Von Ziegelsteinen, Vorhängen und Fischen
(Dialog zwischen Durito, Juan de Mairena und einer überflüssigen Nase)
Vortrag von Subcomandante Marcos bei dem Treffen der Schriftsteller/innen
für die Freiheit der Gefangenen von Atenco, am 15. Juni 2006
Ich muss öffentlich um Entschuldigung bitten: der vorliegende Text in
seiner wesentlichen Form gehört nicht mir, eigentlich handelt es sich dabei
um die Abschrift einer Bandaufnahme. Die besagte Bandaufnahme (oder für den
Pöbel: "Kassette") wurde heimlich aus dem Rucksack von jemandem entwendet,
der außerordentlich stark einem Käfer ähnelt.
Es mag vielleicht verwunderlich und empörend anmuten, dass jemand in diesem
digitalen Zeitalter noch immer eine "Kassette" benutzt, um Aufnahmen oder
Kopien anzufertigen, aber das ist gar nichts im Vergleich zu der
Sprachlosigkeit, die das Wissen hervorrufen würde, dass es sich bei der
besagten Person tatsächlich um einen Käfer handelt. Von hier aus zum Schluss
zu gelangen (man darf niemals vergessen, dass ein geglückter Vortrag,
Zuhörern und Lesern das Gefühl vermitteln sollte, seeeeehr intelligent zu
sein), dass dieser Käfer sich selbst als "Don Durito de La Lacandona"
bezeichnet, ist ein durchaus regulärer, das heißt, leichter bis
mittelschwerer Schritt.
Diese kleine aber dichtgepackte Ansammlung von Fakten zu akzeptieren,
unabhängig davon, ob sie in der realen Realität oder in unserer geplagten
Vorstellungskraft stattfinden, ist eine Pionierleistung, für die ich Ihnen
allen Beifall zolle. In dieser Zeit der politischen Plattformen, die nach
ihren wahren Dimensionen definiert werden (das heißt, als Werbespots), der
Torschüsse und Hochrechnungen, die tatsächlich die Gesamtbevölkerung
ansprechen (wenn es darum geht, welchen Platz das mexikanische Fußballteam
bei der WM erringen wird), der "tiefgehenden Analysen" über die "Korrelation
der Gewalten" von Pedanten, die sich selbst als Teil und Ganzes des
"progressiven Intellektualismus" bezeichnen, der Unterbringung der
Regierungssprecher in den Penissen (Atenco) und Granatwerfer (Atenco und
Oaxaca) der Polizisten, des "hohen Niveaus" von Kolumnisten und Redakteuren,
die kommentieren und analysieren, was andere Kolumnisten und Redakteure
sagen. Kurzum, in diesen Zeiten des "politischen Realismus", ist es, gelinde
gesagt, einfach großartig, dass es immer noch Menschen gibt (und schau an,
einige von ihnen haben scheinbar auch Jobs), die in ihren Herzen Raum lassen,
um die Existenz eines Käfers zu akzeptieren, der sich zum missverstandenen
Beruf des fahrenden Rittertums bekennt.
Nicht nur, weil das bedeutet, dass ich die schwere Last der Kenntnis von der
Existenz dieses seltsamen Wesens, nicht mehr alleine trage, sondern auch und
vor allem, weil es ein unwiderlegbarer Beweis dafür ist, dass es immer noch
Menschen gibt, die bereit sind, sich von den Wundern erstaunen zu lassen, die
unten einhergehen, und deshalb nur von jenen wahrgenommen werden, die Pfad
und Weg zu sehen wissen.
Der besagte Käfer nennt sich, wie hier wahrscheinlich niemand weiß, Don
Durito de La Lacandona I.C. de A.I. de I.I. (kurz für: Bekannte
Individualität des Invariablen Antikapitals der Unbegrenzten
Verantwortungslosigkeit), Copyleft no des Zirkels in Quadrat der Fahrenden
Ritter, dem er ganz nebenbei als Präsident auf Lebenszeit und einziges
Mitglied vorsteht.
Da er, wie ich glaube, nicht anwesend ist, werde ich diese Gelegenheit
nutzen, um Durito aller Anhängsel seiner Anrede zu berauben, und ihn
"Einfach Durito" nennen.
