Bilanz des ersten Jahres der "Guten Regierungen" in Chiapas
Der autonome Impfausweis
Seit einem Jahr sind die zapatistischen "Juntas de Buen Gobierno"
(Räte der Guten Regierung) im Amt. Eine Zwischenbilanz anhand der
Communiqués der EZLN und der eigenen Erfahrungen in der
Zusammenarbeit mit den Zapatistas.
"La Realidad: Am Eingang, in welchem der Rat der Guten Regierung
namens "Hacia la Esperanza" untergebracht ist, steht eine kleine
Klinik, ein grün angemaltes Holzhäuschen. Einige Leute stehen um das
Haus herum. Auf Kartontafeln wird, neben dem Beschrieb von
verschiedenen Verhütungsmethoden, eine Kampagne zur Impfung von
Kindern und Erwachsenen angekündigt. "Wir bekämpfen Diphtherie und
Tetanus", verkündet stolz der Gesundheitsverantwortliche, ein
Indigener mittleren Alters, der Buch über die betreuten Personen
führt. In der Warteschlange halten die Frauen die autonomen
Impfausweise ihrer Kinder in der Hand."
Mit dieser Alltagsszene aus La Realidad beginnt Gloria Muñoz ihren
Bericht über den Widerstand in den fünf zapatistischen Zentren -
"Caracoles" genannt. Gloria, welche ihr Buch (EZLN: 20+10 Das Feuer
und das Wort) über die zapatistische Bewegung Ende Oktober 04 in
Zürich präsentieren wird, ist eine von zahlreichen KommentatorInnen,
die nach einem ersten Jahr der neuen offenen Autonomiestrukturen der
Zapatistas versuchen, eine Bilanz zu ziehen. Auch Subcomandante
Marcos meldete sich nach längerer Abwesenheit wieder zu Wort und
beschrieb in einem achtteiligen Communiqué die Fortschritte und
Herausforderungen der neuen indigenen Regierungen im Aufstandsgebiet.
Marcos thematisiert die eingestandenermaßen schwache
Frauenpartizipation in den zapatistischen Regierungsstrukturen, die
Gesetze gegen Umweltzerstörung, die eigene Gerichtsbarkeit mit
zahlreichen Fallbeispielen und die partielle Zusammenarbeit mit der
chiapanekischen Bundesregierung. Aber auch soziale Fragen, zu welchen
sich die Zapatistas bisher kaum äußerten, werden benannt. So die
Migration und der damit verbundene Menschenhandel, welcher auch durch
zapatistisches Gebiet führt. Ausführlich werden die Hauptforderungen
der Zapatistas beleuchtet: Bildung, Gesundheit und die Verwaltung der
Territorien, was auch indigene Rechtssprechung einschließt. Anhand
einiger illustrativer Beispiele aus den Texten und Communiqués rund
um das einjährige Jubiläum der "Juntas de Buen Gobierno" (JBG) soll
die zapatistische Praxis beleuchtet werden.
(Sich) Regieren als kollektiver Lernprozess
Gleich zu Beginn der Communiqués geht Marcos auf Kritiken der
Zivilgesellschaft an den neuen zapatistischen Regierungsstrukturen
ein. Denn diese regionalen Gremien, in denen je zwei Delegierte der
autonomen Bezirke Einsitz haben, rotieren alle ein bis zwei Wochen.
So lösen sich Regierungsteams in den fünf regionalen Hauptorten der
Zapatistas ab. Häufig bedingt diese Rotation ein mehrfaches Erklären
derselben Vorschläge und Ideen, die an die Zapatistas herangetragen
werden. "Wenn wir uns endlich mit einer Equipe des Rates verständigt
haben, dann wechselt diese und wir können wieder von vorne
anfangen.", so das Lamento der "sociedades civiles", insbesondere der
NGO's. Laut Subcomandante Marcos liegen die "Zivilgesellschaften"
jedoch falsch, wenn sie darin einen Fehler der Strukturen sehen: "Der
Zweck ist, dass die Aufgabe des Regierens nicht ausschließlich einer
Gruppe vorbehalten ist und es keine "professionellen" Anführer gibt,
damit so viele Menschen wie möglich sie erlernen können und damit
wird die Vorstellung zurückgewiesen, dass das Regieren nur von
"besonderen Menschen" ausgeführt werden kann. (...) Eine gründliche
Analyse wird zeigen, dass dies ein Prozess ist, in dem ganze Dörfer
lernen zu regieren." Die Rotation verhindere zudem die Korruption.
