junge Welt vom 14.05.2005
"Wir können alles erreichen"
Vom wachsenden Selbstbewusstsein indigener Frauen:
Erlebnisse in der mexikanischen Stadt San Luis Potosí
Uwe Bennholdt-Thomsen
Zuerst habe ich gemault, als meine langjaehrige Freundin Martha aus
Oaxaca mir vorschlug, sie nach San Luis Potosí; zu begleiten. Dort
sollte das vierte Treffen der "Creadoras de Suenos y Realidades -
Mujeres indí;genas de Mexico" stattfinden - der indigenen
"Schoepferinnen von Traum und Wirklichkeiten" in Mexiko. Aber dann
habe ich es doch gewagt, mich auf den Weg zu diesem Frauentreffen zu
machen - fuenf Stunden Busfahrt von Mexico City Richtung Norden.
Schon frueh am Morgen wanderte ich durch San Luis Potosí;s
menschenleere Strassen. Altehrwuerdige Verwaltungspalaeste und
glaenzende Kirchenkuppeln zeugen von vergangener Pracht der alten
Silberstadt, die heute mehr als eine Million Einwohner zaehlt. Es ist
der Tag, an dem der Papst stirbt. Genau vier Jahre ist es her, da
zogen die Zapatistas aus Chiapas in die Hauptstadt und forderten mehr
Autonomie fuer die Indí;genas. Nach zaehen Verhandlungen setzten sie
ein neues Gesetz durch. Es wurde dann dermassen verwaessert, dass es
bis heute von den indigenen Gemeinschaften nicht akzeptiert wird.
Sind Regierungsinstitutionen wirklich bereit, die Marginalisierung
der "Indios" ueberwinden zu helfen? Oder dienen solche ueberzeugend
organisierten Treffen wie das bevorstehende nur der Beschwichtigung
und verkleistern die eigentlichen Probleme?
Um acht Uhr bin ich zurueck in dem modernen achtstoeckigen
Hotelkasten. Etwa sechzig in bunte Trachten gekleidete Frauen haben
sich dort bereits lachend und schwatzend zum Fruehstueck eingefunden,
eine ueberaus lebenstrotzende, froehliche Gesellschaft. Sie sind
hierher gekommen, um Beispiele ihres schoepferischen Gestaltens
vorzutragen und zu praesentieren. Dichterinnen, Malerinnen,
Fotografinnen, Saengerinnen, Erzaehlerinnen. Angereist aus diversen
Staaten der mexikanischen Republik sprechen sie pai pai, raramuri,
zapotekisch, tzotzil, purepecha, tojolabal oder eine andere der
vielen indigenen Sprachen Mexikos. Diese sind meist so wenig
miteinander verwandt wie deutsch, bulgarisch und finnisch. Und
sie kaempfen darum, gehoert, gesehen und gedruckt zu werden. Ihr
Ziel: Das, was sie zu sagen und zu zeigen haben, soll eine
Oeffentlichkeit finden, die sie respektiert - auch wenn sie nicht aus
den Metropolen kommen und nicht auf den breiten Wegen der
Nationalsprache Spanisch und des urbanen Zeitgeschmacks wandern. Zu
bieten haben sie eine wahrlich betoerende Vielfalt an
ueberraschenden Angeboten.
Licht und Bild
Im Regionalmuseum zeigen zehn Kuenstlerinnen Malerei, Fotografie und
Kunsthandwerk. Natividad Amador aus Juchitan (Oaxaca) stickt
halbfigurative und abstrakte Textilbilder in leuchtenden Farben und
hat schon in den USA, Kuba, Paris, Bielefeld ausgestellt. "Als ich
vom Studium zurueckkam, bin ich durch die Strassen meiner Stadt
gelaufen, und da fand ich all die Farben, die ich anderswo gesucht
hatte, in den herrlichen Huipiles - fuer Juchitan typische, reich
bestickte Bluse - und auf den praechtigen Festen. Ich versuche,
Textiltechnik und Malerei zu verbinden. Es war fuer mich nicht
einfach, weil ich in Juchitan die erste Malerin war."