Ohne eingeladen zu sein, hat Durito einen Großteil des Gebietes dieser
unvernarbten Wunde bereist, das wir "Mexiko" nennen, um hier mit uns zu
sein, um an unserer Seite Freiheit und Gerechtigkeit für die Gefangenen von
Atenco zu fordern.
Er kam wie gewöhnlich in aller Frühe an, mit seinem Gepäck in so einem
Rucksack, wie ihn die Jungs und Mädchen aus der
Oberschule-Ecke-mit-Abschluß-mies-verdienend-und-oder-arbeitslos-aber-sicher
-irgendwie-zurechtkommend tragen.
Er wurde nicht zu diesem Treffen der Schriftsteller/innen eingeladen, obwohl
er diese Erregung für das geschriebene Wort empfindet, für die ihn die
Organisatoren sicher rügen müssten. Aber vielleicht wurde er auch nicht
eingeladen, weil man fürchtete er würde nicht Wort halten, und diese
Verantwortungslosigkeit an den Tag legen, für die fahrende Ritter so
berüchtigt sind, seit der Zeit jener traurigen Gestalt, die diese besagte
Eigenschaft auf den Strassen des spanischen La Mancha zur Schau stellte.
Mit Durito kann man keine festen Pläne machen. Nicht weil es ihm an
Förmlichkeit mangeln würde (vergessen wir nicht, dass er zwar ein Käfer ist,
aber auch ein fahrender Ritter), sondern weil er sich irgendwann urplötzlich
sein Skateboard schnappen wird und den Hügel runtersaust, und da möchte ich
mal sehen wie das mit der Schutzblase klappen soll.
Ja, manchmal macht er sich einfach aus dem Staub. Manchmal lässt er auch ein
Zettel zurück, auf dem lakonisch zu lesen ist:
"Mein liebes Gesicht der gebrauchten Shorts: ich bin dann mal weg. Gerate
nicht in (zuviel) Ärger. Mit freundlichen Grüßen, Durito. P.S. Ich hab den
Tabak mitgenommen."
Nun, um Sie nicht zu sehr zu ermüden, werde ich Ihnen verraten, dass ich die
Kassette gefunden habe, während ich versuchte mir mein Tabak aus seinem
Rucksack zurückzuholen, zusammen mit einer Notiz auf der stand:
"Für das neue Buch "Unmögliche Dialoge". Achtung: sag der redundanten Nase,
er soll eine Auktion mit den Verlagen organisieren, um zu sehen, wer diesen
Bestseller kriegen wird. Das gleiche gilt auch für die Filmrechte. Der Da
Vinci Code ist nichts dagegen."
Ende der Notiz.
Ich weiß nicht, weshalb Durito sich entschieden hat, seine neue Schöpfung
einen solchen Titel zu geben, aber darüber werden wir uns jetzt auch nicht
den Kopf zerbrechen.
Der Dialog, den wir hier vorstellen, findet statt zwischen Durito, eine
Persönlichkeit, über die wir in Kürze mehr wissen werden, und dem Erzähler
selbst.
Ich erwähnte vorhin, dass ich diese Abschrift von einer Bandaufnahme gemacht
habe. Beim ersten Anhören fiel mir die ganze Szene wieder an, weil ich dort
anwesend war. Es war im Kaffee "Comandanta Ramona", neben dem Laden "El
Rincon Zapatista". Wenn da mal jemand hinmöchte, der Ort ist ganz einfach zu
finden: man muss direkt darauf zuhalten, aber dann an dem Schild abbiegen,
auf dem steht "Abbiegen verboten", und dann kommen mehrere Ampel, und dann,
wenn man an einem Haufen Polizisten aller Abteilungen vorbeikommt, die
herumlungern und so tun als würden sie Wache halten, ist man da.
Ich fahre fort...
Es dämmerte. Der Mund war eine erleuchtete Hüfte des Verlangens, obwohl ohne
die ersehnte Vertiefung. Im Traum öffnete ein langer, ein langer und
feuchter Kuss, die Blüte der Sehnsucht, und sperrte das verschlossene,
stille Herz der Zeit auf . . .
