DIE CONSULTA NACIONAL DER MEXIKANISCHEN ZIVILGESELLSCHAFT AM 21. MAERZ 1999

Eine Befragung, die die Frage nach den Formen linker Politik aufwirft

von Edo Schmidt (San Cristobal de Las Casas, Chiapas, Mexiko; 22. Maerz 1999)

In vielen Teilen der Welt, nicht nur in Mexiko, waren am 21. Maerz d.J. alle MexikanerInnen dazu aufgerufen, sich an einer Befragung zu beteiligen, die die Verbriefung der Rechte der Indigenas sowie die Anerkennung ihrer Kultur und die Forderung nach einem Ende des Vernichtungskrieges gegen sie zum Gegenstand hatte. Wie zu erwarten war, folgte ein grosser Teil der Menschen, die einen mexikanischen Pass haben, diesem Aufruf: insgesamt stimmten fast drei Millionen Menschen zu ueber 95 Prozent positiv ueber die Aufnahme indigener Rechte in die Verfassung Mexikos und ueber die anderen Forderungen der Zapatistas ab.

In einer Veranstaltung in San Cristobal de Las Casas in Chiapas wurde im Vorfeld der "Consulta Nacional" verdeutlicht, wie wenig die Rechte und Kultur der indigenen Bevoelkerung Mexikos in der Verfassung des Landes beruecksichtigt sind. Als positives Beispiel fuer eine fortschrittliche Verfassung wurde jene des Bundesstaates Oaxaca herangezogen, in der die Forderungen der revolutionaeren Campesinos (BaeuerInnen) von 1910ff. am weitgehendsten aufgenommen und umgesetzt wurden. In Oaxaca wurde die im Zuge der mexikanischen Revolution geforderte Landreform (Verteilung der Laendereien der Grossgrundbesitzer an die - indigenen - Campesinos) tatsaechlich durchgefuehrt, was mensch von anderen Bundesstaaten nicht behaupten kann, am wenigsten von Chiapas. Auch als positives Beispiel genannt wurden die von der Regierung Mexikos und den Zapatistas unterzeichneten Vertraege von San Andres, in denen im Februar 1996 einiges ueber die Rechte der Indigenas Mexikos formuliert wurde, deren Aufnahme in die Verfassung sowie deren Beruecksichtigung in der staatlichen Politik Mexikos jedoch noch ausstehen. Es wurde in San Andres nicht einmal annaehernd bis zu Ende verhandelt, denn es wurden lediglich ueber die Rechte und Kultur der Indigenas i.B.a. ihre Autonomie und Selbstverwaltung in der ersten Verhandlungsrunde Uebereinkuenfte erzielt und unterzeichnet; weitere Verhandlungsrunden ueber "Demokratie und Gerechtigkeit", ueber "Oekonomie und Entwicklung", ueber die "Rechte der Frauen in der Gesellschaft" sowie ueber die "Landfrage" wurden von Regierungsseite immer wieder verschleppt und verhindert.

Als Beispiel einer diskriminierenden, rassistischen Verfassung diente demgegenueber auf o.g. Veranstaltung der aktuelle Vorschlag zur Aenderung der mexikanischen Verfassung von Alborez Guillen, dem Gouverneur von Chiapas, der bei seinem Vorschlag die Unterstuetzung seiner Partei geniesst, der "Partei der institutionalisierten Revolution" (PRI), die in Mexiko seit siebzig Jahren den Praesidenten stellt. Nach diesem Entwurf ist weder Landreform noch Autonomie, ebensowenig eine verbesserte Versorgung, was Oekonomie und Kultur, also auch was Ernaehrung, Erziehung und Gesundheit angeht, fuer die Indigenas erforderlich.

