Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung
Nach dem Sturm kommt... der "andere" Sturm
"und durch die Stärke unserer Schwächen
werden wir die stärksten auf der Welt sein,
in der Geschichte, und unter den gerechten Kämpfen."
Roque Dalton
13. Oktober 2005
Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Wir sind mehr oder weniger dabei uns
langsam von dem Schiffbruch zu erholen, und machen uns über die
Compas an der Küste und aus allen betroffenen Staaten sorgen.
Bestimmt werden jene Unterstützer der Sexta, die immer noch im
Trockenen sitzen, unten Brücken für die Unterstützung ausfahren, die
sich unter Compaņeros und Compaņeras gehört. Was da oben vor sich
geht. ist lediglich ein Werbespot, und wenn die Hauptsendezeit vorbei
ist, werden die Geschichten von Unterlassungen, Verantwortungsmangel
und Ineffizienz der Staats- und Bundesregierungen, die sich nicht zur
Unterhaltung eignen, begraben bleiben (wie unter dem Wasser
und dem Schlamm).
Hinter den Bildern und Klängen der Katastrophe, die der Sturm hier
unten hervorgerufen hat, ist das Regierungsprogramm zu erkennen, das
unter verschiedenen Farben und Abkürzungen oben betrieben wird: die
Verwandlung unseres Landes in eine riesige Desasterzone, und der
Mexikaner in eine riesige Masse von Opfern, Opfern, die sich gut für
momentane Wohltätigkeitsaktionen in den Medien eignen (denn es ist
nicht übertrieben zu sagen, dass diese schließlich nach Wahlkampagnen
die wichtigste Sache sind).
Wissen Sie was? Da oben ist eine gewisse Verzweiflung zu spüren. Als
ob es der "respektablen" Öffentlichkeit immer mehr wiederstreben
würde, die künstlichen, genmanipulierten Nachrichten zu konsumieren,
die man ihnen nacheinander vorsetzt: ein Hubschrauber der abgestürzt
ist oder "abgestürzt wurde" und die gewohnheitsmäßige Abwesenheit
eines Beamten, dessen Tod, die Ermordung von Miguel Ángel Mesino M.
und von Tomás Cruz Zamora (der letztere vom Rat der Ejidos und
Gemeinden gegen die Parota - CECOP) vollkommen unterschlagen hat.
Anders gesagt, es gibt Tode oben und Tode unten. Die von oben
verdienen Schlagzeilen, Hauptsendezeiten, Spekulationen. Die von
unten ... nun, welch besseres Beispiel gibt es als die Haltung des
Gouverneurs von Guerrero, Zeferino Torreblanca (der dieses Amt mit
den Initialen und Farben der PRD erreicht hat), der bat, "diese
Verbrechen nicht sinnlos in die Größe zu zerren". Und dann fehlen da
auch, wie sie damals sagten, "günstige Voraussetzungen": mitten in
den Feierlichkeiten zum 17. Weltcup-Sieg, brach der Regen aus, um
alles zu ruinieren und uns daran zu erinnern, dass das Elend auch
eine Klassenvorliebe hat, und vorzugsweise jene umarmt, die wenig
haben und es dann verlieren.
Fox sagte bereits, "nach dem Sturm kommt die Ruhe". Das einzige was
er ausließ war darum zu bitten "diese Dinge nicht sinnlos in die
Größe zu zerren." Jetzt werden sich die Nachrichten etwas anderem
zuwenden, und in den verwüsteten Gebieten werden in aller Stille die
Netzwerke der Korruption und Komplizenschaft wiederaufgebaut werden,
die dafür Sorge tragen werden, dass sich die Geschichte wiederholt.
Und die Millionen von Opfer? Sie werden von der Aufmerksamkeit der
Nachrichten in die Aufmerksamkeit der Wahlkampagnen rücken: "wenn Sie
für mich stimmen, wird so etwas nie wieder passieren ... denn es
werden andere sein, die von ihrem Elend profitieren."
Aber von da oben sehen sie nicht, dass nach dem Sturm nicht die Ruhe
kommt, sondern stattdessen ein "anderer" Sturm, einer der von unten
nach oben steigen wird, der dieses Leiden aufrütteln wird, das wir
Patria nennen, und das wieder zu dem zurückkehren wird, was es einst
hatte: Würde. Und, wie ein kleiner und schwacher Wind, vielleicht nur
eine kleine Wolke, wird sich die "andere" Kampagne überall erheben,
vom erzürnten Suchiate bis jenseits des Rio Grande.