Maricela Gomez, eine Mixtekin, erzaehlt auf kleinen bemalten
Tonreliefs, die sie zu Triptychen oder Tafelbildern zusammenfuegt,
Alltagsszenen und mythologisch ueberhoehte Geschichten ihrer
Kindheit. "Ich male wie unsere Vorfahren mit natuerlichen Materialien
und finde sie in meiner Heimat: Ton, Holz und Farben. Eines meiner
Hauptthemen ist der Machismo. Es gibt ein Bild von mir, wo der Mann
in den Ketten des Machismus gefangen ist. Er glaubt, er brauche ihn,
um sich gegenueber der Frau zu behaupten. Ein weiteres Thema ist das
Leben der Frauen, unsere taegliche Arbeit. Wir koennen alles
erreichen, was wir wollen, das haben wir schon bewiesen. Wir wollen
unsere Wurzeln wiederfinden."
Martha Toledo, zapotekische Fotografin und Saengerin, spuert seit
Jahren den Stationen im Lebenszyklus juchitekischer Frauen nach. Der
ist reich an Zeremonialfesten und Riten in matriarchatsaehnlichen
Sozialstrukturen. Im Moment arbeitet sie an ihrer ersten CD mit
zapotekischen Liedern, von der sie uns am Sonntagmorgen eine
Kostprobe gibt. Auf dem Platz vor dem Museum sind ein
Veranstaltungszelt und eines zum Verkauf des Kunsthandwerks
aufgeschlagen. Der Publikumszuspruch ist spaerlich bis rege - eines
der wichtigen Themen dieser Tage: Wie laesst sich eine groessere
Oeffentlichkeit erreichen und wie ein groesserer Markt erschliessen,
ohne dass sie sich den blutsaugerischen Machenschaften der
Zwischenhaendler ausliefern muessen - ein Thema, das besonders die
Kunsthandwerkerinnen interessiert. Staatliche Institutionen, die an
dem Treffen beteiligt sind, versprechen sich zwar Besserung und neue
Initiativen, aber die Hoffnung auf grosse Fortschritte ist gering.
Nach Mexico City, Puebla und Chihuahua ist San Luis Potosí; der
vierte Treffpunkt der Frauen. Ueber Jahre sollen Kontakt und
Austausch der Beteiligten kontinuierlich wachgehalten werden. Aurora
Oliva erzaehlt mir, wie die Grundidee fuer diese Treffen aus den
Sozialbewegungen der indigenen Bevoelkerung seit 1994 erwachsen ist.
Diese haetten eine groessere Beteiligung gerade der Frauen an den
gesellschaftlichen Prozessen eingefordert. Sie wollten die Ergebnisse
des schoepferischen Gestaltens einem groesseren Publikum
bekanntmachen und den Austausch untereinander foerdern. Gerade der
entwickelt sich aber erst langsam.
Nun singen zwei schwergewichtige Pai pai aus Santa Caterina im Norden
von Baja California von den drei Heiligen Bergen oder der
Morgendaemmerung. Sie haben die Zeremonialgesaenge von ihrem
Grossvater, dem letzten Stammesaeltesten, gelernt. Da ihr Volk vor
vierhundert Jahren fuerchterliche Erfahrungen mit den von Rom
ausgesandten dominikanischen Missionaren gemacht hatte, erzaehlt mir
Delfina, habe sie sich vor zwei Jahren in Puebla, der Stadt mit
Hunderten von Kirchen, regelrecht gefuerchtet. Vor einiger Zeit habe
ein Priester in ihrem Dorf nochmal Bekehrungsversuche gestartet, aber
da am Sonntag immer nur hoechstens vier Glaeubige erschienen, habe er
es wieder aufgegeben. Auch die Evangelisten aus den Regionen der
Gringos haetten bei ihnen kein Glueck. Es gaebe noch etwa 600 Pai
pais. Die verehren die Natur und denjenigen, "der alles kann". Wenn
sie Probleme haben, gehen sie hinaus in die Wildnis, betrachten sie
Himmel, Tiere und Pflanzen, besprechen mit ihnen ihre
Schwierigkeiten und kehren nach einigen Stunden erleichtert und
getroestet heim.
Frauen im Einklang
Die Radiofrauen berichten in ihren Regionalsendern direkt aus den
Gemeinden. Themen und Erfahrungen, besonders zu Rechts- und
Gesundheitsproblemen, holen sie sich von den betroffenen Frauen. Sie
rufen auch zu Kampagnen gegen Missbrauch und Vergewaltigung auf. "Es
ist eine wichtige und willkommene Gelegenheit, dass wir als
Indí;genas und als Frauen zu den indigenen Frauen sprechen koennen."