Eben diese Halsstarrigkeit der mexikanischen Elite veranlasste die Zapatistas, zu einem Mittel zu greifen, das 1995 schon eimal zum Tragen kam: die Durchfuehrung einer nationalen Befragung, und zwar selbstorganisiert und an den staatlichen Institutionen vorbei. Damals wurde die "Zivilgesellschaft" befragt, ob die EZLN, also der bewaffnete Teil der Organisation der Zapatistas, mit Waffengewalt weiterkaempfen, oder ob sie den Verhandlungsweg eischlagen sollten. Schon damals beteiligten sich ueber 1,3 Mio. Menschen an der"Consulta". Nun koennte mensch als LinkeR, als AnarchistIn, als SozialistIn usw. sich die Frage stellen, ob es nicht reichlich hirnverbrannt ist, eine solche Initiative zu starten. Laeuft das ueberhaupt noch GEGEN die "schlechte Regierung", ("pinche mal gobierno" ist ein vielgebrauchtes Wort der EZLN-Delegierten), wenn fuer Verfassungsaenderungen gekaempft und das Leben und die Sicherheit vieler dabei aufs Spiel gesetzt wird? Denn im Vorfeld gab es z.B. eine erhoehte Militaer- und Polizeipraesenz in Chiapas, Einschuechterungsversuche gegen die Zivilbevoelkerung seitens der Militaers und Paramilitaers sowie Morddrohungen gegen die BrigadistInnen, die die Consulta organisierten und durchfuehrten...
Aber dennoch wurde deutlich: es lief! 5.000 (!) mit Pasamontaņas maskierte Zapatistas zogen aus, um in 2.400 Landkreisen und Bezirken in ganz Mexiko die Consulta durchzufuehren bzw. ihre Praesenz zu zeigen; jeweils eine Frau und ein Mann begaben sich in eine Kommune. Sie wurden dabei von einer Vielzahl oertlicher "Consulta-Brigaden" unterstuetzt. Zeitungsberichten zufolge beteiligten sich neben diesen 5.000 Zapatistas weit ueber 30.000 Menschen an mehr als 9.300 Tischen und in mindestens 3.500 Veranstaltungen an der Werbung und Durchfuehrung der Consulta, unter ihnen auch viele Menschen aus dem kirchlichen Spektrum und aus Gewerkschaften, darueberhinaus viele Studierende und Intellektuelle sowie viele politisierte SchuelerInnen und Jugendliche - ein grosses Netz!
Aber diese Menschen uebernahmen fuer die Zapatistas ebenso eine Schutzfunktion, denn immer noch bekaempft die Regierung bzw. die Elite Mexikos und Chiapas' die aufstaendischen Bauernfamilien mit uebelster Repression. Der an der "School Of The Americas" trainierte "Krieg der niederen Intensitaet", eine von CIA und US-Streitkraeften ausgekluegelte Strategie zur Aufstandsbekaempfung, die erstens psychologische Kriegsfuehrung und Desinformation, zweitens offene militaerische Repression u.a. mit dem Mittel der Folter, der Verursachung von Hungersnot und Fluechtlingselend durch die Zerstoerung der Nahrungs- und Lebensgrundlage, sowie drittens die verdeckte Repression seitens paramilitaerischer Gruppen mit den Mitteln des Terrors, des Mordens und des "Verschwindenlassens" umfasst, erfaehrt in Chiapas immer noch Anwendung. Aber nicht nur hier: da diese Form der "contrainsurgencia" in ganz Lateinamerika mit "Erfolg" angewendet wurde, (so z.B. in Brasilien, Guatemala, Argentinien, Chile, Nicaragua, El Salvador etc.), verwundert es nicht, dass sie nun in Mexico in mehreren Bundesstaaten brutalst praktiziert wird, - vornehmlich in jenen, in denen sich die unterdrueckten Indigenas mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes wehren, also neben Chiapas in Oaxaca, Guerrero, Tabasco, San Luis Potosi, Estado de Mexico und Veracruz. Nun muss mensch sich in Erinnerung rufen, dass in diesem Land von der achtfachen Groesse der BRD und mit einer Gesamtbevoelkerung von nahezu 100 Mio. EinwohnerInnen seit siebzig Jahren, eben seit kurz nach dem Ende der Revolution, in deren Verlauf die eigentlich revolutionaere Schicht bereits wieder unterdrueckt und ermordet wurde, ein und dieselbe Partei regiert. Diese Parteielite hat nicht nur die Anfuehrer der Revolution von 1910 bis 1917 auf dem Gewissen, (Emiliano Zapata, Francisco Villa und andere Fuehrer der Aufstaendischen fielen Attentaten der wiedererstarkten Oligarchie aus Militaer und Grossbuergertum zum Opfer), sondern auch die angestrebten "Errungenschaften" dieses Kampfes der bewaffneten BaeuerInnen und ArbeiterInnen:
eine Landreform, eine gerechte Justiz sowie die Gleichheit Aller und die damit verbundene Verteilung des Reichtums. Oder kurz: "Land und Freiheit!", wie Ricardo Flores Magon und andere Anarchisten es waehrend der Revolution ausgedrueckt haben. Gegen diese Armada von einer Regierungspartei und trotz aller Arten von Repression und Behinderung wurde also die "Consulta nacional" der Zapatistas durchgefuehrt. Was aus dem formalen Ergebnis der Befragung, (ein eindeutiges "Ja!" zur Beendung des Vernichtungskrieges gegen die Indigenas und zur Entmilitarisierung von Chiapas, wo z.Zt. rund 70.000 Soldaten und rund 9.000 Paramilitaers ihr Unwesen treiben; ein eindeutiges "Ja" zur Anerkennung der Rechte und Kultur der Indigenas sowie zur Umsetzung der Vertraege und zur Fortfuehrung des Dialoges von San Andres im Sinne der Zapatistas), folgen wird, bleibt fraglich. Denn einer Regierung, die im gleichen Moment Vertraege unterzeichnet, in dem sie gegen diese planmaessig verstoesst, was Tausenden von Indigenas das Leben und anderen Tausenden die Existenzgrundlage kostet, ist nicht zu trauen und alles zuzutrauen...

