Der Fortschritt ist ein Schneckenhaus

Miriam Lang * 2. August 2005

Die vor zwei Jahren von der südmexikanischen Guerilla EZLN gegründeten regionalen Autonomiezentren gelten als wichtigste Errungenschaft des zapatistischen Kampfes, sie sind auch Vorbild für andere indigene Gruppen. Wie funktioniert die Selbstverwaltung im lakandonischen Urwald?

Auf der Straße nach Oventic reiht sich erbarmungslos Kurve an Kurve. Sie führt durch Weiler aus ärmlichen Holzhütten, die in diesem rauen Klima kaum vor Wind und Wetter schützen. Am Straßenrand weiden indianische Frauen in selbst gewebten Wollröcken schwarze Schafe, die ihnen für die traditionelle Kleidung den Rohstoff liefern. Der bekannteste Sitz der zapatistischen Autonomieregierung ist aufgrund seiner Farbenpracht unschwer zu erkennen: Bunte Wandbilder zieren die meisten Hütten, ansonsten ist Oventic auf den ersten Blick vor allem sehr abschüssig. Eine einzige, teilweise betonierte Straße, mündet ganz unten in ein Basketballfeld, das zu festlichen Anlässen auch als Tanzfläche dient. Das im zapatistischen Gebiet obligatorische Schild verkündet, dass hier die Bevölkerung das Sagen hat und die Regierenden gehorchen.


Hier wurden am 9. August 2003 mit einem Festakt die Caracoles gegründet, die fünf regionalen Zentren der zapatistischen Autonomie. Autonome Gemeinden im Widerstand - zunächst hießen sie municipios rebeldes -, gab es in Chiapas bereits seit Ende 1994, als die EZLN den Belagerungsring der Armee durchbrochen und so demonstriert hatte, dass ihr Einfluss sich auf insgesamt 38 Gemeinden oder Bezirke erstreckte, also auf gut ein Drittel des Bundesstaats Chiapas.

Die Caracoles , spanisch für "Schneckenmuscheln", sind Anlaufstellen für mexikanische und ausländische BesucherInnen, aber auch Sitz der fünf Juntas der "guten Regierung". Die Juntas stellen eine den Gemeinden übergeordnete, regionale Verwaltungs- und Koordinierungsebene dar, sie sind derzeit die höchsten Instanzen der zapatistischen Autonomieregierung. Der Begriff Juntas, der deutsche Ohren unheilvoll an südamerikanische Militärdiktaturen erinnert, wird hier ganz schlicht in seinem eigentlichen Wortsinn verwendet: Versammlung oder Rat. Und "gute Regierung" ist das semantische Gegenstück zum mal gobierno, zur "schlechten Regierung", wie die Zapatisten die offiziellen Amtsträger Mexikos bezeichnen.

Die Aufgaben dieser Juntas sind durchaus denen einer gewöhnlichen Regierung vergleichbar: Infrastrukturmaßnahmen, z.B. die Koordinierung der kollektiven Instandhaltung von Straßen, Gesundheits- und Bildungssystem, Rechtsprechung und Konfliktmediation, z.B. bei Landstreitigkeiten, sowie die ökonomische Entwicklung der Gebiete vorantreiben, Gelder organisieren und möglichst gerecht verteilen. Doch ist die Aufgabenstellung auch schon die einzige Ähnlichkeit mit einem herkömmlichen Staatsapparat.

Unprofessionalität als politische Waffe

Die Juntas funktionieren nach dem Rotationsprinzip. Eine Schicht, zusammengesetzt aus Delegierten verschiedener Gemeinden, amtiert jeweils acht bis 14 Tage lang im Caracol, bevor sie von der nächsten Schicht aus anderen Gemeinden der Region abgelöst wird. Die Delegierten werden in den Gemeinden von einer Vollversammlung direkt gewählt und ebenso auch wieder abgesetzt, sollten sie den Erwartungen der Basis nicht entsprechen. Die politische Vertretungsarbeit ist grundsätzlich unbezahlt, die Gemeinde sorgt lediglich für die Ernährung der autoridades und ihrer Familien - in Naturalien.

Die Caracoles werden nicht von einer Elite geführt, es regieren indianische Kleinbauern und -bäuerinnen, die oft nur schlecht Spanisch sprechen, mangelhaft oder gar nicht lesen und schreiben können und bestenfalls über eine rudimentäre Grundschulbildung verfügen. "Diese Regierung wird nicht von einer politischen Klasse betrieben", kommentiert der Historiker Andrés Aubry. Die Juntas seien rotativ und erwischten "jeden neuen Regierenden völlig unvorbereitet. Diese Option sorgt dafür, dass Erfahrung permanent an die Basis zurückgeleitet und die Basis gefördert wird, ohne dass sich eine Schicht von Privilegierten oder Profis der Macht herausbilden würde."