Aber im Halbschlaf war ich schon dabei aufzuräumen, bemühte mich einige
Bohnen der Marke "Bussarde aller Länder, vereinigt euch" zu verdauen, und
versuchte herauszufinden, ob noch etwas vom Walnuss-Eis übriggeblieben war.
Ich hatte bis spät in der Nacht einer Sendung der alternativen Radiostation
"La Ke Huelga" zugehört. Während der Sendung waren die Ansager auf das Thema
Dislokationen zu sprechen gekommen.
Über verschobene Fußknöchel kam die Rede auf die Verschiebung von Ideen,
weil sie sich ein wenig über die Liebe in Zeiten der Revolution unterhalten
hatten, und dann kamen sie darin überein, dass wir uns für die Freiheit der
Atenco-Gefangenen mobilisierten sollten, und gingen über zu Liebe in Zeiten
der Repression. Von da ging es weiter mit einer Lektion mit dem Titel
"Maßnahmen gegen die Repression" oder so ähnlich, oder was zu tun sei, wenn
die Bullen bereits schon auf den Höchstselbigen losstürmen, unter Rufen von
"mit dem Rechtstaat von oben gegen die Linke von unten!"
Das habe ich mir gemerkt, wegen der Sache, dass man nicht erstarren dürfe.
Neben dem sehr klassischen und altbewährten "renn bis du ein Schild mit der
Aufschrift 'Willkommen in Guatemala' siehst", erteilten sie auch andere
Maßnahmen und Ratschläge.
Zum Beispiel empfiehlt die psychologische Schule das Abstreiten, das heißt,
wenn die Sache schon ihren Lauf nimmt, so überzeugend wie möglich
"Neeeeeein!" schreien. Die Anwaltsschule würde, glaube ich, die Technik
empfehlen, den Bullen juristisch zu überwältigen, und zu rufen "Herr
Polizist, Sie verletzten gerade Verfassungsartikel Nr. so-und-so, der
festlegt, das kein Individuum von der Polizei verprügelt werden darf, ohne
die Intervention eines Fernsehsenders, die ihn als Verbrecher hinstellen"
(hier kommen dem Bereitschaftspolizist die Zweifel, ob mit dem Verbrecher er
selbst gemeint, oder die besagte Person, gegen die der Rechtsstaat
angewendet wird und dann das Betatschen, Junge, das erzähl ich dir später).
Die Schule der "Sofortrekrutierung" würde Slogans empfehlen vom Typ "Das
uniformierte Volk wird auch ausgebeutet", gerade kurz bevor paradoxerweise
die Tränengasgranate hochgeht.
Es gab lange und reichliche, gute und geistreiche Information in dem
Radiochat der Kollegen von "Ke Huelga", ein Sender, den ich wärmstens
empfehle und der auf der Wellenlänge 102.9 FM sendet. Und ich ergreife die
Gelegenheit, eine solidarische Umarmung an die Compas von Radio Platón zu
schicken, die gestern von der Polizei der Regierung von Oaxaca angegriffen
wurden, und an alle alternativen Medien, die uns von unten uns links
informiert halten und unsere Batterien wiederaufladen.
Wo war ich? Ach ja. Also, an einem der kleinen Tische im Kafeé "Comandanate
Ramona", der einzige, der nicht völlig unter Bücher, Zeitungen und Magazine
begraben war, saßen wie es sich herausstelle der besagte Durito mit einer
Person, die als Juan de Mairena bekannt war, und, wie man sagt, ein guter
Freund des spanischen Dichters Antonio Machado war.
Durito war in Pancrema Plätzchen und einem Cappuccino vergraben, mit zwei
Paar seiner Beine auf dem Tisch, während Juan de Mairena, der völlig
gesittet am Tisch saß, eine Tasse Tee der Liebe zu sich nahm.
Die Aufnahme, die ich getreulich transkribiert habe, gibt einige Teile des
Dialoges wieder, der zwischen diesen zwei Personen und deren "heavy duty"
Serviette stattfand.
Es fängt an mit der Anrede, die der Käfer an mich richtet...
Durito: - Lausche, mein hochgeschätzter Antonym eines Stummelnäschens, den
folgenden Argumenten von Don Juan de Mairena:
"1. - Wenn alle Ausnahmen eine Regel bestätigen, gilt eine Regel mit
Ausnahmen mehr, als eine Regel ohne Ausnahmen, der ja die Ausnahme fehlt,
die sie bestätigt.