Sie ermöglicht den Regierenden, welche diese Aufgabe als freiwillige,
unbezahlte Gemeindearbeit (in den indigenen Kulturen "cargo" genannt)
verrichten, nebenher weiterhin ihre Felder zu bestellen. Dennoch ist
wohl unbestritten, dass diese Art von "Milizverwaltung" den Nachteil
einer Schwerfälligkeit hat, die für BesucherInnen eine Geduldsprobe
darstellt.
Doch zwei Fehler gibt Marcos freimütig zu: Der erste Fehler ist die
sehr geringe Partizipation der Frauen an den "Juntas de Buen
Gobierno" (kurz: JBG). "Regierungsarbeit bleibt immer noch den
Männern vorbehalten. Wir wollen kein "empowerment" der Frauen, so wie
es in den oberen Schichten Mode ist, sondern es fehlt in der JBG
immer noch der Raum, in dem die starke Partizipation der Frauen in
der sozialen zapatistischen Basis ihren Ausdruck findet. Und nicht
nur das. Obwohl zapatistische Frauen im Widerstand eine fundamentale
Rolle hatten und haben, ist die Achtung ihrer Rechte in einigen
Fällen bloß eine Absichtserklärung auf Papier. Die Gewalt in der
Familie hat abgenommen, das ist wahr, aber mehr durch die
Einschränkung des Alkoholverbrauchs, als durch eine neue Familien-
und Geschlechterkultur." Konkrete Vorschläge zur stärkeren
Beteiligung der Frauen an den Regierungsstrukturen fügt der Sprecher
der EZLN jedoch nicht an.
Der zweite Mangel ist der militärische Einfluss der Guerilla EZLN auf
diese zivilen zapatistischen Strukturen: "Die Tatsache, dass die EZLN
eine politisch-militärische und klandestine Organisation ist,
korrumpiert immer noch Prozesse, die demokratisch sein sollten und
müssen. In einigen JBG und Caracoles trafen Kommandanten des CCRI
(Kommandantur der EZLN) Entscheidungen, die ihnen nicht zustanden und
mischten sich in Probleme der JBG ein. ‚Gehorchend regieren' ist ein
Anspruch, der weiterhin gegen Wände stößt, die wir selbst errichtet
haben." Der Widersprüchlichkeit, aus einer bewaffneten Aufstandsarmee
hinaus die zivile Verwaltung der indigenen Autonomie zu kreieren, ist
sich Marcos und die EZLN sehr wohl bewusst. Wie schwer der
militärische Schatten der Guerilla tatsächlich auf den JBG lastet,
ist von Außen schwer zu beurteilen.
Nach dem Eingeständnis dieser beiden Mängel der zapatistischen
Strukturen bedankt sich Marcos in seinem Rechenschaftsbericht für die
nationale und internationale Unterstützung. Die Ein- und Ausgaben der
fünf zapatistischen Regionen werden offengelegt. Insgesamt haben die
JBG in diesem ersten Jahr ihres Bestehens, also von August 2003 bis
August 2004, rund zwölf Millionen Pesos (1.3 Mio. CHF) durch
Spendengelder eingenommen und 10 Millionen (1.1 Mio. CHF) ausgegeben.
Und dies nicht für Löhne, Spesen oder andere "cajas chicas"
(mexikanisch für Korruptionskassen) der Regierungsverantwortlichen,
sondern für die diversen Projekte der Regionen. Genaue Abrechnungen
pro Region können in den Caracoles eingesehen werden.
Entwicklung von unten
Autonome Projekte schießen momentan regelrecht aus dem Boden. Es
vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein Ausbildungszentrum für
Lehrer, eine Gesundheitsstation oder eine Primarschule eingeweiht
wird. Dabei sind von Projekt zu Projekt große Unterschiede in der
Realisierung auszumachen. Im Bereich der Gesundheit erwies sich
beispielsweise die Inbetriebnahme des Spitals in San José del Rio als
ungemein mühsam. Tausende von Freiwillige erstellten zwar den großen
Bau in drei Jahren, doch ein funktionierendes Spital besteht eben
nicht nur aus Zement und Gerätschaften. Es müssen die Personen
vorhanden sein, welche die Apparaturen auch warten und bedienen
können und welche medizinische Grundkenntnisse aufweisen.