Daraus geht ein Regierungsstil hervor, der vielen heutzutage in der westlichen Welt gängigen, neoliberal gefärbten Kriterien von gut oder schlecht, wie Effizienz, Kompetenz, Professionalität oder Qualitätssicherung, ganz sicher nicht entspricht. Im Zuge der Schichtwechsel bei den Juntas gehen immer wieder Anliegen verloren, die Erstellung von schriftlichen Akten muss erst mühsam gelernt werden, die Junta-Mitglieder sind für viele Fragen, über die sie entscheiden müssen, ganz sicher nicht kompetent, und hier geht überhaupt gar nichts schnell. Wenn eine Generation von Regierenden dann gerade halbwegs mit ihren Aufgaben klarkommt, ist höchstwahrscheinlich die Legislaturperiode zu Ende, und eine ganz neue Gruppe tritt an.

Auf den ersten Blick mutet das wie eine absurde Katastrophe an - und das ist es sicherlich auch im Erleben einzelner auswärtiger BesucherInnen. Doch bei näherem Hinsehen hat diese Struktur auch ihre Vorteile - als wären ihre Architekten sich dessen bewusst gewesen, dass auch die Wohlmeinendsten die politische Kultur verinnerlichen, in der sie geformt wurden, und dass die Eigendynamik der Macht Menschen verändert. In ihrer ganzen Ineffizienz und Umständlichkeit enthält die zapatistische Autonomieregierung Mechanismen, die sie strukturell, also von Anfang an, gegen einige der großen Plagen schützen, die für mexikanische Politik charakteristisch sind. Korruption beispielsweise wird durch das Rotationssystem erschwert, persönliche Bereicherung, Funktionärstum und Amtsmissbrauch durch die ständige Widerrufbarkeit eines jeden Amtes und durch das Prinzip, dass alle cargos, traditionelle Ehrenämter, unbezahlt sind. Zudem kontrolliert eine der Junta vorgeschaltete Comisión de Vigilancia - eine Überwachungskommission, die zwar kein Geld entgegennimmt, aber streng Buch führt über die Summen, die der Junta übergeben werden, und überprüft, ob alles Geld auch komplett seiner Bestimmung zugeführt wurde.

Abenteuer Selbstbestimmung

Im früheren mexikanischen Einparteiensystem (1929 bis 2000) wurden in Chiapas Wahlen nicht bloß per fehlerhafter Auszählung gefälscht, sondern die Funktionäre der Staatspartei Pri in den Städten füllten die Wahlzettel für ganze indigene Landstriche einfach selbst aus. Man machte sich gar nicht erst die Mühe, in den Dörfern Urnen aufzustellen. Für die indianischen Bauern verkörperten die lokalen und regionalen Regierungsvertreter nicht nur gefürchtete Willkür und Allmacht, sondern gleichzeitig auch eine paternalistische Instanz, von der man als Gegenleistung für die eigene Unterwerfung kleine materiellen Vergünstigungen oder Schutz erhalten konnte.

Auch die im Zuge der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920) erkämpfte Agrarreform ist in Chiapas nicht angekommen. Dort blieben die Besitzverhältnisse und die Landverteilung aus der Kolonialzeit noch bis in die siebziger Jahre weitgehend unangetastet. Die indigene Bevölkerung lebte von der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft auf kargen Parzellen, von der Saisonarbeit als Tagelöhner, z.B. bei der Kaffee-Ernte, oder aber quasi in Leibeigenschaft, in der sie auf Gedeih und Verderb dem jeweiligen Großgrundbesitzer ausgeliefert war.

Die zapatistische Autonomie demaskiert nicht nur die angebliche Demokratie, sondern sie gibt den Menschen auch die Möglichkeit, wenigstens die Lokalpolitik selbst zu gestalten. Menschen, über deren Köpfe hinweg noch vor kurzem alles entschieden wurde, regieren heute in den autonomen Gebieten - mit allen Konsequenzen, die ein solches Abenteuer in sich birgt. Auch wenn sie natürlich keine Garantien beinhaltet, gewährleistet die basisdemokratisch angelegte Struktur der Juntas bis zu einem gewissen Maß, dass die Basis selbst Verantwortung trägt, und dass paternalistisches Kazikentum, wie es in Mexiko Tradition hat, sich gar nicht erst herausbilden kann.

Alles für alle, für uns selbst nichts?

Bis August 2003 waren die Repräsentationsinstanzen der zapatistischen Autonomie lediglich kommunal, in Form der consejos autónomos, der autonomen Gemeinderäte. Der mexikanischen Anthropologin Aracely Burguete zufolge agierten sie oft einseitig, zum Nachteil der nicht zapatistischen Bevölkerung, was die Spaltung vieler Gemeinden vertieft und die zapatistische Autonomie teilweise in Misskredit gebracht habe.