Sie haben mich nach dem Problem der Compas vom IMSS gefragt, über die
Medienkampagne, die gegen sie betrieben wird (an einem Tag sind sie
"verzogene" Arbeiter, am nächsten sind sie "antisemitische" Nazis)
und über die Rolle der anderen Kampagne in dieser und andere
Bewegungen.
Nun, auf den Vorbereitungstreffen haben wir von einigen Personen
(größtenteils Frauen) gehört, die sich in dieser Bewegung engagieren:
sie erhalten für ihre politische Arbeit keinerlei Bezahlung, sie
verwenden ihre Freizeit darauf zu organisieren, zu studieren und für
ihre Rechte zu kämpfen, sie sind mehr um die kommenden
Arbeitergenerationen besorgt als um sich selbst (ja, genau wie die
Studentenbewegung von 1999-2000), und wir haben uns mit der
Kameradschaft unterhalten, die jene teilen, die wissen, dass sie sich
für das gleiche Anliegen engagieren. Sie haben uns neulich einige
Dokumente zugeschickt. Soweit ich das verstanden habe, was sie mir
über den Kampf der IMSS Arbeiter geschrieben haben (und ohne zu
versuchen ihre Stimme zu ersetzen), und unter der Gefahr das ganze
viel zu knapp zusammenzufassen, kann ich Ihnen folgendes sagen:
- Die Prämisse eines staatseigenen oder überstaatlichen Unternehmens
ist nicht die gleiche wie die eines privaten Unternehmens. Während
letzteres nur an Profiten um jeden Preis (bis hin zum Verbrechen)
interessiert ist, ist ersteres an sozialen Dienstleistungen, und
Diensten an die Gemeinde interessiert (oder sollte es sein). Private
Unternehmen streben danach, die Geschäftsleute zu begünstigen,
staatliche oder überstaatliche Unternehmen streben danach (oder
sollten danach streben) das Volk, die Arbeiter, oder wie man sie
immer nennen möchte, zu begünstigen.
- Jenseits der Frage ob die Existenz von staatlichen oder
überstaatlichen Unternehmen ein Linderungsmittel für soziale
Unzufriedenheit, ein Kontrollmittel oder eine Errungenschaft des
sozialen Kampfes darstellt (für uns trifft vor allem letzteres zu),
handelt es sich bei den dortigen Angestellten um Arbeiter (die das
Recht haben gegen einen Besitzer zu gewinnen und sich zu verteidigen, in
diesem Fall, der Staat). Ergo haben sie das Recht, sich in
Gewerkschaften zu organisieren, Gewerkschaftszweigen,
Kollektiven, Gruppen, Arbeitskreisen, oder wie sie sich auch immer
nennen wollen, und zu handeln.
- Im heutigen Kapitalismus macht der Hunger nach kapitalistischen
Profite nicht vor Staatsgrenzen halt. Deshalb versuchen sie über
alles die Kontrolle zu gewinnen, das Profite erbringt oder erbringen
kann, einschließlich staatlichen oder überstaatlichen Unternehmen.
Dieser Kauf und Verkauf von Staatseigentum ist ein Hauptmerkmal des
Neoliberalismus, und kann auf die Komplizenschaft der Staatsbeamten
zählen (die sich von Politikern in Manager verwandeln).
- Die allgemeine Prämisse neoliberaler Regierungen lautet: staatliche
oder überstaatliche Unternehmen zu übernehmen; sich mit dummen
und/oder korrupten Beamten und korrupten und/oder dummen
Gewerkschaftsführern zu verbinden, um das Erbe zu
plündern; es ineffizient und teuer zu machen; zu argumentieren es
müsse verkauft werden, damit es gute Dienste erbringen und
wettbewerbsfähig bleiben kann; die Gesetze zu ändern oder zu
verletzen, die seine Privatisierung verhindern; es zu verkaufen, die
Arbeiter und/oder ihre Organisationen loswerden; zu erklären das Land
würde Fortschritte machen, weil die ausländischen
Direktinvestitionen gestiegen seien, "was das hohe Maß an Vertrauen
reflektiert, das sich Mexiko auf globaler Ebene in einer zunehmend
vom Wettbewerb bestimmten Welt erworben hat" (grammatikalische
Infamie: die Verantwortung des heutigen Staatsbeamten).
