REZENSION

Der Aufstand der Würde

Noch ein Buch über die Zapatistas?

Angesichts der Vielzahl von Publikationen, in denen sich mit dem Aufstand der EZLN in Chiapas/Südmexiko beschäftigt wird, birgt eine Neuerscheinung zu diesem Thema die Gefahr in sich, lediglich eine Wiederholung von bereits dagewesenem zu bieten. Bei dem nun von Ulrich Brand und Ana Esther Ceceña herausgegebenen Buch "Reflexionen einer Rebellion. 'Chiapas' und ein anderes Politikverständnis" ist dies jedoch nicht der Fall. Den beiden HerausgeberInnen ist es im Gegenteil gelungen, einen wirklich spannenden Beitrag zur Debatte über "das Neue" in der Politik der zapatistischen Bewegung zu liefern - und dazu noch Texte und Analysen aus Mexiko der interessierten deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Bei der Betrachtung der Debatten "über" die Zapatistas in der BRD fällt auf, daß häufig versucht wird, die Einzigartigkeit des zapatistischen Aufstands durch unsinnige Vergleiche mit anderen Befreiungsbewegungen oder durch die Überhöhung widerständiger Indígenas zu "postmodernen SuperheldInnen" herauszustellen und zu belegen. So wird der EZLN z.B. gerne der Superlativ der "ersten postfordistischen Guerilla" (gruppe demontage u.a.) angehängt, was ebenso haltlos wie unpassend ist. Kurzum präsentiert sich allzu oft eine Debatte auf niedrigem Niveau, die Irrelevantes in den Blick nimmt und sich an Oberflächen abarbeitet - die verklärt, statt aufzuklären. Mit dem nun vorliegenden Buch könnte der Diskussionsprozeß über und die Auseinandersetzung mit den Zapatistas eine Intensivierung erfahren, denn Anregungen hierfür liefern die veröffentlichten "Reflexionen" v.a. mexikanischer Intellektueller zuhauf. Diese Texte sind der von Ana Esther Ceceña herausgegebenen sozialwissenschaftlichen Zeitschrift "Chiapas" entnommen, die in Mexiko für die Diskussion und Analyse der politischen Prozesse in und um Chiapas unerläßlich geworden ist. Doch nun zum Inhalt:
Die "Reflexionen" werden durch zwei Aufsätze der HerausgeberInnen eingeleitet, in denen sie ihr Anliegen erläutern, aus der mexikanischen Debatte über die zapatistische Politik - wie über den sich formierenden Widerstand gegen die neuartige Restrukturierung des Kapitalismus überhaupt - die wertvollsten Beiträge "grenzüberschreitend" verfügbar machen zu wollen. Während so eine horizontale Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in Mexiko angeboten wird, präsentiert sich der zentrale Gedanke des Buches bereits zu Beginn: Die Zapatistas veränderten grundlegend die Bedeutung von Sprache und Politik.
Im zweiten Teil stellen Rubén Jiménez Ricárdez sowie Juan González Esponda und Elizabeth Pólito Barrios den Aufstand von 1994 in den "historischen Kontext des neoliberalen Mexikos". Dabei reicht ihre Analyse von der mexikanischen Revolution (1910-1917) über die neoliberale Machtübernahme von 1982 und die hieran anschließende "schrittweise Öffnung des mexikanischen Marktes für den Welthandel" bis zur vollständigen Unterwerfung Mexikos unter die Ägide US-amerikanischer Wirtschafts- und Finanzpolitik durch die Einführung des nordamerikanischen "Frei"handelsabkommens NAFTA (seit 1994). Etwas genauer kommen dabei die Verflechtungen der Elite der neoliberalen mexikanischen Wirtschaftspolitik seit Ende der siebziger Jahre sowie die Entwicklung der Agrarpolitik des Landes im gesamten letzten Jahrhundert in den Blick. Letzteres ist besonders wichtig, um den hohen Organisierungsgrad der ländlich-bäuerlichen, zumeist indigenen Bevölkerung begreifen zu können.