Eine Teilnehmerin meint: "Die grossen Sender bringen taeglich
Nachrichten aus der ganzen Welt. Aber wie die Kunst, das Leben und
die Probleme in unseren Doerfern aussehen, darueber erfaehrt niemand
etwas."
Esperanza Molina ist Filmemacherin und Videastin aus Sonora. Sie hat
grosse Schwierigkeiten, ihre Arbeit auszuueben. Ihr Volk, die Yaquis,
laesst keine Fotografien zu und lebt in einem abgegrenzten Gebiet,
das nur mit Erlaubnis des Aeltestenrates betreten werden darf. "Auch
heute noch wollen wir moeglichst nicht fotografiert werden. Unsere
Vorfahren sagten, damit wuerde uns unsere Seele genommen." Und
trotzdem produziere sie Videos? "Ja, hauptsaechlich Reportagen, aber
noch keine ueber unsere traditionellen Feste. Ich achte die Gesetze
meines Volkes. Ueber ein Rockfest habe ich einen Videoclip gemacht,
der erste, den es von einer indigenen Gruppe im Norden gibt. Sonst
arbeite ich viel ueber Migranten, die in die USA wollen." Sie sei in
einer Gruppe aktiv, die fuer die Oeffnung der Grenze kaempft,
erzaehlt Esperanza. "Frueher stand uns das ganze Gebiet offen, und
wir kannten dort alle Wege; jetzt sind uns unsere seit Jahrhunderten
benutzten Wege verboten."
Die Weisen
Ich treffe nun Frauen, die die traditionelle Heilkunst ausueben, und
bin ueberrascht, welche Menschlichkeit und Waerme sie ausstrahlen.
Allerdings beklagen sie eine fortschreitende Vernichtung ihrer
Heilpflanzen. Die benoetigen sie dringend, weil in ihren Doerfern die
Mittel fehlen, einen Arzt aufzusuchen. Auch sei die Schulmedizin
haeufig nicht so wirkungsvoll. Vicente Parra, eine Mayo aus Sonora,
erzaehlt, sie seien darauf angewiesen, dass die kleinen Bauern ihre
Felder nicht mit Pestiziden spritzen: Dort wachsen die Kraeuter, dort
pflanzt auch sie selbst an.
Juliana Sanchez Santo, Nahua aus der Sierra von Puebla, berichtet von
Diabetes. Viele Betroffene haetten nicht genug Geld, sich in
aerztliche Behandlung zu begeben. Also wuerden verschiedene
Heilkraeuter eingesetzt, um die Krankheit zu heilen. "Eines heisst
Chacabruja, und dann gibt es noch Techacló. Daraus bereiten
wir einen Sud fuer den Patienten, der sich schon ganz geschwaecht
fuehlt, die Sehkraft einbuesst, kaum mehr gehen kann. Bereits nach
einer Woche spuert er die Veraenderung. In drei Monaten ist sein Blut
gereinigt."
Die Pame Raquel Hernandez heilt Magen- und Darmkrankheiten: "Ich
bereite eine Kompresse aus Ei, Kuemmel, Zimt, Rosenblaettern, die
wird den Personen mit starkem Durchfall auf den Bauch, auf den Nabel
gelegt. Ich gebe ihnen auch einen Sud aus Guayaba, mit Blaettern vom
violetten Zuckerrohr, Limette, ein paar Tropfen bitterer Zitrone,
Karbonat und Staerke, als kalten Tee dreimal am Tag, das stoppt den
Durchfall, auch wenn schon Blut kommt." Es gebe viele Heilkraeuter,
die es zu schuetzen gelte.
