Disproportion

Mexiko: Sozialversicherung vor dem Kollaps - Reform treibt Gewerkschaft auf die Barrikaden

Die mexikanische Sozialversicherungsanstalt IMSS ist hoch verschuldet. Eine neue Tarifstruktur soll Abhilfe schaffen, stößt bei den Gewerkschaften jedoch auf heftigen Widerstand. Während die kürzlich angekündigte Reform die finanziellen Probleme der staatlichen Versicherung kaum lösen kann, steht zugleich ein gigantischer Arbeitskonflikt in Aussicht, denn die Mitarbeiter des Apparates gehören zu den bestbezahlten Beschäftigten des Landes.

Nach dem Willen der Regierung von Präsident Vicente Fox sollen neu eingestellte Mitarbeiter des Instituto Mexicano de SeguroSocial, das rund 360000 Menschen beschäftigt, künftig nicht mehr dieselben Versorgungsleistungen erhalten wie ihre alteingesessenen Kollegen. Wie alle anderen Mexikaner auch sollen sie erst mit 65 Jahren in Rente gehen können und hierfür zudem höhere Beiträge entrichten. Studien hatten ergeben, daß das Sozialversicherungssystem Mexikos kurz vor dem Kollaps steht, was unter anderem auf das extrem niedrige Renteneintrittsalter der IMSS-Mitarbeiter zurückgeführt wird.

Die Beschäftigten des Versicherungsinstitutes, das für die medizinische Versorgung von über zwölf Millionen Menschen verantwortlich ist, gehen im Durchschnitt mit 53 Jahren in den Ruhestand. Darüber hinaus konnten männliche Versicherungsmitarbeiter bisher nach 28 und Frauen sogar nach 27 Dienstjahren in Rente gehen, ungeachtet ihres Lebensalters. Ihre monatliche Pension liegt sogar über dem letzten Verdienst.

Bereits im Juli hatte das Parlament in Mexiko eine Gesetzesinitiative verabschiedet, die eine neue Tarifstruktur für das staatliche Sozialversicherungsinstitut vorsieht. Mit einigen Änderungen passierte das Gesetz jetzt den Senat. Als Reaktion darauf blockierten verärgerte Mitarbeiter des IMSS mehrere Hauptstraßen in Mexiko-Stadt und legten so zeitweise den Verkehr lahm. Sollte Präsident Fox das neue Gesetz tatsächlich wie vorgesehen unterzeichnen, hat die Gewerkschaft Union Nacional de Trabajadores aus Solidarität mit einer Unterbrechung der Stromversorgung und der Telefonverbindungen am 1. September gedroht. Die Beschäftigten des IMSS selbst haben für diesen Fall Streiks angekündigt. Diese würden rund 140000 Kinder in vom IMSS betriebenen Tagesstätten betreffen, außerdem mehr als 1500 Krankenhäuser und zehn nationale medizinische Versorgungszentren.

Kritikern geht die Reform nicht weit genug. "Das Hauptproblem haben wir damit nicht gelöst. Aber zumindest haben wir dafür gesorgt, daß das Institut überhaupt weiter funktionieren kann", sagt ausgerechnet Genaro Borrego, Abgeordneter der oppositionellen Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), der früher Direktor des IMSS war.

Héctor Castellanos, der dem Institut seit 1989 angehört, argwöhnt, die mit den Stimmen der Regierungspartei und der PRI verabschiedete Reform sei ein erster Schritt zur Privatisierung der gesamten Sozialversicherung, wie sie vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank gefordert werde. Es gehe nicht an, daß die Mitarbeiter des IMSS für die Finanzkrise verantwortlich gemacht würden, nur weil sie einen anständigen Tarifvertrag hätten, meint Castellanos.

An der Problemlage ändert das wenig. Allein in diesem Jahr muß das Institut umgerechnet 15 Milliarden US-Dollar an Lohnkosten für aktive und pensionierte Beschäftigte ausgeben. Nur 71 Millionen Dollar bleiben dagegen für seine eigentliche Aufgabe, den Unterhalt von Kliniken und anderen Sozialeinrichtungen, übrig. Der größte Teil der Löhne und Renten der Mitarbeiter, die jedes Jahr um drei Prozent steigen, wird bereits aus Steuermitteln gezahlt. Die Schulden des Instituts belaufen sich auf rund 35 Milliarden Dollar. Dem stehen 2,4 Milliarden Dollar an Reserven gegenüber.

"Wenn seine Funktionsweise nicht geändert wird, wird das IMSS innerhalb der nächsten fünf Jahre zugrunde gehen", sagte der Direktor des Instituts, Santiago Levy, im Februar und forderte die Beschäftigten auf, ihre Versorgungssysteme neu zu verhandeln. Diese winkten jedoch ab mit dem Hinweis, zunächst solle Levy sich selbst eine Lohnkürzung verordnen. Das Gehalt des Direktors liegt bei mehr als 20000 Dollar im Monat.

Zur Lösung der Finanzmisere hat die Gewerkschaft der IMSS eine allmähliche Steigerung der Sozialversicherungsbeiträge der Beschäftigten von derzeit drei Prozent bis auf sechs Prozent im Jahr 2012 vorgeschlagen. Expertenstudien zufolge wären 15 Prozent erforderlich. Die IMSS-Gewerkschaft pflegt traditionell gute Beziehungen zur Partei der Institutionalisierten Revolution. Viele ihrer Privilegien erhielt sie durch die politische Unterstützung dieser Partei, die von 1929 bis 2000 die Regierung stellte. Mit umgerechnet 1500 US-Dollar Durchschnittsrente heben sich die ehemaligen Beschäftigten des IMSS deutlich von Mexikos übrigen Ruheständlern ab, die im Schnitt 200 Dollar im Monat beziehen. Mehr als die Hälfte aller Arbeiter verdient ihre mageren Einkünfte in der Schattenwirtschaft und bekommt so niemals eine Rente.

(IPS/jW)

junge Welt 12. August 2004


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