Auch der EZLN-Sprecher Marcos hat im Juli 2003 Probleme in den Beziehungen mit NichtzapatistInnen als einen wichtigen Grund für die Schaffung der Juntas benannt: "Wenn die Beziehungen innerhalb der autonomen Gemeinderäte schon voller Widersprüche sind, so sind die Beziehungen mit den nicht zapatistischen Gemeinden geprägt von konstanter Reibung und Konfrontation. Bei diversen Menschenrechtsorganisationen (und bei der Generalkommandantur der EZLN) liegt eine ganze Menge Beschwerden gegen die Zapatisten vor, über angebliche Menschenrechtsverletzungen, Ungerechtigkeiten und Willkürakte. Die Fälle, von denen die Kommandantur Kenntnis erhält, werden an die regionalen Komitees weitergeleitet, um ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und im positiven Fall das Problem zu lösen, indem die Parteien zusammengerufen werden, um eine Einigung zu erzielen."

Ausgangspunkt derartiger Konflikte ist der Umstand, dass das zapatistische Territorium, im Unterschied zu anderen "befreiten Gebieten" in der Guerillageschichte des lateinamerikanischen Kontinents, kein zusammenhängendes Gebiet ist, sondern eher ein Netz oder Archipel. Vor allem im Norden und in den Urwaldgebieten sind viele Gemeinden politisch gespalten: Einige sind ZapatistInnen, andere gehören entweder dem Pri an, oder aber, das ist ein relativ neuer Trend der letzten Jahre, dem Pan, dem PRD oder einer der lokalen Bauernorganisationen.

Die Gründung der Juntas war explizit auch ein Schritt, um dieser Realität Rechnung zu tragen und die Zapatisten von dem Verdacht zu befreien, sie suchte nur den eigenen Vorteil. Denn anders als zuvor die autonomen Gemeinderäte sind die Juntas als neu geschaffene, den Gemeinden übergeordnete Instanz jetzt für alle BewohnerInnen der jeweiligen Region zuständig, unabhängig von deren politischer Zugehörigkeit. Und tatsächlich nehmen auch Pri-AnhängerInnen oder andere NichtzapatistInnen die Dienste der Juntas häufig in Anspruch, insbesondere wenn es um Landstreitigkeiten geht oder um Probleme, die die offizielle chiapanekische Staatsregierung seit Jahren schleifen lässt.

Auch das autonome Gesundheitswesen steht seit August 2003 grundsätzlich allen offen, die es nutzen wollen. Allerdings bekommt die zapatistische Basis Behandlung und Medikamente völlig kostenlos, während Mitglieder anderer Gruppierungen zumindest für die Medizin ein kleines Entgelt zahlen müssen. Organisiert ist das Gesundheitswesen regional: Für jede der fünf Regionen existiert ein größeres Krankenhaus, in dem auch kompliziertere Fälle behandelt werden können. Auf der Gemeindeebene gibt es eine Reihe von Mikrokliniken oder casas de salud, Gesundheitshäusern.

Staatlich ausgebildete ÄrztInnen gibt es nur wenige, und auch Medikamente sind immer knapp. Deshalb lernen die promotores de salud, die LaienärztInnen, die vor Ort eine mehrjährige Ausbildung absolvieren - teilweise mit Unterstützung diverser Nichtregierungsorganisationen -, auch lokale Heilpflanzen oder Akupunktur bei der Behandlung anzuwenden. Bisher sind die fünf Regionen gesundheitspolitisch noch kaum koordiniert, was starke regionale Unterschiede in der Qualität und Reichweite der autonomen Gesundheitsversorgung nach sich zieht. Die Region Altos, mit der für lateinamerikanische Landverhältnisse wirklich beeindruckenden Klinik in Oventic, in der es nicht nur einen sterilen Operationssaal, sondern auch eine eigene Brillenwerkstatt gibt, ist hier sicherlich der Spitzenreiter, während z.B. im Norden von Chiapas in vielen Gemeinden die Mikrokliniken schlicht aus Mangel an Arzneimitteln faktisch brach liegen.

Bezahlt wird für die Arbeit im zapatistischen Gesundheitswesen niemand. PromotorInnen werden ebenso von der Gemeindeversammlung ernannt wie die Junta-Mitglieder, sie bekleiden ein cargo, das wegen der nötigen Spezialkenntnisse allerdings nicht rotierend besetzt wird. Dafür muss die Gemeinde kollektiv die Parzelle der cargos bestellen.