2. - Eine Regel besitzt mehr Gültigkeit, je mehr Ausnahmen sie hat.
3: - Die ideale Regel beinhaltet nur Ausnahmen.
(Diese Argumentationskette ist weiterzuführen, bis der Vortex der Stupidität
erreicht ist)"
(Antonio Machado, "Juan de Mairena". Alianza Editorial, S.40)
Ich: Das scheint mir eine geistreiche... und nutzlose ... Argumentation zu
sein.
Durito: Das ist wahr, aber nicht völlig. Manchmal führt die Hinterfragung
des Offensichtlichen zu Verbindungen, die einen die Tlalpan-Taxqueno
Kreuzung vergessen lassen. Aber manchmal findet man auch heraus, dass diese
Offensichtlichkeiten nur Lügen sind, die ständig wiederholt werden.
Ich: Zum Beispiel?
Durito: Das Heute, diese künstliche Schöpfung, gepflegt und vergöttert von
der modernen Gesellschaft, also das, was sich rund um die Massenmedien
aufbaut. Stimmt es etwa nicht, dass "Heute" nicht mehr eine Gegenwart, mit
Vergangenheit und Zukunft ist, sondern zur Ewigkeit mutiert? Davor, nur
Chaos. Danach, nichts.
Ich: Ich weiß nicht worauf du hinauswillst.
Durito (mit einem verschwörerischen Blick zu Mairena): Alles andere würde
mich auch überraschen. Sieh mal, Juanito, da ist das kapitalistische System.
Stellt es sich denn selbst nicht etwa als ewig, allmächtig und
allgegenwärtig dar?
Juan de Mairena: Sicher.
Durito: Wird seine Präsenz nicht etwa als ein unvermeidliches, primäres
Schicksal akzeptiert; und später als das einzig mögliche; und noch später
als das beste, das uns passieren konnte?
Juan de Mairena: "Das ist immer so. Eine Tatsache wird wahrgenommen, und
später als Schicksal akzeptiert. Zuletzt verwandelt es sich in eine Flagge.
Wenn sich die Tatsache eines Tages als nicht vollkommen wahr, oder als vollk
ommen falsch herausstellt, wirkt die Flagge zwar blasser, weht aber trotzdem
weiter." (ibid. S.77)
Durito: Klar, eine verblasste Flagge wehen. Das und nichts anderes, tun die
Apologeten des Kapitalismus. Nun, was würde passieren, wenn wir dieses ganze
Argumentationskonstrukt in Frage stellen?
Ich (fühle mich bedrängt zur Diskussion beizutragen): Hmm... weiß ich
nicht... wir würden uns langweilen?
Durito (mit einem missbilligenden Blick): Und außerdem?
Ich: Hmm... Wir würden uns Ärger einhandeln?
Durito (applaudiert mit den übrigen Pfoten, die nicht auf dem Tisch liegen
oder mit den Pancrema Plätzchen beschäftigt sind): Korrekt! Das hast Du ganz
richtig erfasst mein liebes Unterhemdgesicht von er-kommt-kommt-fällt
zusammen-Schuss-achtung! Unser Wissen würde uns in ein Bedrängnis bringen,
neben dem die Hidalgo U-Bahn Station zur Hauptverkehrszeit richtig harmlos
wirkt...
Ich (in Fahrt kommend): Da wir gerade beim Thema der öffentlichen
Verkehrsmittel sind, möchte ich denunzieren, dass ich letztes Mal in der
U-Bahn begrabscht worden bin [*tortear, von Torte, Sandwich]....
Durito: Ach, hör doch auf! Stell dich nicht an wie ein Hampelmann!
Ich: Jawohl, sie haben mir ein Sandwich mit Schinken verkauft, der dürrer
war als das Gehirn des Gouverneurs von Edomex.
Durito (zum besagten Mairena):Ich fürchte, mein Lieber, wir kommen vom Thema
ab. Wir stellten gerade das kapitalistische System in Frage. Oder besser,
seine Allgegenwart ...