Der dritte Teil der "Reflexionen" ist überschrieben mit dem Begriff "Diskursguerilla", und es wird untersucht, ob "das Neue" bzw. der Erfolg der zapatistischen Politik nicht zu einem großen Teil im bewußten Umgang mit identitätsstiftenden Symbolen, im Erfinden einer poetischen Sprache sowie - natürlich - im geschickten Umgang mit den Medien liegt. In dem Aufsatz von Enrique Rajchenberg und Catherine Héau-Lambert geht es zunächst darum, den "Kampf um Bilder und Begriffe", den die Zapatistas führen, zu beschreiben. So greifen jene z.B. auf den von der Regierungselite verdrängten, im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung jedoch immer noch lebendigen Revolutionshelden Emiliano Zapata zurück und erlangen wegen ihres Auftretens zu Pferd mit über der Brust gekreuztem Patronengurt schon einen uneinholbaren Vorsprung vor der Regierung. Darüber hinaus benutzt der "wirklich glaubwürdige politische Diskurs" der Zapatistas "die Poesie und den Witz, das Wortspiel und die Metapher. Dieser Diskurs entwaffnet die Berufspolitiker." (S. 105)
Dem stimmt auch John Holloway zu, wenn er - Höhepunkt der "Reflexionen" - ein ganz spezifisches Moment des zapatistischen Kampfes hervorhebt: "Das beständige Streben nach Würde in einer auf der Verweigerung der Würde beruhenden Gesellschaft ist in sich revolutionär. Aber es beinhaltet ein anderes Revolutionskonzept als das des ‚Sturms auf das Winterpalais' der Oktoberrevolution von 1917, welches das dominante Modell des 20. Jahrhunderts war. Es wird keine revolutionäre Partei geschaffen, keine Strategie für eine Weltrevolution, kein Übergangsprogramm. Revolution ist einfach der ständige, unnachgiebige Kampf für etwas, was unter dem Kapitalismus nicht erreicht werden kann: Würde, Kontrolle über unser eigenes Leben.
Revolution kann in diesem Rahmen nur gedacht werden als die zunehmende Vereinigung von Würden, als das schneeballartige Anwachsen der Kämpfe, als die Weigerung von mehr und mehr Menschen, ihr Menschsein den Herabwürdigungen durch den Kapitalismus unterzuordnen. Das impliziert ein offeneres Konzept der Revolution: das schneeballartige Anwachsen der Kämpfe kann nicht programmiert oder vorhergesagt werden. Die Revolution ist nicht einfach ein zukünftiges Ereignis, sondern die völlige Umkehrung des in der Gegenwart herrschenden Verhältnisses zwischen Würde und Erniedrigung, die zunehmende Selbstbestimmung über unser eigenes Leben, die fortschreitende Errichtung von Autonomie." (S. 131)
Den Abschnitt abschließend findet sich eine etwas mühsam zu lesende Fleißarbeit von Anne Huffschmid, die in ihrem Essay sowohl zahlreiche GegnerInnen als auch AnhängerInnen der Zapatistas aus dem intellektuellen, städtischen Millieu zu Wort kommen läßt. Dieser Beitrag ist ein Kaleidoskop widersprüchlicher Statements, der wohl die Gegensätzlichkeit der möglichen Rezeptionen zapatistischer Positionen in der mexikanischen bürgerlichen Elite zeigen soll.
Im vierten Teil des Buches geht es um den legitimen Kampf "revolutionärer Subjekte", die in Mexiko v.a. unter den Indígenas ausgemacht werden. Luis Hernándes Navarro zeichnet die Stationen des Kampfes der Indígenas um die Verbriefung ihrer Rechte auf eine politische und kulturelle Autonomie nach, die ihnen - trotz der Abkommen von San Andrés - noch immer von Seiten der Regierung verwährt wird, während Márgara Millán die Prozesse der Emanzipation indigener Frauen beobachtet und hierbei das Spannungsverhältnis zwischen "neuer Politik" und alter Traditionen problematisiert.