Ähnliches gilt für das autonome Erziehungswesen. In manchen Regionen gibt es nicht nur ein flächendeckendes Netz von Grundschulen, sondern auch schon weiterführende zapatistische Schulen. Vielerorts geben hoch motivierte Lehrer Unterricht unter freiem Himmel, einem alten Baum oder in arg baufälligen Strohdachhütten, und die Kinder hängen wie gebannt an ihren Lippen. Für die Alphabetisierung und andere Lerninhalte werden z.B. in der Region Morelia eigene Lehrmittel erstellt, um sicherzugehen, dass die indianischen SchülerInnen von ihrer eigenen Lebenswelt und Erfahrung lernen können - im Gegensatz zu früher, als spanischsprachige Staatslehrer den Kindern die Geschichte der spanischen Kolonie eher einprügelten als beibrachten.

Eine junge Frau, die sechs Jahre lang die Grundschule besucht hat und heute Mitglied der EZLN ist, erinnert sich: "Als ich aus der Grundschule kam, konnte ich gerade mal ein bisschen lesen und schreiben. Nur ein bisschen, weil ich gar nicht verstand, was ich da las - ich konnte ja kein Spanisch verstehen, und sprechen konnte ich es auch nicht. Der Lehrer sprach Spanisch, aber er brachte es seinen Schülern nicht bei. Nur er verstand, was er sagte. Er gab uns Aufgaben, zum Beispiel: Lest das hier zehn Mal hintereinander durch. Dann ließ er uns alleine in der Schule zurück und ging weg, niemand wusste, wohin. Er behandelte uns sehr schlecht, schimpfte dauernd mit uns, schlug uns, erklärte uns nicht, was er von uns erwartete. Deshalb habe ich in der Schule nichts gelernt. Was ich heute weiß, habe ich im zapatistischen Kampf gelernt."

Heute werden die zapatistischen ErziehungspromotorInnen von auswärtigen BeraterInnen ausgebildet, häufig Freiwillige von mexikanischen Universitäten. Doch hängt ihre Ausbildung - und die daraus folgende Qualität des autonomen Unterrichts - sehr stark von den Fähigkeiten und der Sensibilität der jeweiligen Berater ab, auch hier fehlt es noch an einheitlichen Qualitätsregulativen und an Koordination.

Manche Regionen, wie die dem Caracol in La Garrucha zugeordnete, sind erziehungspolitisch recht verwaist, wie es heißt, wegen fehlender Unterstützung von außen, die flächendeckend und in organisierter Form stattfinden müsste. Hier kann es in gespaltenen Dörfern vorkommen, dass zapatistische Kinder arbeiten oder untätig im Schatten sitzen, während die Söhne und Töchter aus nicht zapatistischen Familien in die Staatsschule gehen. Denn was den Schulbesuch angeht, herrscht eine strikte Trennung: Wegen des Unabhängigkeitspostulats der Autonomiebehörden ist es zapatistischen Kindern nicht erlaubt, eine nicht zapatistische Schule zu besuchen, auch wenn sie deshalb ganz ohne Schulbildung bleiben - ein Schaden, der künftig kaum wieder gut zu machen sein wird.

Justicia zapatista

Was die zapatistische Rechtssprechung anbelangt, ist es schwer, an verlässliche Informationen zu kommen. Gerade Konflikte und schwierige Fälle werden im zapatistischen Kontext äußerst diskret verhandelt. Grundsätzlich gibt es zwei juristische Instanzen: eine erste auf Gemeindeebene, und die Juntas als zweite Instanz für Konflikte oder Fälle, die lokal nicht gelöst werden konnten. Jede Gemeinde ernennt eine(n) RichterIn und eine(n) StellvertreterIn, die in Zusammenarbeit mit den autonomen Räten Konflikte lösen und auch Sanktionen verhängen können. Dies kann ein Kurzaufenthalt in einem der Dorfgefängnisse sein, z.B. wegen Verstoßes gegen das zapatistische Alkoholverbot, oder aber das öffentliche Anbinden einer Person an einem exponierten Ort im Dorf für die Dauer von ein paar Stunden, eine traditionelle Form des castigo, der Strafe. In schwereren Fällen kann die Gemeindeversammlung auch beschließen, den Delinquenten zu verstoßen. Prinzipiell gilt jedoch die Regel, dass bei Konflikten ein Konsens oder Ausgleich zu suchen ist und bei Vergehen Wiedergutmachung vor Strafe steht.

Inwieweit die zapatistischen Richter und Junta-Mitglieder sich in ihrer Rechtsprechung an allgemeingültige, transparente Regeln halten, bleibt unklar. Die eigene Forderung nach Gerechtigkeit in der autonomen Selbstverwaltung umzusetzen, ist eine immense Herausforderung. Immerhin findet die zapatistische Rechtsprechung in einem soziohistorischen Umfeld statt, das ihren Akteuren keine Chance bot, jemals so etwas wie Rechtsstaatlichkeit zu erfahren oder auch nur Vergleichsmöglichkeiten zur im ländlichen Mexiko verbreiteten juristischen Praxis kennen zu lernen - und die gibt in der Regel den Mächtigeren Recht.

