Poonal Nr. 645 vom 2. November 2004
MEXIKO: Migrationsstrukturen im Wandel
Von Gerold Schmidt
(Mexiko-Stadt, 15. Oktober 2004, npl).- Die Grundtendenz ist seit
Jahren gleich: Immer mehr Mexikaner wollen in die USA auswandern.
Trotz verschärfter Grenzsicherungen und einer Vielzahl anderer
Hindernisse werden es in diesem Jahr voraussichtlich 400.000 von
ihnen schaffen. Eine neue Rekordzahl. Die regionale Zusammensetzung
der Migrationsströme hat sich nach jüngsten Untersuchungen von
Universitäten und Forschungsinstituten jedoch stark geändert.
Zwar stellen die nördlicher gelegenen Bundesstaaten Jalisco,
Guanajuato, Michoacán und Zacatecas immer noch das Gros derjenigen,
die Jahr für Jahr in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und
höhere Einkommen den Grenzgang wagen. Doch für die Migrationszuwächse
sind zunehmend Bundesstaaten aus dem Zentrum und dem Südosten Mexiko
verantwortlich, die noch vor fünf oder zehn Jahren eine unbedeutende
Rolle spielten. Der Bundesstaat Mexiko, die Hauptstadt Mexiko City,
aber vor allem die Bundesstaaten Veracruz und Chiapas gehören dazu.
Auch die Zusammensetzung der Migranten, die vorübergehend oder für
immer in den USA ihr Ziel sehen, hat ein anderes Gesicht. So wird die
Migration aus indigen geprägten Regionen immer massiver. Anfänge nahm
dies schon in den Achtzigerjahren mit Auswanderungsbewegungen der
Indígenas aus den Bundesstaaten Oaxaca und Guerrero. Doch zuletzt hat
sich dieser Prozess beschleunigt.
Herausragend ist das Beispiel Chiapas. Noch Ende der Neunzigerjahre
galt der an Guatemala grenzende Bundesstaat im Süden zwar als eine
Region, auf die viele mittelamerikanische Migranten als
Durchgangsstation Richtung Norden setzten. Doch Chiapas selbst war
als Bundesstaat mit niedrigerer Auswandererintensität eingestuft. Das
hat sich drastisch geändert. Innerhalb von weniger als einer Dekade
kletterte Chiapas von Platz 27 unter 31 mexikanischen Bundesstaaten
auf Platz Elf der Rangliste, die Auskunft über den Ausstoß lokaler
Arbeitskräfte in die USA gibt.
"Die chiapanekischen Campesinos und Indígenas tauschen mit großer
Geschwindigkeit die Maisernte, das Hauptprodukt für den
Familienkonsum, gegen die Dollarernte in den USA", so der Uniforscher
Daniel Villafuerte gegenüber dem Journalisten Juan Balboa, der die
neuen Daten für die Tageszeitung "La Jornada" aus verschiedenen
Quellen zusammen getragen hat. Knapp 500 Millionen Dollar
Auslandsüberweisungen, die "remesas", werden die in die USA
migrierten Chiapanecos in 2004 an ihre zurück gebliebenen Familien
schicken. Das entspricht in etwa dem Gesamtwert der Maisernte im
Bundesstaat und bedeutet fast die Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr
Für Villafuerte liegt der Grund dieser Entwicklung in der
Perspektivlosigkeit der traditionellen Landwirtschaft, die in Chiapas
im Verhältnis zu anderen Bundesstaaten eine vergleichsweise große
Rolle spielt und die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ernährte.
Wegfallende staatliche Unterstützung und die fehlende
Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Billigimporten haben eine direkte
Konsequenz: "Der Landbau hält nicht mehr durch", sagt Villafuerte.
Sein Kollege Jorge Cruz vom Forschungskolleg der Südgrenze nennt
Landkonflikte, politisch-religiöse Auseinandersetzungen innerhalb von
Gemeinden und die Militarisierung in Chiapas als zusätzliche Motive.
Das Phänomen macht offenbar auch vor dem Einflussgebiet der
aufständischen Zapatisten nicht halt. Obwohl die zivile Basis des
Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) mit ihren
Selbstverwaltungsstrukturen in zahlreichen chiapanekischen
Landkreisen versucht, ökonomisch und politisch Widerstand gegen die
neoliberalen Tendenzen der Globalisierung zu leisten, kommt es ebenso
in den zapatistischen Gemeinden zum Aderlass durch Migration.
Allerdings nennt Balboa hier keine konkreten Zahlen.
Insgesamt sind es 30.000 Chiapanecos, die sich allein am Ende dieses
Jahres Richtung USA aufgemacht haben werden. Während Agenturen mit
speziellen Transportangeboten an die Grenze zu den USA aufgrund
lukrativer Geschäftsaussichten wie Pilze aus dem Boden schießen,
beginnt die Reise für die Migranten in Chiapas wie anderswo in der
Regel mit Schulden. Ganze Dorfgemeinden bluten personell aus. In
einigen Gemeinden, berichtet Balboa, zählen die Autoritäten die
Bewohner wöchentlich nach.
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