Auch in diesem Fall erwies sich das zapatistische System der
"cargos", der unbezahlten Gemeindeaufgaben, als sehr träge: Oft
wurden die Ausbildungen zum Gesundheitsverantwortlichen abgebrochen
oder die Kurse zwar beendet, aber die Schüler wandten ihr Wissen
nachher nicht an, da sie aus purer Not zurück auf ihre Felder
mussten. Dennoch scheint die Struktur des Spitals inzwischen soweit
gefestigt zu sein, dass drei Frauen und drei Männer ehrenamtlich fest
tätig sind und von den Gemeinden mit dem Lebensnotwendigen
unterstützt werden. Diese neuen, unbefristeten "cargos" stellen eine
Neuinterpretation der bisherigen Rotation dar (die sich so auch in
anderen Projekten der Zapatistas manifestiert, beispielsweise bei den
Kaffeekooperativen). Nach sieben Jahren Aufbautätigkeit fand in San
José del Rio am 1. August 2004 die erste Operation in diesem Spital
mitten im Dschungel statt. Auch werden hier die 118
Gemeindeverantwortlichen der Region im Bereich Gesundheit
aus- und weitergebildet.
Das zapatistische Gesundheitssystem kennt noch einen zweiten großen
Spital, die "Guadalupana" in Oventik. Dort stimmen die Erfahrungen -
nach elf Jahren Betrieb - um einiges optimistischer. Über hundert
Kranke werden täglich behandelt. Auch Nicht-Zapatistas nehmen die
Gesundheitsleistungen der Zapatistas gerne in Anspruch. Schließlich
machen sie erstens dieselben Erfahrungen rassistischer
Diskriminierung im offiziellen Gesundheitssystem und können sich
zweitens auch die hohen Kosten der offiziellen Medizin kaum leisten.
In den zapatistischen Spitälern, die in den Bezirken durch sogenannte
"Mikrokliniken" und in den Gemeinden mit Gesundheitsposten ergänzt
werden, können die PatientInnen mit sehr geringen Kosten für
Medikamente und Gratisbehandlung rechnen.
Das Schulwesen der Zapatistas hat oft mit ähnlichen Schwierigkeiten
zu kämpfen: Die zu Lehrkräften ausgebildeten Personen nehmen große
persönliche Entbehrungen auf sich. Viele verlassen das "cargo" als
Lehrer wieder. Denn, wie Gloria Muñoz schreibt: "Alle zapatistischen
Gemeindearbeiter bekommen keinen Gehalt irgendwelcher Art. Nur die
Dörfer unterstützen sie mit Lebensmitteln und
Fahrgeldentschädigungen." Hinzu kommt, dass viele Lehrkräfte über die
fehlende Wertschätzung ihrer Arbeit klagen: Den Bauern fehlt oft die
Vorstellung davon, wie mühsam und aufreibend die Arbeit eines
Lehrers, eines Kooperativenvorstands oder eines
Gesundheitsverantwortlichen sein kann. Da diese nicht mit
ihren Händen arbeiten und abends nicht dreckig und verschwitzt von
ihrer Arbeit nach Hause kommen, werden sie gar als Faulenzer
belächelt. Dementsprechend dürftig fällt oft die "gegenseitige Hilfe"
(in Form von Naturalien und Arbeitsleistungen auf dem Feld des
"cargo" - InhaberInnen) aus, welche nach zapatistischer Ideologie das
"cargo"-System tragen sollte. Doch trotz dieser Widerstände sind auch
im Bildungsbereich die Fortschritte der letzten Monate beachtlich:
"Die Eröffnung von 83 neuen autonomen Primarschulen (...) im Rahmen
des "Sistema Educativo Autónomo Revolucionario Zapatista de
Liberación Nacional (SEARZLN) wurde möglich durch den
Ausbildungsabschluss einer neuen Generation von Lehrern,
welche in der rebellischen Sekundarschule "Primero de Enero" in
Oventik ausgebildet wurde. Dies ist die erste zapatistische
Sekundarschule. Ein weiteres Lehrer-Ausbildungszentrum befindet sich
im Caracol Roberto Barrios, in welchem die fünfte Lehrergeneration
ausgebildet wird. Ferner ist dieser Region 2003 ein sechsräumiges
Schulhaus für Sekundarschulunterricht eingeweiht worden. Das
zapatistische Schulsystem bietet damit eine Alternative nicht nur für
die Region, sondern für das ganze Land - "...und einmal mehr sind die
Besitzlosen jene, welche einen Ausweg aufzeigen", wie Luis Javier
Garrido in Anspielung auf die Privatisierung des Bildungswesens in
Mexiko meint.