Ich (weiter auf das Thema konzentriert): Und die Bohnen, die sie mir
verkauft haben, sind mir auch nicht bekommen. Die hätten einer Inspektion
niemals standgehalten.
Durito (jetzt richtig ärgerlich): Das Niveau dieser Debatte sinkt zusehends
...
Juan de Mairena: Gut, gut, fahren Sie fort.
Durito: Danke, Don Juan. Die Grundausrüstung für eine Hinterfragung, liegt
in der Geschichte. Wenn wir sie studieren, sehen wir ...
1. - Dass das kapitalistische System nicht schon immer existiert hat.
2. - Dass sein Ursprung nichts mit dem Geist, der gewählten Religion oder
Idealismus zu tun hat, sondern mit Enteignung (oder Raub), Ausbeutung,
Repression und Verachtung, kurzum: das Verbrechen.
3. - Dass sein Wachstum und seine Entwicklung Hand in Hand mit der Quelle
seines Ursprungs einhergeht.
Ich (in der Diskussion herumrührend, sowie in einem Becher Walnuss-Eis mit
abgelaufenem Verfallsdatum): Aber das führt nur dazu die Allmacht des
Kapitalismus zu beweisen, da die Bösen, die als Gute angesehen werden, immer
gewinnen.
Durito (öffnet eine weitere Packung Plätzchen): Ich war noch nicht fertig...
Was sind die grundlegenden und fundamentalen Tricks dieses Systems?
Gleichheit und Freiheit. Der Kapitalismus behauptet und wiederholt bis zum
Abwinken, er würde auf einer egalitären Gesellschaft basieren, und mit
dieser Begründung ernennt er sich selbst zum Garanten dieser Gleichheit. In
der kapitalistischen Gesellschaft gelten wir alle als Menschen, und deshalb
sind wir alle gleich. Gleichgestellt vor dem Gesetz, zum Beispiel...
Ich (die Ungleichheit betrauernd, die Durito alle Plätzchen auffuttern
lässt, während ich nur hinter ihm aufräumen darf): Aber das ist nicht wahr,
oder zumindest sind einige gleicher als andere. Auf der einen Seite sind die
Atenco Gefangenen, auf der anderen die Bribriesca Kinder von Martha Sahagún.
Als ob es zwei Gesetze gäbe: eins für unten, und eins für oben.
Durito (wirft eine Gabel nach mir, in der offensichtlichen Absicht den
freien Ausdruck meiner Ideen zu unterbinden): Laut Kapitalismus sind alle
Menschen frei, frei zu arbeiten, reich zu werden, zu wählen, Beamte zu
werden, ihre Gedanken auszudrücken.
Juan de Mairena: "Der freie Ausdruck der Gedanken ist wichtig, aber
zweitrangig im Vergleich zu unser Problem, nämlich die Freiheit des Denkens
selbst. Zum einen fragen wir uns ob das Denken, unser Denken, eines jeden
und jeder einzelnen von uns, in völliger Freiheit stattfinden kann,
unabhängig davon, ob es uns gestattet wird es zum Ausdruck zu bringen oder
nicht. Fragen wir rhetorisch: was nützt der freie Ausdruck eines versklavten
Gedanken?" (ibid. S. 179)
Durito: Guter Einwand, Don Juan. Aber hinterfragen wir weiter, auch wenn man
uns als Skeptiker hinstellt.
Juan de Mairena: "Ein vernichtendes Argument wurde gegen die Skepsis
vorgebracht: Wer die Existenz der Wahrheit leugnet, in der Annahme es sei
wahr, und mit dieser Schlussfolgerung bestätigt, was in der Prämisse
geleugnet wird, widerspricht sich selbst. Ich nehme an dieses Argument wird
keinen einzigen Vollblutskeptiker überzeugt haben (...) Die Skepsis ist eine
notwendige, nicht logische, Haltung, die weder bestätigt noch bestreitet.
Sie beschränkt sich darauf zu hinterfragen, und lässt sich nicht von
Widersprüchen abschrecken." (ibid., S.47)
Durito: Darauf ein Hoch! Deshalb sollten wir fragen: Sind wir
gleichgestellt? Sind wir frei? Und wann stellen wir diese Fragen? Einigen
wir uns darauf, sie jetzt zu stellen, da auf der bestätigenden Antwort
beider Fragen, ganze Bauwerke aus Ideen . . . und Ziegelsteinen . . .
errichtet werden.