Zwar hat die EZLN 1994 eine Reihe revolutionärer Gesetze veröffentlicht, wie z.B. das Frauengesetz von 1993, in dem die Rechte der zapatistischen Frauen festgeschrieben sind. Allerdings weiß so mancher autonome Richter - auch sie üben dieses Amt nur für die Dauer eines Turnus aus und sind zum Teil Analphabeten - nicht einmal von der Existenz eines solchen Gesetzes, und es gibt auch keine Ausführungsbestimmungen, die für eine praktische Umsetzung dieser Rechte den Weg weisen würden.

In der Kommuniqué-Serie leer un video vom August 2004 verwies der EZLN-Sprecher Marcos auf eine Reihe neuerer Gesetze, auf die die Juntas sich geeinigt haben: So zum Beispiel ein Gesetz zum Umgang mit der illegalen Migration nach Norden, die das zapatistische Territorium passiert. Die Schleuser sollen enteignet, bestraft und im Wiederholungsfall den staatlichen Behörden übergeben, ihr gesamter Besitz aber soll an die MigrantInnen verteilt werden, die von der zapatistischen Bevölkerung für die Dauer ihres Aufenthalts umsonst verköstigt und beherbergt werden müssen.

Was die Herstellung von Rechtssicherheit in den Autonomiegebieten angeht, ist auch aus anderen Gründen Skepsis angebracht. Für einige Gewaltverbrechen, die in den letzten Jahren in der Region verübt wurden und die die Staatsregierung bisher ungeahndet gelassen hat, hat auch die EZLN bis heute keine Gerechtigkeit herstellen können, obwohl die Junta de Buen Gobierno in Oventic schriftlich ankündigte, wenn der Staat die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft ziehe, werde der Fall an das militärische Oberkommando der EZLN übergeben. Dies gilt etwa für das von Paramilitärs am 22. Dezember 1997 verübte Massaker von Acteal oder für den bewaffneten Angriff auf eine Demonstration der zapatistischen Basis am 10. April 2004 in Zinacantán, aber auch für einzelne Morde oder Vergewaltigungen.

Obwohl die Namen der Verantwortlichen von den zapatistischen Behörden jeweils öffentlich bekannt gemacht wurden, hatte dies auch von Seiten der autonomen Justiz keine sichtbaren Folgen. Zum einen steht hier sicherlich das prekäre politische Gleichgewicht in Chiapas auf dem Spiel, das nicht etwa durch die militärische Schlagkraft der EZLN aufrechterhalten wird, sondern durch deren diplomatisches Geschick, zum anderen aber auch die Glaubwürdigkeit der Zapatisten. Denn die impunidad, die Straflosigkeit, ist neben Korruption und Amtsmissbrauch ein weiterer Pfeiler des traditionellen politischen Systems in Mexiko, gegen das die ZapatistInnen angetreten sind.

Aus Fehlern lernen?

Zwei Jahre sind eine extrem kurze Zeitspanne, sowohl um zu lernen, wie man verantwortlich Entscheidungen trifft, als auch um gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Es wäre unfair, das Experiment zapatistischer Autonomie auf dieser Grundlage jetzt schon beurteilen zu wollen. Messen lässt sich allerdings die Lernfähigkeit innerhalb der Autonomiestrukturen bzw. die Bereitschaft, Fehler und Missstände zu korrigieren.

Ein Beispiel hierfür ist die Beteiligung von Frauen an den Autonomiestrukturen. Ein Jahr nach der Gründung der Juntas de Buen Gobierno, im August 2004, bemerkte Subcomandante Marcos: "Während in den Klandestinen Indigenen Revolutionskomitees der Region die Beteiligung von Frauen zwischen 33 und 40 Prozent liegt, liegt sie bei den autonomen Gemeinderäten und den Juntas de Buen Gobierno bei einem Durchschnitt von weniger als einem Prozent."

Ein Jahr danach hat sich in Sachen Frauenbeteiligung einiges getan - und zwar nicht bloß auf der Diskursebene, beispielsweise bei Radio Insurgente, wo Jingles und von Marcos erzählte Märchen gesendet werden, die vom Recht der Frauen auf die freie Wahl ihres Partners und auf politische Partizipation erzählen. In vielen autonomen Gemeinden sind bei den letzten turnusmäßigen Wahlen Frauen in politische Ämter gewählt worden, als Ratsmitglieder, Schriftführerinnen oder auch Bürgermeisterinnen. Damit geht einher, dass nun auch in allen Juntas Frauen vertreten sind. Allerdings spricht diese quantitative natürlich noch nicht automatisch für eine qualitativ gewichtige Beteiligung der Frauen an Regierungsaufgaben, die einen umfassenden kulturellen Lernprozess für beide Geschlechter voraussetzt.

