ND vom 12.10.04
Ausbau der Autonomie in Chiapas
Selbstverwaltung in Bildung und Gesundheit schreitet voran
ND: Wie schätzen Sie die aktuelle Bedeutung der zapatistischen Bewegung im
Bundesstaat Chiapas ein?
Die zapatistische Bewegung organisiert und stärkt im Moment ihre Autonomie
in
den fünf indigenen Regionen, in denen sie präsent ist. Es handelt sich um
hunderttausende Männer, Frauen und Kinder, die sich auf eine neue Art und
Weise
selbst regieren. Entscheidend ist der Grundsatz des »gehorchenden
Befehlens«.
Dies bedeutet, die Macht von der Basis ausgehend zu organisieren, zu
überwachen
und umzusetzen. Die Zapatistas sind eine reale Kraft im gesamten Bundesstaat
und
repräsentieren einen wichtigen politischen Bezugspunkt für die Indigenen und
Marginalisierten des ganzen Landes - Frauen, Studierende, Campesinos,
Arbeitslose etc. -, weil sie mit einer konkreten Praxis in mehr als 1000
indigenen Gemeinden zeigen, dass man gegen die Macht kämpfen kann und
sollte.
Wie sieht es mit der Organisation auf nationaler Ebene aus?
Parallel zu ihrer lokalen Praxis haben sie die Initiative gestartet, ein
Widerstandsnetz auf nationalem Niveau zu schaffen. Ein Netz, indem sich die
Kämpfer zusammenschließen können und indem die Kämpfe des gesamten Landes
kommuniziert werden. Diese Initiative trägt den Namen »Plan La
Realidad-Tijuana«.
Verschiedene Bewegungen, die außerhalb von politischen Parteien und
Institutionen arbeiten, haben sich bereits vernetzt.
Sie haben über sieben Jahre in verschiedenen zapatistischen Gemeinden gelebt, ohne sie zu verlassen.
Wie ist das alltägliche Leben dieser Gemeinden im Widerstand?
Hier erlebt man den ganzen Tag, 24 Stunden, die Erfahrungen des Kampfes. Es
sind
Männer, Frauen und Kinder, die täglich arbeiten und den Widerstand
organisieren.
Die Frauen stehen um vier Uhr auf, erledigen ihre Arbeit und treffen sich
danach
in Kooperativen, sie nehmen an Versammlungen teil, in denen über Aktionen
und
die weitere Arbeit entschieden wird. Die Männer gehen auf die Felder, kehren
nach Hause zurück und machen mit ihrer Arbeit innerhalb der Organisation
weiter,
zum Beispiel mit der Überwachung der Sicherheit der Gemeinde oder der
Gesundheitsvorsorge. Am wichtigsten sind die Kinder. Sie gehen fast jeden
Tag
zur autonomen rebellischen Schule ihres Dorfes. Dort lernen sie nicht nur
Mathematik, Lesen, Schreiben und Sozialwissenschaften, sondern - und das ist
das
Wichtigste - sie lernen zu kämpfen, sich zu verteidigen und niemals mehr das
Gesicht wegen ihrer indigenen Identität zu verstecken.
Das hört sich nach paramilitärischer Ausbildung an?
Nein. Sie lernen nicht mit den Waffen zu kämpfen, sondern ihre Rechte zu
kennen,
ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart. Auf diese Weise werden sie ihre
Zukunft
aufbauen. Das Beeindruckendste in den Gemeinde waren die organisatorischen
Fähigkeiten und die Entscheidungsfindung durch Versammlungen und Konsens.
Die
Plena sind täglich und dort wird alles beschlossen, was die Gemeinde
betrifft.
Es gibt bis zu drei oder vier Versammlungen pro Tag, um über Probleme oder
die
Teilnahme an Mobilisierungen ihrer Organisation zu diskutieren, das heißt
der
Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN.
Gibt es Fortschritte der Bewegung in Bezug auf ihre Autonomie in Chiapas?
Über dieses Thema könnten wir lange reden und es würde nicht reichen! Das
Wichtigste ist, dass alles im Widerstand aufgebaut wird -Bildung,
Gesundheit,
Handel, Kommunikation, Frauenkooperativen etc. - alles ohne jegliche Hilfe
der
Regierung. Sie realisieren alles durch ihre Arbeit und dank der Begleitung
von
hunderten Kollektiven aus Mexiko und vielen anderen Teilen der Welt. Ein
Beispiel ist der Handel. In einigen Zonen kaufen die »Juntas der Guten
Regierung«, die zapatistischen Instanzen der Selbstverwaltung, direkt die
Maisproduktion der Indigenen auf. Sie zahlen ihnen faire Preise und
kommerzialisieren die Produkte später außerhalb des Rebellenterritoriums.
Mit
dieser Praxis bekämpfen sie die Zwischenhändler und ihre Spottpreise. Die
Gewinne werden dann in andere kollektive Projekte investiert, wodurch das
Geld
nicht Einzelnen, sondern der Allgemeinheit zu Gute kommt.
Wie sieht es im Bildungs- und Gesundheitsbereich aus?
Dort gibt es die größten Fortschritte. Die Zapatisten bilden selbst ihre
Fachleute aus, die danach in ihre Dörfer zurückkehren und ihre Arbeit in
kleinen
autonomen Schulen und Gesundheitsstationen aufnehmen. Die so genannten
Promotoren erhalten keinerlei Lohn, aber im Gegenzug werden sie von den
Gemeinden bei der Feldarbeit unterstützt. Es gibt auch Arbeiten im Bereich
Kommunikation wie zum Beispiel eigene Radiosender. Selbstverständlich gibt
es
auch viele Projekte von Frauenkooperativen. Sie produzieren und verkaufen
ihre
Güter auf kollektive Weise, was ihnen ein eigenes Einkommen ermöglicht und
auch
eine andere Rolle innerhalb der Familie und der Gemeinschaft zuweist.
Ihr neues Buch ist bereits auf Englisch, Französisch, Italienisch, Deutsch
und
Persisch übersetzt worden. Wovon handelt es?
Es ist ein Versuch, sich den Menschen zu nähern, vor allem den Jugendlichen,
um
ihnen diese rebellische Geschichte zu vermitteln. Das Buch ist in drei Teile
unterteilt. Im ersten sprechen Beteiligte über den Aufbau der EZLN im
Untergrund
zwischen 1983 und 1994. Der zweite Teil liefert eine Chronologie des
zapatistischen Aufstands von 1994 bis heute. Im dritten Abschnitt berichtet
Subcomandante Marcos, der Sprecher der EZLN, über die 20 Jahre seit der
Gründung
der EZLN und die zehn Jahre ihres öffentlichen Wirkens. Marcos spricht über
ihre
Fehler, ihre Erfolge, die Überraschungen, auf die sie gestoßen sind, über
Treffen und Trennungen und über den globalen Kampf gegen den
Neoliberalismus.
Mit Muñoz Ramírez sprach für ND Luz Kerkeling.
(Neues Deutschland 12.10.04)
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