Die jungen zweisprachigen Poetinnen aus Chiapas, Michoacan und
Jalisco ueberzeugen durch Stilsicherheit, Reife und die persoenliche
Art, mit der sie sprachgewandt ihre Gefuehle und Erfahrungen mit
mythischen Elementen bildhaft verknuepfen. Angelica Ortiz, Mitte
Zwanzig, gebuertig aus einem kleinen Dorf in Jalisco, arbeitet als
Assistentin an einem Sprachforschungsprojekt in Guadalajara. Sie
schreibt auf spanisch und wirrarika und bezieht viele ihrer Bilder
aus der Mythenwelt der Huicholes - wobei es sich bei dem "Krueglein
und Pfeil" in ihrem Gedicht "Wo mein Kanu mich erwartet" um
Sexualmetaphern handelt:
"Ich webe meinen Weg, ich sticke und flicke an ihm,/ solange der
Faden, der mich erhaelt, nicht reisst./ Solange er nicht reisst, webe
ich einen Teppich,/ der wird meinen Kindern ein Halt sein,/ dort
finden sie ihr Krueglein und ihren Pfeil./ Weine nicht, mein Gemahl,/
auf dem Blatt der Zeit versickert unser Blut,/ dort sollst du unser
Krueglein und unseren Pfeil behueten./ Unsere Kinder, sie sind unsere
Saat/ in dieser Erde, die uns geliehen ist./ Doch schon laedt die
Zeit mich ein, dorthin jenseits der Berge,/ wo das Kanu des Todes
mich erwartet,/ denn dieser Weberin ist ihr Zeitfaden nun
abgelaufen."
Wuensche und Forderungen
Bei der nachmittaeglichen Veranstaltung mit Liedern auf tenek,
raramuri und zapotekisch singen auch Sara Mamami aus Nordargentinien
sowie die Mapuche Sofia Painigueteo aus Chile. Erstmals sind zwei
internationale Kuenstlerinnen zum Treffen eingeladen. Sofia vertritt
bei den Diskussionen am entschiedensten politische Forderungen. Sonst
erscheinen die Wuensche der Teilnehmerinnen eher zahm oder direkt
praktisch: bessere Vernetzung, Auftritts- und Verkaufsmoeglichkeiten,
Erleichterungen bei der Materialbeschaffung... Im Interview wird die
Pai pai Juana Ines deutlicher: "Wir wollen vom Staat keine Almosen,
keine Haeuser oder Strom und Wasser, das wir dann noch selber
bezahlen muessen. Wir brauchen Moeglichkeiten, uns durch unsere
Arbeit selbst zu ernaehren."
Roselia Jimenez, Tojolabal von der Grenze zu Guatemala: "Manchmal
scheint es so, als ob wir uns selbst nicht moegen, uns nicht kennen.
Wir muessen unsere eigene Arbeit wertschaetzen und unsere
Unterschiedlichkeit respektieren lernen. Sie ist ein Teil unserer
Welt, diese Vielfalt der Voelker in Mexiko." Notwendig sei es, sich
selbst besser kennenzulernen, sich der eigenen Wurzeln bewusst
werden: "Um unsere Kulturwerte zu bewahren, muessen wir als Frauen
kaempfen. Ich als Frau aus Chiapas habe das erlebt. Wenn du es nicht
wagst, den Mund aufzumachen und kuschst, oeffnen sich dir alle
Tueren, aber wenn du redest und die Wahrheit sagst, wirst du
rausgeschmissen." Als Frauen wuerden sie doppelt diskriminiert,
"innerhalb unseres Volkes und auch draussen".
Mexiko ist zwar ein Vielvoelkerstaat, doch lebt die weisse und
mestizische Bevoelkerung trotzdem ihre vermeintliche "Ueberlegenheit"
gegenueber den indigenen Voelkern in allen Bereichen tagtaeglich aus
und handelt danach - eine gesellschaftlich bedingte Trennung und
Unterscheidung, die nicht nachvollziehbar ist. So war etwa Benito
Juarez, der "Vater Mexikos", ein sogenannter Indio.
Verschiedene indigene Frauen auf dem Treffen San Luis Potosí;
besitzen eine angesehene Stellung in der Stadt. Andere dagegen leben
in abgeschiedenen Comunidades, den doerflichen Gemeinschaften mit
Gemeinbesitz und koennen sich kaum von ihrer Arbeit ernaehren. Auf
dem Treffen selbst gingen sie alle schwesterlich miteinander zu und
praesentierten kreative Kraft. Hier schlummern gewaltige
nachwachsende Energien. Hoffentlich werden sie nicht vom
globalisierten Kulturbrei erstickt, denke ich bei der Abreise aus San
Luis Potosí.
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(c) Junge Welt 2005
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