Wenn unsere Antwort "ja" lautet, dann, entschuldige meine Unhöflichkeit,
verstehe ich nicht was wir hier wollen. Und damit meine ich nicht dieses
hier, diese bestimmte zapatistische Ecke, oder dieses
Schriftsteller/innen-Treffen für die Freiheit und Gerechtigkeit der
Atenco-Gefangenen, zu dem ich nicht eingeladen wurde, sondern hier, in
dieses Mexiko, das versucht, unten und links, ein Pfad und eine Gangart zu
errichten, ohne sich dabei über mehr im Klaren zu sein, als über die
Richtung, auf die man sich geeinigt hat.
Aber wir sind hier und dort, weil wir irgendetwas wollen. Vielleicht, weil
wir innerhalb dieses unendlichen und chaotischen Universums, das diesen
"irgendwas" ist, auf diese Fragen: "Sind wir gleichgestellt?", "Sind wir
frei?", mit "NEIN!" antworten. Und mit diesem "NEIN!" stürzen wir nicht nur
das gesamte juristische Fundament dieses sogenannten "Rechtsstaates" in eine
Krise (ein Name, der sich offensichtlich gegen das richtet, was ein
"Linksstaat" wäre), wir würden auch beginnen die Offensichtlichkeiten in
Frage zu stellen, die sich aus Mangel an Kritik in Grabsteine verwandeln.
Wir würden aufhören alles zu schlucken, was sie uns jeden Tag von oben
verabreichen, als ob es eine Wahrheit sei.
Juan de Mairena: "Menschen neigen gewöhnlich dazu etwas als wahr zu
erachten, wenn es ihnen Nutzen verspricht. Deshalb können sind auch so viele
Menschen fähig auf etwas hereinzufallen." (ibid., S.67)
Durito: Die kapitalistische Politik im modernen Zeitalter wäre dann so was
wie die Kunst, die größtmögliche Anzahl von Menschen hereinzulegen. Und
trotzdem wird dies zunehmend schwieriger, zumindest je mehr "Andere"
erscheinen, welche die Verdauungsstörung ablehnen, die durch diese
Wahrheiten hervorgerufen wird. Als ob die Politik von oben nicht mehr das
ist, was es mal war. Und das sage ich nicht aus Nostalgie, sondern ich weise
auf eine Tatsache hin. Es ist jetzt ein Chaos.
Juan de Mairena: "Dem Öffentlichkeitsmenschen, und vor allem, dem Politiker,
muss die Anforderung gestellt werden, die öffentlichen Tugenden zu besitzen,
die allesamt in einer einzigen zusammengefasst werden können: Treue zur
eigenen Maske. (...) Ein Öffentlicher Mann, der sich in der Öffentlichkeit
schlecht aufführt, ist viel schlimmer als eine Öffentliche Frau, die sich
privat nicht gut aufführt. Witz beiseite - (...) - es ist anzumerken, dass
es keine politische Verwirrung gibt, die nicht auch ein Austausch wäre, eine
Verwechslung der Masken, eine schlechte Komödie, in der niemand seine Rolle
kennt." (ibid., S.81)
Durito: Exzellent, Don Juan! Sie haben auf den Punkt definiert, was die
Politik in Mexiko heute ist: eine schlechte Komödie, in der niemand seine
Rolle kennt. Deshalb herrscht auch so viel Misstrauen gegenüber der Politik,
und so viel Widerwillen eine andere Politik zu konstruieren.
Juan de Mairena: "Die Politik, meine Herren - sprach Mairena weiter - ist
eine äußerst wichtige Aktivität. . . Ich würde niemals dazu raten
unpolitisch zu sein, lediglich als letzter Ausweg, die schlechte Politik zu
verspotten, die Karrierestreber und Vordrängler hervorbringt, deren einziger
Sinn darin liegt Profite zu kassieren und Positionen für ihre Verwandten zu
sichern. Sie sollten Politik betreiben, obwohl ich denen etwas anderes raten
würde, die dies ohne Sie und natürlich gegen Sie, zu tun versuchen." (ibid.