- In Mexiko, zumindest seit der Regierung von Miguel de la Madrid,
haben die aufeinanderfolgenden Regierungen die Privatisierung zum
Rückgrat ihrer wirtschaftlichen Programme erhoben. Die Ergebnisse
sind offensichtlich: die Quantität und Qualität der Dienstleistungen
sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt und die Gehälter fallen, die
Profite der Geschäftsleute nehmen zu und der soziale Wohlstand nimmt
ab. Kurzum: mit dieser Politik geht es immer mehr Menschen schlechter
und immer wenigeren besser.
- Seit zwei Jahrzehnten ist das Mexikanische Institut für Soziale
Sicherheit (IMSS) eins der Hauptziele der neoliberalen Regierungen
gewesen. Einerseits haben sie eine Politik des Raubbaus und der
Unterkapitalisierung des IMSS betrieben, um seine Privatisierung zu
rechtfertigen. Die Idee ist nicht nur, dem IMSS alle Mittel
"abzuschneiden", sondern diese an die großen Kapitalisten zu
"transferieren". Mit der Bewilligung der Reformen des Sozialen
Sicherheitsgesetzes - im Rahmen derer die Pensionsmittel durch die
Gründung von AFORES privatisiert wurden - wurde ein Profit von 60
Milliarden Pesos erwirtschaftet, der in die Geldkassen der großen
Banken geflossen ist, die sich heute bereits in den Händen des
internationalen Finanzkapitals befinden. Die Arbeitsgeberbeteiligung
an Krankengeld und Mutterschaftsversicherung wurde auf 33% gesenkt.
Statt in das IMSS für die Instandhaltung und Modernisierung der
medizinischen Ausrüstung zu investieren, wurde das Geld außerdem in
privaten Krankenhausdienste gesteckt, wie Ambulanzen, Chirurgische
und klinische Studien (mit anderen Worten, private Unternehmen werden
mit öffentlichen Geldmitteln finanziert). Dazu kommt noch:
Gehaltsstreichung von bis zu 70%; Arbeitsplatzgefährdungen,
Budgetstreichungen; Gehalts- und Zuwendungserhöhungen für
Spitzenbeamten; das Tolerieren von Freistellungen und Umgehungen der
Arbeitsgeberleistungen.
- Die Bewilligung der Reformen des Sozialen Sicherheitsgesetzes in
2004, stellt eine Verletzung des Bundesarbeitsgesetzes und des
Kollektiven Arbeitsvertrages dar, da zwei Arbeitsregelungen errichtet
wurden: eins für jene, die bereits vor den Reformen gearbeitet haben,
und ein anderes für jene, die hinterher in das Arbeitsleben getreten
sind. Für die letzteren gibt es schlechtere Rentenvoraussetzungen als
für die ersten.
- All dies demonstriert uns eine bewusste Politik der Geschäftsleute,
Politiker und Gewerkschaftsbürokraten der Pro-Management-
Gewerkschaften zur Unterkapitalisierung des IMSS, um ihm den letzten
Schlag zu versetzen und die Privatisierung der öffentlichen
Gesundheitsdienste durchzusetzen.
- Diese Schritte sind nicht nur gegen die Angestellten des IMSS
gerichtet, sondern gegen alle Arbeiter und ihre Familien.
- Die Arbeiter des IMSS, die gegen diese Vernichtungspläne kämpfen,
setzen sich für folgendes ein: die Reformen von 2004 umzukehren; die
Existenz zweier verschiedener Arbeitsregelungen nicht zuzulassen;
eine öffentliche Prüfung der IMSS Finanzen durchzusetzen um die
schmutzigen Deals der abfolgenden Vorstände zu entdecken;
Mobilisierungen abzuhalten um die Pro-Management-Gewerkschaften daran
zu hindern, die Abmachungen zu verraten; die Verteidigung des IMSS und
der Forderungen seiner Angestellten; die Vorbereitung eines
landesweiten Arbeitsstreiks, falls der neoliberale Plan nicht
zurückgesetzt wird; Lohnerhöhungen von 10%; die Einplanung von 50%
der überschüssigen Erdölprofite für die finanzielle Stärkung der
IMSS.