Der zweite Punkt, den Marcos nach dem ersten Jahr als Kardinalfehler der neuen regionalen Autonomie benannte, betraf die Behinderungen im Aufbau einer wirklichen Basisdemokratie im Autonomiegebiet durch Einmischungen aus der militärischen Hierarchie der Guerillastruktur EZLN.

In der Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Regenwald, die im Juli veröffentlicht wurde, schreibt die EZLN-Führung hierzu: "Wir mussten auch feststellen, dass der politisch-militärische Teil der EZLN sich in Entscheidungen einmischte, die den demokratischen VertreterInnen vorbehalten waren, also den so genannten ZivilistInnen. Und hier ist das Problem, dass nämlich der politisch-militärische Teil der EZLN nicht demokratisch ist, weil es sich um eine Armee handelt. Und wir haben gesehen, dass es nicht gut ist, wenn das Militärische oben steht und das Demokratische unten, weil es nicht sein darf, dass das, was demokratisch sein soll, militärisch entschieden wird, sondern es muss genau umgekehrt sein. Das heißt: Oben entscheidet das Politisch-Demokratische, und unten gehorcht das Militärische. Oder vielleicht ist es besser, wenn gar nichts unten ist, sondern alles auf der gleichen Ebene angesiedelt, ohne Militärisches, deshalb kämpfen die ZapatistInnen als Soldaten dafür, dass es keine Soldaten mehr zu geben braucht. Wir haben dieses Problem angegangen, indem wir das Politisch-Militärische getrennt haben von den autonomen und demokratischen Organisationsformen der zapatistischen Gemeinden. Und so sind Aktionen und Entscheidungen, die früher der EZLN vorbehalten waren, allmählich an die demokratisch gewählten GemeindevertreterInnen übergegangen. Das klingt einfach, aber in der Praxis ist es sehr schwierig, weil es viele Jahre waren, zuerst Jahre der Kriegsvorbereitung und dann Jahre des Kriegs, und das Politisch-Militärische wird einem schnell zur Gewohnheit."

Man ist also bestrebt, in den Autonomiestrukturen eine Art Gewaltenteilung einzuführen: Wo früher die Guerillaführung in ganzen Regionen das Oberkommando hatte, sind heute Guerilla und Milizen nur noch für die Verteidigung der autonomen Gemeinden zuständig, sie stehen demnach auch den Gemeinderäten nicht mehr für polizeiliche Aufgaben zur Verfügung. Im Gegenzug sollen sich die militärischen BefehlshaberInnen auch nicht mehr in zivile Belange der Autonomieregierung einmischen.

Doch ist dieser Prozess einer Ablösung der zivilen Strukturen von der bewaffneten EZLN, die in den vergangenen Jahren stets die Richtung vorgegeben hat und zweifellos auch über die politisch erfahrensten Leute verfügt, ein allmählicher. Bisher setzten sich die bereits erwähnten Comisiones de Vigilancia neben den Juntas noch aus Mitgliedern der Guerilla-Leitungsebene zusammen. Nach neuesten Erklärungen soll diese Überwachungsfunktion ab sofort nun auch von ZivilistInnen ausgeführt werden, während die Comandantes und Comandantas in eigens geschaffene Informationsgremien überwechseln, wo sie BesucherInnen und JournalistInnen Rede und Antwort stehen sollen.

Nischen und Alternativmärkte

Ökonomisch setzt die zapatistische Autonomie auf totale Unabhängigkeit vom Staatsapparat - eine Konsequenz aus der jahrhundertealten Erfahrung mit einer paternalistischen Politik, die sich mit "Glasperlen" und Repression Gefolgschaft erkaufte. Wer zur zapatistischen Basis gehört, darf keines der staatlichen Armutsbekämpfungsprogramme in Anspruch nehmen und darf beispielsweise auch seinen Stromverbrauch nicht bei der staatlichen Stromgesellschaft bezahlen - eine Situation, die in gespaltenen Gemeinden oft Konflikte generiert.