Trotz freiwilliger Gemeindearbeit und tiefen Kosten, ohne die
ökonomische Unterstützung von Außen wäre der Aufbau dieser autonomen
Gesundheits- und Bildungssysteme wohl kaum finanzierbar. Die
"politisch aktive Zivilgesellschaft" ist in den Worten von Marcos die
"dritte Schulter" auf welche die Zapatistas zählen können. Der
Subcomandante bedankt sich für diese Unterstützung durch ökonomische
Mittel aber auch durch Mitarbeit in Entwicklung und Realisierung der
Projekte. Nach wie vor nehmen die Zapatistas kein Geld von der
Regierung an - auch wenn das Verhältnis zur chiapanekischen Regierung
von Pablo Salazar als entspannt bezeichnet werden kann. Ein Beispiel
dafür ist das Schulsystem. Der chiapanekische Schulminister, Alfredo
Palacios Espinosa, meint gar, die zapatistischen Schulen seien
willkommen: "Wenn sie Lerninstitute sind mit dem Ziel, Schreiben und
Lesen zu fördern, scheint uns dies sehr gut im Kampf gegen den
Analphabetismus. Wenn sie andere Ziele verfolgen, dann können wir
dazu nichts sagen, aber was sich auf die Erziehung bezieht, ist
willkommen". Damit verrät er allerdings auch gleich seine Vision
einer funktionierenden Schule: Das stumpfe Vermitteln von Lesen
und Schreiben, das im trägen mexikanischen Schulwesen häufig mit
Auswendiglernen und militärischem Drill wie Fahnenappellen
einhergeht. Zur Selbstständigkeit wird in der offiziellen Schule kaum
jemand erzogen.
Autonome Gerichtsbarkeit
Die Rechtsprechung ist eine der komplexesten Aufgaben der JBG. So hat
zum Beispiel die JBG im Caracol "La Garrucha" im ersten Jahr der
neugeregelten autonomen Struktur in 22 Konfliktsituationen
vermittelt, wie Hermann Bellinghausen in der Jornada schreibt. Dabei
wurden 17 Fälle gelöst, 4 sind noch hängig und nur ein Fall führte zu
keiner Lösung. Anzumerken ist, dass es sich bei den gelösten Fällen
auch um Konflikte zwischen Zapatistas und ihnen feindlich gesinnten,
teilweise sogar paramilitärischen Organisationen handelte. Diese JBG
hatte Fälle zu lösen wie zum Beispiel den Diebstahl von neun Pferden,
vier Sätteln und einer Motorsäge in Ocosingo. Auch wurden einige
Zapatistas bestraft, welche Mitglieder anderer Organisationen
angegriffen hatten. Das Transportsystem der Sammeltaxis und die
Vergabe der Routen ist ein Dauerbrenner in diesen Dschungeltälern:
Die JBG von La Garrucha hat deshalb zwischen verschiedenen
Transportfirmen vermittelt und 186 Vehikeln eine Zulassung erteilt.