S.136)
Durito: Dazu wäre eine Andere Politik nötig. Notwendig, dringend, verdient.
Und mir scheint dass hierbei die Rolle des kritischen Denkens, der
Intellektuellen, sehr wichtig ist.
Juan de Mairena: "Es heißt, die Intellektuellen hätten bis heute noch nie
etwas nützliches zur Politik beigetragen. Man verwechselt die
Intellektuellen mit den Pedanten." (ibid., S.54)
Ich: Nun, wie ist das gemeint, mit der Pedanterie?
Juan de Mairena: "Spezifisch pedantisch zu sein, bedeutet Dinge zu leugnen,
wenn sie nicht so sind, wie wir sie uns vorstellen. Aber die Dinge sind
niemals so, wie wir sie uns vorstellen, sie sind viel ernster und komplexer
(ibid.)
Durito: Was wäre dann die Rolle des kritischen Intellektuellen? Die eines
Luxuszuschauers, während die Gesellschaft im Theater der Politik zerstört
wird?
Juan de Mairena: "Aber Sie haben noch nicht bemerkt, dass wenn der Vorhang
aufgeht oder geöffnet wird, im modernen Theater fast immer ein Raum mit drei
Wände erscheint, ohne diese vierte Wand, wie sie die Räume haben, die wir
bewohnen. Weshalb sind Sie nicht erstaunt (...) über diese schreckliche
Unwahrscheinlichkeit? Denn ohne die Abwesenheit dieser vierten Wand (...),
wie könnten wir da wissen, was in diesem Raum vor sich geht?" (ibid., S.
152)
Durito: Ich verstehe. Die Arbeit des Intellektuellen wäre genau das, die
viere Wand des politischen Raumes abzunehmen, und ihn offen zu zeigen, ohne
Heimlichkeiten, damit wir alle wissen, was in diesem Raum vor sich geht, und
dementsprechend handeln. Heute herrscht in der Wohnung der Macht eine
versteckte Ungerechtigkeit: jene, die Alexis Benhumea Hernández getötet hat;
jene, welche die Gefangene von Atenco missbrauchte; jene, die anständige
Männer und Frauen unrechtmäßig gefangen hält; jene, die in Oaxaca und in
allen Ecken des Mexiko von unten und links unterdrückt. Deshalb...
Die Bandaufnahme endet hier. Ich habe beschlossen, diese Abschrift
mitzubringen, weil ich sehr gut weiß, dass es hier Schriftsteller und
Schriftstellerinnen gibt, helle Kritiker, die willens sind gegen die
Ungerechtigkeit zu protestieren, die Alexis ermordet hat, die unsere
Compaņeras vergewaltigt hat, die soziale Kämpfer als Gefangene eingesperrt
hält, die sich für Repression entscheidet anstatt für Dialog.
Weil es hier, unter diesen Schriftsteller und Schriftstellerinnen einige
gibt, die Theaterstücke produzieren, und damit den Vorhang heben, der uns
nicht nur gestattet zu sehen, was da oben vor sich geht, sondern auch in uns
selbst. Weil nicht wenige unter ihnen auch Gedichte schreiben, aus den
schlüpfrigen Ziegelsteine der Worte. Schlüpfrig wie ein Fisch.
"Dichtung", sagt Mairena, "ist der Dialog des Menschen, eines Menschen mit
seiner Zeit. Das ist es, was die Dichtung unsterblich zu machen sucht, indem
sie es aus der Zeit herausgreift, eine schwierige Arbeit, die viel Zeit in
Anspruch nimmt, fast alle Zeit, die dem Dichter zu Verfügung steht. Der
Dichter ist ein Fischer, nicht einfach von Fischen, sondern von lebendigen
Fischen, damit wir uns verstehen: von Fischen, die leben können, nachdem sie
gefangen worden sind." (ibid., S.106)
Ein Hoch auf diese Fischer und Fischerinnen, die uns mit Worten helfen zu
sehen, uns selbst zu sehen, und die gemeinsam mit uns, Freiheit und
Gerechtigkeit für die Gefangenen von Atenco fordern.
Aus der Anderen Mexiko Stadt
Subcomandante Insurgente Marcos
Mexiko, 5. Juni 2006
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(übs. von Dana)
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