Trotz dieses Unabhängigkeitspostulats vom Staat ist die zapatistische Region jedoch ökonomisch alles andere als autark. Zwar ist die Region sehr reich an Ressourcen, wie diverse Entwicklungspläne in Bezug auf Erdöl oder Biodiversität bezeugen. Doch ist es aufgrund des unvorstellbaren Bildungsrückstands, des fehlenden Überblicks über die Chancen und Risiken, die mit der Nutzung dieser Ressourcen verbunden sind, aber auch wegen der starken Orientierung der indígenas auf Praktiken, die sie als ihre Traditionen definieren, derzeit undenkbar, dass sie diese für sich selbst erschließen. Ihre traditionellen Erzeugnisse, in erster Linie Kaffee, Bohnen und Mais, sind auf dem Weltmarkt und durch das Freihandelsabkommen mit den USA in den letzten Jahren stark abgewertet worden, was auch in Chiapas die Armutsmigration nach Norden zu einer Überlebensoption gemacht hat. Die "milpa" - das Maisfeld - ist auch im aktuellen zapatistischen Entwurf von "Tradition", der manch andere Aspekte durchaus in Frage stellt und erneuertt, ein zentrales, identitätsbestimmendes Element.

Die zapatistische Autonomie will Geld aus der internationalen Solidarität und die Anbindung an nordamerikanische und europäische Alternativmärkte und Nischen nutzen, um die Entwicklung in der Region anzuschieben. Neben der traditionellen, kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft ist eine Vielzahl von Kooperativen entstanden, die den Gemeinden zusätzliche Einkünfte bescheren. Organischer Kaffee oder Bio-Honig, die im "fairen Handel" und unter Umgehung der traditionellen Zwischenhändler verkauft werden, entsprechen den ökologischen Wünschen einer globalisierungskritischen Kundschaft und bringen den lokalen Produzenten höhere Einkünfte. Auch nicht agrarische Produkte wie handgewebte und -bestickte Textilien, Heilkräuterpräparate, Musik-CDs, Schuhe oder Kunstschmiedeerzeugnisse werden auf dem regionalen oder internationalen Markt verkauft. Es gibt auch größere Projekte, wie z.B. einen Steinbruch mit angeschlossener Hohlblockstein-Produktion, aus deren Erlös die Flüchtlingsgemeinde San Pedro Polhó den Nahrungsmittelbedarf für die dort ansässigen 8 000 landlosen Vertriebenen abzudecken versucht.

Zu den größten Geldgebern für die zapatistischen Territorien zählen die baskische Regionalregierung, einige italienische Regionen und Gemeinden wie z.B. das toskanische San Gimignano, die Städtepartnerschaften mit zapatistischen Gemeinden eingegangen sind, und die finnische Botschaft in Mexiko. Mit ihrer Unterstützung und der von unzähligen Solidaritätskomitees in aller Welt wurde in Chiapas ökonomisch einiges auf den Weg gebracht. Auch die Infrastruktur im zapatistischen Territorium basiert auf Spenden aus der internationalen Solidarität. Ob es Lastwagen, Krankenwagen, Schulneubauten oder Kliniken sind, sie werden aus Griechenland, Italien oder beispielsweise Spanien finanziert.

Das Problematische an diesem Entwicklungsmodell ist, dass es nicht weniger konjunkturabhängig ist als der Weltmarkt. Nicht nur militärisch, sondern auch ganz materiell hängt das Überleben der ZapatistInnen an der Fähigkeit ihres Sprechers Subcomandante Marcos, die Bewegung im internationalen Diskurs auf der Tagesordnung zu halten. Denn der Spendenfluss hängt vom internationalen Bekanntheitsgrad und von der Aktualität des Pop-Faktors ab, der den Empfängern anhaftet. Wie in anderen Kontexten von Entwicklungshilfe ist auch hier bereits erkennbar, dass Schenkungen aus einer Welt, die den Beschenkten gänzlich unbekannt ist, zu verzerrten Wertvorstellungen und einer Mentalität der Abhängigkeit führen. Wer relativ problemlos Ersatz anfordern kann, wird sich um den Erhalt vorhandener Ressourcen und die Herausbildung entsprechender Fähigkeiten nicht sorgen und wird, wenn die internationale Solidarität sich eines Tages neuen Konjunkturen zuwendet, das Erreichte kaum halten können.

Welche Zukunft hat die Autonomie?

Die offizielle Ausrufung der zapatistischen Autonomie vor zwei Jahren beinhaltete eine Absage an die etablierten Spielregeln der Politik und an die gesamte politische Klasse Mexikos, ganz gleich welcher Partei. Aus der Erfahrung mit dem Marsch ins Parlament im Frühjahr 2001, als die legalen Institutionen der parlamentarischen Demokratie ihnen auch bei verstärkter öffentlicher Aufmerksamkeit nicht zu ihrem Recht verhalfen, zogen die ZapatistInnen die Schlussfolgerung, dass die von diesen Institutionen definierte Legalität für sie nicht mehr bindend ist. Mit der Autonomie verließen sie zwar wohlweislich nicht den Rahmen, in dem ihnen das "Gesetz für den Dialog, die Aussöhnung und den würdigen Frieden" von 1995 Straffreiheit verspricht, solange sie keine bewaffneten Aktionen unternehmen. Doch sie schufen eine parallele Form von Legalität und erkannten den politischen Institutionen Mexikos fortan weitgehend die Definitionsmacht über ihre Gemeinden, ihre Projekte und ihr Leben ab.