Bei den Zapatistas steht in der Rechtsprechung nicht die Bestrafung
im Vordergrund, sondern die Suche nach einer konstruktiven
Konfliktlösung mit Lerneffekt und Wiedergutmachung des Schadens. In
den autonomen Gebieten wird die Zuständigkeit der zapatistischen
Rechtsprechung von der Regierung Salazar anerkannt. Teilweise kommt
es gar zu einer Zusammenarbeit: Ermitteln und sammeln von Beweisen
durch die Zapatistas, verfolgen und bestrafen durch
Regierungsbehörden. Anfang Juli 04 wurde im Bezirk Chilón im Zuge
einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Zapatistas und einer
anderen Organisation ein Mädchen einer zapatistischen Familie von
drei politischen Widersachern vergewaltigt. Marcos schreibt dazu: "Im
Falle von Chilón, wo im Zuge einer Auseinandersetzung zwischen
Zapatistas und Nicht-Zapatistas ein 11-jähriges Mädchen vergewaltigt
wurde, konnte die Ursache des Konflikts beigelegt werden. Die Daten
der Vergewaltiger (inklusive medizinischer Analyse, welche die
Vergewaltigung des Mädchens dokumentieren) wurden an
die zuständigen Behörden weitergegeben (...) und nichts geschah
(wenigstens bis zu dem Tag, an dem ich dies schreibe). Die
Vergewaltiger sind auf freiem Fuß, obwohl sie nicht mit dem Rückhalt
ihrer Organisation zählen können (welche sich vom Verbrechen
distanziert)." Nachdem Subcomandante Marcos diese Passivität der
offiziellen Behörden verurteilt hatte, verhafteten einen Tag später
24 Polizisten die Täter. Diese Zusammenarbeit zwischen autonomen und
bundesstaatlichen Behörden ist keine völlig neue Entwicklung. Als
Anfang 2000 in Chavajebal (El Bosque) vier Mitglieder der
Kaffeekooperative Mut Vitz beraubt und umgebracht wurden, lieferten
die Zapatistas den offiziellen Behörden die Beweise und die Namen der
Täter. Dabei forderten sie die Behörden ultimativ zum Handeln auf,
ansonsten sähen sie sich zu Selbstjustiz gezwungen. In Übereinkunft
mit den autonomen Behörden verhaftete ein großes Kontingent von
Polizisten die Täter tags darauf. Es scheint, dass Kapitalverbrechen
die zapatistische Strafverfolgung überfordern und die indigenen
Autonomiebehörden sich dann an die staatlichen Behörden richten
müssen. Es ist positiv zu bemerken, dass die autonomen Behörden
dadurch die frühere Straflosigkeit in der Region stark einschränken
konnten, wie Marcos schreibt: "Im Unterschied zu früheren Jahren
haben die Konflikte zwischen Gemeinden und Organisationen auf dem
Gebiet der JBG abgenommen, Kriminalität und Straflosigkeit gingen
zurück. Die Konflikte wurden gelöst, nicht nur einzelne
Konfliktpartner bestraft. Wenn Ihr mir nicht glaubt, so schaut nach
in den Archiven, in den Gerichten, in den Ministerien, in den
Gefängnissen, in den Spitälern und auf den Friedhöfen. Vergleicht
früher und jetzt und zieht eure Schlüsse."
Interessant in der Auseinandersetzung um Rechtsprechung ist
insbesondere, dass es den Zapatistas in ihrer "Autonomie ohne
Erlaubnis" gelingt, die Behörden zu einer Zusammenarbeit zu zwingen:
"Die EZLN ist den Weg gegangen, sich vor der Regierung des
Bundesstaates zu legitimieren, indem sie diese nicht direkt
konfrontiert, sondern sie geschickt zu Verhandlungen auf ihrem
eigenen Territorium und mit ihren eigenen Autoritäten zwingt", meint
Onesimo Hidalgo dazu. Früher, vor der zapatistischen Rebellion,
machten die Indígenas in unterwürfiger Haltung Bittgänge zur
Regierung und wurden kaum angehört. Heute kommt die Regierung in die
Caracoles und verhandelt mit den indigenen Räten!
Und die Politik?
Autonomie heißt schwierige Alltagssituationen selbständig meistern.
