genutzt. Offensichtlich, so geht aus einem Kommuniqué hervor, wurde in Vollversammlungen von über 1.000 Gemeinden über den Text der Sechsten Erklärung abgestimmt. Inwieweit jedoch Alternativvorschläge möglich waren, oder wie die zapatistische Basis auf die Abstimmung vorbereitet wurde, ist nicht bekannt.

Das am 26. Juni bekannt gegebene Umfrageergebnis war überdeutlich: Über 98 Prozent der zapatistischen Basis hätten sich für die von der Leitung vorgeschlagene Initiative ausgesprochen - eine Zahl, die eigentümlich an Wahlen im realsozialistischen Kontext erinnert. Inzwischen wurde die "Alarmstufe rot" auf die aufständischen Truppen reduziert, die für die Dauer der anderen Kampagne die Sicherheit der zapatistischen Delegation garantieren sollen. Die zivilen Autonomiebehörden haben jedoch ihre reguläre Arbeit wieder aufgenommen.

Breites Echo aus dem In- und Ausland und wenig Kritik

319 Organisationen aus ganz Mexiko sowie 636 Einzelpersonen hatten sich der EZLN zufolge bis zum 31. Juli mit den Vorschlägen der Sechsten Erklärung per Email einverstanden erklärt, dagegen sollen lediglich drei kritische Statements eingegangen sein.

Inhaltlich dominierte während des ersten Diskussionswochenendes, das politischen Organisationen vorbehalten war, die Absage der EZLN an alle Sympathien mit López Obrador. Am 12./13. August sind indianische Organisationen an der Reihe, deren wichtigste im Lande, der Congreso Nacional Indígena, bereits seine Zustimmung zur "anderen Kampagne" signalisiert hat. In den folgenden Wochen sollen dann soziale und Nichtregierungsorganisationen kommen.

Intergalaktisches Treffen geplant

An die internationale Solidaritätsbewegung richtete sich unterdessen die Ankündigung, um den Jahreswechsel herum ein neues Intergalaktisches Treffen an einem bisher nicht präzisierten Ort abzuhalten. Diesbezüglich sollen bisher positive Antworten aus 21 Ländern eingegangen sein. Allerdings wurde nicht weiter spezifiziert, was auf einem solchen Treffen inhaltlich debattiert werden soll, sondern lediglich, dass anstelle eines Podiums eine horizontale Debattenstruktur vorgesehen ist.

In der Sechsten Erklärung aus dem lakandonischen Urwald zog die EZLN-Führung darüberhinaus eine Zwischenbilanz der bisherigen Arbeit der autonomen Räte und Juntas der Guten Regierung, also der Verwaltungsstrukturen der zapatistischen Autonomie, die nunmehr seit 2 Jahren existieren. Das Dokument macht deutlich, dass der Aufbau dieser De-facto-Autonomie für die Zapatisten in den letzten vier Jahren prioritär war. Das Erreichte sei

"nicht viel, aber wesentlich mehr als das, was wir vor dem Beginn des Aufstandes hatten, im Januar 1994. Es gibt jetzt mehr compaņeros und compaņeras, die lernen, wie man regiert. Und wenn es auch nur allmählich geschieht, so sind es doch bereits mehr Frauen, die sich an diesen Aufgaben beteiligen. Aber es mangelt nach wie vor an Respekt gegenüber den compaņeras, und daran, dass sie mehr Verantwortung übernehmen in den Aufgaben für den Kampf. Mit den Juntas der Guten Regierung hat sich die Koordination zwischen den autonomen Gemeinden verbessert, und Probleme mit anderen Organisationen oder den offiziellen Staatsvertretern konnten besser gelöst werden. Was auch wesentlich besser geworden ist, ist die Unterstützung für die Gemeinden, die Verteilung von Entwicklungsgeldern der weltweiten Zivilgesellschaft ist jetzt gerechter. Gesundheits- und Bildungssystem sind besser geworden, obwohl noch eine ganze Menge fehlt, bis es ist, so wie es sein soll, dasselbe gilt für das Recht auf Wohnung und Nahrung. In einigen Gebieten konnten Probleme der Landverteilung stark verringert werden, weil die Ländereien, die von den Großgrundbesitzern zurückgewonnen worden waren, verteilt worden sind. Dennoch gibt es immer noch Gebiete, in denen die Menschen unter dem Mangel an bebaubarem Land leiden."


Mit der neuen Initiative will die EZLN ihren autonomen Gemeinden keineswegs den Rücken kehren - ein Großteil der Kommandantinnen und Kommandanten sollen weiterhin den Autonomieprozess begleiten. Dennoch ist ein Richtungswechsel unverkennbar, weg von den lokalen und vorwiegend indigenen Angelegenheiten hin zur nationalen Politik. Ob die oft noch fragilen Strukturen des autonomen Gesundheitswesens, des zapatistischen Schulsystems und der Selbstverwaltung insgesamt diese Verschiebung in den Prioritäten gut überstehen, wird sich erweisen müssen.


Quelle: Telepolis




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