Das Beispiel machte Schule: Heutzutage gibt es in vielen anderen mexikanischen Bundesstaaten municipios autónomos, die sich in ihrer Organisation und ihrem Anspruch am zapatistischen Modell orientieren. Bereits im November 2002, als es in Chiapas zwar autonome Gemeinden, aber noch keine Caracoles gab, erklärte sich z.B. die Gemeinde Suljaá in Guerrero für autonom. Im Bundesstaat Michoacán rief das Dorf Zirahuén im Oktober 2003 seine Autonomie aus und proklamierte sich als zapatistisches Caracol. Auch in Oaxaca, einem weiteren Bundesstaat mit hohem indigenem Bevölkerungsanteil, in dem seit 1998 gesetzlich nach lokalen Sitten und Gebräuchen gewählt werden darf, ist die zapatistische Autonomie für viele Menschen ein Vorbild.

Immer mehr ländliche Gemeinden in Mexiko schaffen neben den Institutionen, die sich durch betrügerische Wahlen selbst erneuern und fest im Griff der jeweiligen Lokalfürsten sind, Parallelinstitutionen nach indigenem Recht, die sie als demokratischer wahrnehmen. Allerdings sind die Entwicklungsbedingungen für diese Autonomiebestrebungenn wesentlich schwieriger als für das chiapanekische Original: Sowohl ökonomisch, als auch politisch und im Verhältnis zur staatlichen Repression genießen sie nicht die Vorteile, die sich für die ZapatistInnen aus ihrem internationalen Bekanntheitsgrad ergeben.

Wie steht es um die Zukunftschancen der zapatistischen Autonomie? Die Sicherheitslage in Chiapas ist wackelig, obwohl es seit Anfang 1998 keine Angriffe der Bundesarmee mehr gegeben hat. Diese ist jedoch nach wie vor mit über 70 000 Soldaten, die sich angeblich sozialen Aufgaben widmen, erdrückend präsent. Bisher arbeiten die Juntas der "Guten Regierung" unbehelligt, sie empfangen internationale Delegationen und bearbeiten lokale Anliegen, ja sie stellen sogar eigene Führerscheine aus und führten anlässlich der Kommunalwahlen im Oktober 2003 einen offiziellen Briefwechsel mit den Behörden des Bundesstaats über die Aufstellung von Wahlkabinen im zapatistischen Gebiet.

Doch handelt es sich hierbei um einen Zustand der politisch motivierten Duldung, der jederzeit beendet werden kann. Insbesondere jetzt, da in Mexiko Wahlkampf ist und die ZapatistInnen eine landesweite Offensive angekündigt haben, in der sie alle linken Fraktionen zu einer starken, außerparlamentarischen Opposition zusammenfassen wollen. Im Juli 2006 sind Präsidentschaftswahlen, und kurz darauf wird auch in Chiapas ein neuer Gouverneur gewählt.

Der amtierende Präsident Vicente Fox und sein Gefolgsmann Pablo Salazar in Chiapas haben sich dafür entschieden, die zapatistische Selbstverwaltung zu tolerieren, und darüber hinaus schon die Existenz eines Konflikts im Süden einfach konsequent abzustreiten. Aufstandsbekämpfung betrieben sie vor allem durch die massive Kooptierung von indigenen und linken AktivistInnen in die chiapanekische Regierungsbürokratie - die seit 2000 erstmals nicht in Händen des Pri war - und über die gezielte Verteilung der Gelder aus internationalen Entwicklungs- oder Armutsbekämpfungsprogrammen: Ausgerechnet in gespaltene Gemeinden wurde von offizieller Seite massiv investiert, natürlich streng nach Parteibuch. Widerstand lohnt sich nicht, so die Botschaft.

Daneben existieren nach wie vor paramilitärische Gruppen, die nach Bedarf aktivierbar sind und anstelle der "friedfertigen" Bundesarmee bewaffnete Angriffe durchführen können - wie zuletzt am 10. April 2004 in Zinacantán. Manche Beobachter sorgen sich, dass dies bevorstehen könnte, da die Armee in den letzten Wochen in mehreren Stützpunkten im Hochland stillschweigend das Feld geräumt hat und sich im Norden mit der Organización para la Defensa de los Derechos Indígenas y Campesinos, OPDDIC, eine neue paramilitärische Struktur zu erkennen gibt. Die ZapatistInnen versuchen sich zu schützen, indem sie wieder einmal vielfältige Bündnisse suchen.


Quelle: Jungle World



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