Im fünften Abschnitt widmen die AutorInnen Patricion Nolasco und Susan Street sich der "veränderten Bedeutung der Demokratie und ihrer Akteure" in der Folge des zapatistischen Aufstands. Hierbei wird die Tauglichkeit oft bemühter politischer Kategorien wie "Zivilgesellschaft" und "Demokratie" einer kritischen Würdigung unterzogen, wobei jedoch den Zapatistas die Rolle der "RetterInnen der Politik" zugeschrieben wird, da sie die Wahrheit in die Begriffe bzw. die Glaubwürdigkeit in die Politik zurückgebracht hätten. Förderlich für die Politik der Zapatistas sei es, den Staat zwar ins Zentrum ihrer Analyse zu stellen, jedoch deutlich Abstand von jeglichen Machtambitionen zu halten, was sich nach 1994 allerdings erst allmählich entwickeln mußte.
Im letzten Teil geht es Ana Esther Ceceña noch einmal darum, die Verhältnisse in Chiapas darzustellen, um den politischen Prozeß der EZLN in seiner Gänze würdigen zu können: "Die in der EZLN versammelten chiapanekischen Indigenen haben aus ihrer prekären Lage heraus die Kraft gehabt, die mächtigste Maschinerie der heutigen Welt in Frage zu stellen: Die Weltmacht des Kapitals und seine Herrschaftsnetze. Sie haben der Hoffnung ein überzeugendes Fundament gegeben - so der brillante Satz des Vorsitzenden der Universitätsgewerkschaften, Edur Velasco - und die Utopie in ein Licht am real möglichen Horizont verwandelt." (S. 277)
Aber Realität in Chiapas bedeutet nicht nur Armut bäuerlicher Gemeinschaften oder Ausbeutung von Ressourcen durch kapitalistische Großgrundbesitzer und Konzerne - und der Kampf dagegen. Realität in Chiapas ist auch Reichtum, und zwar der Reichtum an Ressourcen, an Bodenschätzen, an hydroelektrischer Energie sowie an biologischer Vielfalt, wie Alejandro Toledo Ocampo hervorhebt. Er macht darauf aufmerksam, daß das Entwicklungsmodell der kapitalistischen Logik an sein Ende gekommen ist, und daß der Widerstand dagegen mit den Aufständen lateinamerikanischer Indígenas erst begonnen hat.
Und schließlich bedeutet Realität in Chiapas auch ein perfides System von sog. Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen, der psychologischen, militärischen und paramilitärischen Bekämpfung der aufständischen Bevölkerung also, was im letzten Beitrag von Francisco Pineda verdeutlicht wird. Es gibt nicht viele Texte über die geheime Aufstandsbekämpfung, die von Militärs und Geheimdienstlern in den USA entwickelt und beinahe allen lateinamerikanischen Regierungen angedient bzw. aufgezwungen wurde. Und dieser gehört mit Sicherheit zu den detaillierteren. Spätestens hier wird der Zusammenhang zwischen bäuerlicher Guerilla im Trikont und der Metropolenlinken ganz deutlich angesprochen.
Was zu tun ist? John Holloway hat es treffend ausgedrückt: "Wir alle sind Zapatistas. Die Zapatistas aus Chiapas haben eine Flamme entzündet, aber ‚Würde und Aufstand' zu verwandeln in ‚Freiheit und Würde' ist unser Kampf."(S. 133)

Edo Schmidt

Ulrich Brand und Ana Esther Ceceña (Hg.): Reflexionen einer Rebellion. "Chiapas" und ein anderes Politikverständnis, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, 327 Seiten, 39,80 DM