- Der Kampf der IMSS-Arbeiter ist nichts anderes als die Verteidigung
der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, der sozialen Sicherheit, der
Arbeitsrechte, der kollektiven Verträge und der Gewerkschaften.
- Wie zu erwarten war, ist die Bewegung das Ziel einer wahren
Verleumdungskampagne in den Medien geworden. Als allgemeines Argument
wird vorgebracht, die IMSS Arbeiter und die Pensionäre unter der IMSS
Regelung seien "privilegierte" Arbeiter mit Hinsicht auf die Rente.
Ein Pensionär unter der IMSS Regelung erhält bis zu 22.000 Pesos pro
Jahr (weniger als 2000 Pesos monatlich), während die Foxregierung die
wahrhaft "Privilegierten" unterstützt: die Banken (unter der
"Regierung der Veränderung" werden fast 1,4 Billionen Pesos [1400 Milliarden] für Schuldentilgung gezahlt werden); die Ex-
Präsidenten (es gibt vier davon, und sie erhalten jeweils bis zu 45
Millionen Pesos pro Jahr - oder mehr als 2 Millionen Pesos
monatlich); die Minister der Obersten Gerichtshofes (mehr
als 133 Millionen Pesos jährlich für jeden einzelnen oder ihre Witwen
oder mehr als 10 Millionen Pesos monatlich).
Zusammengefasst: diese Compaņeros und Compaņeras vom IMSS haben es
geschafft, einen intelligenten und würdigen Kampf zu führen, um die
Privatisierungsoffensive von Oben aufzuhalten. Andererseits haben es
die Pro-Management-Gewerkschaften nicht einfach: wenn sie die Seite der
Arbeiter ergreifen, werden sie für das Management und die Regierung
nutzlos; wenn sie die Seite des Managements ergreifen, werden sie für
die Arbeiter nutzlos. Und aufmerksam betrachtet, dienen diese
Bewegungen auch hierfür: um zu demonstrieren, wie nutzlos die Charros
[*= Showcowboys / Pro-Management-Gewerkschaften] für alles sind,
außer um Folklore für verwirrte Touristen zu betreiben.
Und wenn die Regierung nicht halt macht, und darauf besteht ihre
Privatisierung durchzusetzen, dann wird sie nicht nur mit dem IMSS-Streik
konfrontiert werden, sondern auch mit der Unterstützung, die
die gesamte Andere Kampagne im allgemeinen, und die EZLN im
einzelnen, als die Compaņeros, die wir sind, zu bieten haben.
Was den Rest angeht, kann ich Ihnen sagen: die Andere wächst weiter
(am 2. Oktober zählte sie 64 linke politischen Organisationen, 118
indigene Organisationen, 197 soziale Organisationen, 474
NGO/Gruppen/Kollektive und 1898 Einzelpersonen), langsam aber
unaufhaltsam. Die Beurteilungen der Vollversammlung fangen an
hereinzuströmen, die Meinungen über die sechs Definitionspunkte und
die Vorschläge (einschließlich der Diättips zur Gewichtabnahme) für
die erste Rundreise von "Agent X".
Wir glauben, dass der Drang nach Selbst-Reinigung ganz zu Anfang,
bald überwunden sein wird, und dass die Stufe des "-ismus" (manchmal
als Lob und manchmal als Beleidigung) vorbeigehen wird, wenn
verstanden wird, dass der heutigen mexikanischen Linken anzugehören
zumindest bedeutet, nicht in der Mitte zu sitzen, sondern links von
der Rechten. Ich weiss nicht genau, was passieren wird, aber glauben
Sie mir, das Ergebnis wird nicht eine Linke sein, die der Rechten
genehm ist, es wird eine "andere Linke" sein.
Ich verabschiede mich für jetzt. Vergessen Sie nicht zu schreiben, da
wir manchmal auch mit Worten wandeln.
Vale. Salud und möge der Wind, der wir sind, weiter wachsen.
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens.
Subcomandante Insurgente Marcos
Mexiko, Oktober 2005
* * *
(übs. von Dana)
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