Fragt sich, ob die Zapatistas nicht die politische Perspektive ihres
Kampfes hinten anstellen. Mit den JBG wurde wohl lokal eine Isolation
der Zapatistas durchbrochen: Die zapatistische Bewegung hat durch die
autonomen Räte an Zugänglichkeit und Legitimität gewonnen und steht
wieder im Dialog mit anderen Bauern-Organisationen. Viele Zapatistas
sollen aktiv ins "mandar obedeciendo", das gehorchende Regieren,
einbezogen werden. Auch werden die Budgets der JGB offengelegt, der
ganze Prozess des Regierens soll transparent sein. Die neuen
Autonomiestrukturen hängen stark von der zapatistischen Basis ab: die
häufig rotierenden Ämter kosten viel Einsatz, wohlgemerkt
unentgeltlichen, nur durch das zapatistische Bewusstsein motiviert.
Überschätzen da die Zapatistas nicht die Fähigkeiten und Ressourcen
der Basis, die zuallererst mit dem täglichen Überleben beschäftigt
ist?
Die Konzentration auf die regionale autonome Praxis kann als ein
Zeichen dafür angesehen werden, dass sich die Zapatistas mit der
Regierung arrangiert haben, wie Guillermo Almeyra in der "La Jornada"
den Zapatistas vorwirft. Fährt die EZLN eine Strategie der
Entspannung, während sie gleichzeitig verbal weiter gegen die
mexikanische "classe politique" donnert? Sind die zapatistischen JBG
einfach der "Wurmfortsatz eines staatlichen Apparates, um soziale
Konflikte zu reduzieren und zu domestizieren?" Ignoriert diese
"friedliche Koexistenz" nicht, "dass das Land besetzt wurde, um das
Recht des kapitalistischen Eigentums dem überlegenen sozialen und
kollektiven Recht auf Überleben unterzuordnen", fragt Almeyra in der
Jornada.
Ein Beispiel für die pragmatische Herangehensweise der Zapatistas
ist, dass in ihrem Einflussgebiet die letzten Wahlen nicht mehr aktiv
boykottiert wurden. Auf die offizielle Anfrage der bundesstaatlichen
Wahlbehörde an die JBG, ob sie Wahlurnen aufstellen dürften,
antworteten die JBG ebenfalls mit offiziellen, aber autonomen
Dokumenten: "Wir glauben zwar nicht daran, dass staatliche Wahlen ein
wirklicher Pfad für die Interessen des Volkes darstellen, aber wir
wissen, dass einige Menschen sie noch als einen Weg betrachten, um
die Probleme des mexikanischen Volkes zu lösen." Allerdings würden
die JBG allfällige zapatistische und nicht-zapatistische Gemeinden,
welche die Aufstellung von Wahlurnen ablehnten, in ihrem Wahlboykott
unterstützen. So fanden dann Ende September 04 Regionalwahlen in
ruhigem Klima statt - nicht zuletzt deshalb, weil die Wahlbeteiligung
im Aufstandsgebiet sehr tief war.
Den Zapatistas kann vorgeworfen werden, sie konzentrierten sich auf
den Kleinkram in ihren autonomen Gemeinden und ließen die nationale
Perspektive außer Acht. Marcos bezeichnet die autonomen Gebiete als
"kleine Inseln, die trotz des neoliberalen Hurrikans bestehen". Diese
Inseln haben wohl nur eine Zukunft, wenn die Autonomie Schule macht,
wenn in weiteren indigenen Regionen Mexikos die Autonomie in die
Praxis umgesetzt wird Und wenn sich auf der Grundlage dieser lokalen
Autonomie-Erfahrungen der Widerstand gegen die Privatisierung der
natürlichen Ressourcen, gegen drohende Vertreibungen (wie in den
Montes Azules im lakandonischen Urwald) und gegen weitere neoliberale
Angriffe verstärkt.
Bibliographie:
Die Jornada-Artikel von Guillermo Almeyra ("Algunas preguntas a
Marcos"), Hermann Bellinghausen, Luis Hernández Navarro (Desarrollo
desde abajo"), Luis Javier Garrido ("La educación zapatista") und
Gloria Muñoz ("Chiapas - La resistencia") sind auf www.chiapas.ch
dokumentiert. Auch die Communiqués von Subcomandante Marcos ("Leer un
video") sind dort zu finden. Das CIEPAC-Bulletin von Onecimo Hidalgo
("Los actores y el proceso electoral en Chiapas") kann man auf
www.ciepac.org nachlesen.
Direkte Solidarität mit Chiapas
16.10.2004
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