Den AnarchistInnen ist schon lange klar: KEINER Regierung ist zu trauen! Aber welche Lernchancen ergeben sich denn nun aus dem Engagement der Zapatistas fuer den Kampf der "Linken in den Metropolen", der haeufig eher aus einem "Hinterher!" besteht als aus einem "Gegen!" oder "Fuer!"? Liegt die Zukunft der Anti-AKW-Bewegung beispielsweise wirklich "am Gleis", - "hinter dem Castor her"? Oder waere z.B. eine bundesweite Befragung zum Atomausstieg nicht etwas, was relativ leicht zu bewerkstelligen waere und viel Aufklaerung, Nachdenken, Austausch und Vernetzung bzw. Kontaktaufnahme und anderes positives bewirken wuerde, - an den Institutionen der "schlechten Regierung" vorbei, um Druck auf sie auszuueben oder sie wenigstens laecherlich zu machen? Oder ist die Widerstandsbewegung in der BRD ewig dazu verdammt, - gemeinsam oder gespalten -, hinter den PolitikerInnen von G8 und EU oder was auch immer hinterherzurennen und zu "protestieren", statt andere, neue und wirkungsvollere Wege zu erfinden, die eine Identifikation mit dem Widerstand ermoeglichen? Marcos, einer der Comandantes der EZLN, hat einmal geschrieben, dass eine Regierung, die viel Polizei und Militaer einsetzt, eine schwache Regierung sein muss. (Die CDU hat es z.B. spielend geschafft, die Schwaeche der BRD-Regierung mit einer simplen Unterschriftenaktion, aus der sich eine fiese, rassistische Medienkampagne gegen sog. "Nichtdeutsche" entwickelte, offenzulegen und diese laecherlich zumachen.)
Ich behaupte, dass eine ausserparlamentarische Opposition viel staerker sein kann als eine solche Regierung, die den Widerstand in der BRD, - mit anderer Besetzung schon seit Jahrzehnten -, an ihren Repressionsorganen abprallen laesst und so kriminalisieren bzw. isolieren kann. Der zapatistische Weg scheint mir da intelligenteres zu offenbaren: das Entwickeln einer eigenen, gewitzten Widerstandskultur, in die die Zivilgesellschaft einbezogen werden sollte; das Besetzen von oeffentlichen (Medien-) Raeumen und Plaetzen; das Lachen und sich lustig machen ueber eine Regierung, die es gerade mal schafft, reich und korrupt und machtgeil zu sein, und die zu ihrem Machterhalt auf Rassismus, Auslaenderhetze und auf die Kriminalisierung und Diffamierung der ausserparlamentarischen Opposition zurueckgreift.

Vom zapatistischen Weg etwas zu lernen heisst jedoch nicht, ihn moeglichst genau zu kopieren, sondern sich der eigenen Staerke bewusst zu werden, die Schwaeche des Gegners zu kennen und darzustellen, sich zusammenzusetzen und sich etwas NEUES EINFALLEN zu lassen, um mal wieder in die Offensive gehen zu koennen, - mit Spass. Womit immer mehr Menschen angeregt werden sollen, ueber Alternativen zum Bestehenden nachzudenken, damit sich endlich mal wieder etwasveraendern laesst.

aus: Schwarzer Faden Nr. 68



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