| “Wir sind die rebellische
  Würde” Mexiko: 20 Jahre EZLN, 10 Jahre zapatistischer Aufstand  “Wir sind
  eine Armee von Träumerinnen und Träumern”, “wir kämpfen, um überflüssig zu
  werden”, “wir sind wenige, aber wir sind groß”  – so charakterisieren sich die Zapatistas selbst. 10 Jahre
  nach Beginn des Aufstands im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas gilt es,
  Bilanz zu ziehen.  “¡YA BASTA!”
  (Es reicht!) – mit dieser Kriegserklärung gegen Regierung, Armut,
  Großgrundbesitzer, Ausbeutung und Rassismus alarmierte die Zapatistische
  Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) am 1. Januar 1994 die überraschte
  Weltöffentlichkeit und die mexikanischen Eliten, als diese den Eintritt
  Mexikos in die “Erste Welt” mit dem Inkrafttreten des neoliberalen
  “Frei”handelsabkommens NAFTA zwischen Kanada, USA und Mexiko feiern wollten. Es
  kam anders. Es folgten 12 Tage Bürgerkrieg und eine exzessive Militarisierung
  von Chiapas. Und diese Guerilla? Sie war so anders als die bekannten
  lateinamerikanischen Vorgängerinnen. Sie hatte vom dogmatischen
  marxistisch-leninistischen bzw. maoistischen Diskurs abgelassen, denn die
  Kleingruppe, die am 17. November 1983 die EZLN gegründet hatte, zeigte sich
  glücklicherweise flexibel und lernte von den Indígenas vor Ort.    BasisbezugDaraus entwickelte sich der basisdemokratische und
  anti-avantgardistische Anspruch, den die Bewegung bis heute hat. Ihre comunicados
  verfassen sie in poetischer Sprache, so dass sie sowohl Intellektuelle
  entzücken als auch von Bevölkerungsgruppen verstanden werden, die kaum Zugang
  zur Alphabetisierung haben. Für die EZLN gibt es keinen “Hauptwiderspruch”
  (Kapital vs. Arbeit) wie bei dogmatischen Marxisten, sie sieht die
  gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse in einem Komplex aus
  Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, Dominanzkultur u.v.a. und fordert nicht
  weniger als “Alles für Alle!” oder “Eine Welt, in der viele Welten
  Platz haben!”  Ihr “verrücktes” (O-Ton EZLN) Auftreten hat eine globale Welle
  der Sympathie unter denjenigen, die sich nicht weiter mit den neoliberalen
  “Sachzwängen” abfinden wollten, entfacht, die bis heute anhält. In Mexiko
  selbst motivierte die EZLN viele soziale Organisationen und sogar Teile der
  politischen Parteien zu einem demokratischen Aufbruch.   Mobilisierungs-GuerillaSeit Februar 1994 ist die EZLN nicht mehr militärisch aktiv
  gewesen, sie hat allerdings noch ihre Waffen. Stattdessen hörte sie der von
  ihr so bezeichneten “Zivilgesellschaft” zu, d.h. den Sektoren der
  Gesellschaft, die sich für emanzipatorische Prozesse einsetzen, und wurde
  eine Bewegung, die am ehesten als Mobilisierungs- und Kommunikations-Guerilla
  verstanden werden kann. So führten die Zapatistas mehrere consultas
  (Basisumfragen), zahlreiche Protestmärsche und Demonstrationen sowie die berühmte
  Karawane “Der Marsch der Farbe der Erde”  nach Mexiko-Stadt durch, um die Militarisierung des
  Aufstandsgebietes zu beenden und Rechte für die Indígenas einzufordern. Doch
  dies ist nur der Teil, der oberflächlich sichtbar ist.    De-facto-AutonomieEiner der größten “Verdienste” der EZLN ist sicherlich die
  Ermöglichung des Aufbaus autonomer Strukturen. 1996 hatten Regierung und EZLN
  die Abkommen von San Andrés über indigene Selbstverwaltung, Rechte und Kultur
  unterzeichnet, die keine Regierung bis heute umgesetzt hat. Daher brach die
  EZLN alle Kontakte mit Regierung und politischer Klasse ab und baute eine
  “Autonomie ohne Erlaubnis” in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wirtschaft,
  Verwaltung, Rechtsprechung etc. auf. Und diese Strukturen, die im August 2003
  in der Ausrufung der fünf “Juntas der Guten Regierung” (in Abgrenzung zu  “schlechten” offiziellen Regierungen)
  gipfelten, wurden von der eigenen sozialen Basis gestaltet, die zu über 90
  Prozent aus Indígenas besteht. Die EZLN ist inspirierende Ideengeberin,
  Schutztruppe, Organisatorin, Integrationskraft und Pressemagnet. Doch die
  Arbeit leistet nicht nur die EZLN, ihre berühmte comandancia und ihr
  wortgewandter Sprecher Subcomandante Marcos – auch wenn ihre Leistungen nicht
  zu unterschätzen sind -, sondern vor allem die vielen Unterstützungsbasen, in
  denen überwiegend Tzeltal-, Tzotzil-, Tojolabal- und Chol-Indígenas leben. Zu
  unterschätzen ist ebensowenig die mexikoweite und globale
  Solidaritätsbewegung.   AufstandbekämpfungSeit 1994 muss die zapatistische Bewegung, die Ende der 90er
  Jahre von der Regierung auf ca. 500.000 Personen geschätzt wurde (andere
  Quellen nennen höhere Zahlen), einen “Krieg niederer Intensität” ertragen,
  der aus Militärpräsenz, paramilitärischem Terror, Korruptionsversuchen durch
  staatliche “Hilfsprogramme” und Desinformationskampagnen besteht. Hunderte
  Todesopfer sind auf Seiten der oppositionellen Bevölkerung zu beklagen.   Veränderungen ohne
  MachtübernahmeDie Zapatistas sind eine neuartige Bewegung, weil sie die Macht
  nicht übernehmen wollen, sondern durch Dauermobilisierungen von unten eine
  Gesellschaft schaffen wollen, in der jede Regierung “gehorchend regiert”,
  d.h. Regieren lediglich verlässliches Koordinieren bedeutet. In der
  europäischen Wahrnehmung ist dies am ehesten mit einer Rätedemokratie zu
  vergleichen, in der die Stimmen für FunktionsträgerInnen immer nur “geliehen”
  sind und jederzeit zurückgezogen werden können. Diesen hohen und schwierigen
  Anspruch versuchen die Zapatistas in ihren autonomen Regionen zu verwirklichen,
  es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Experiment entwickelt.   FrauenrechteInnerhalb der zapatistischen Bewegung spielen die Frauen eine enorm
  wichtige Rolle. Sie konnten 1993 gegen den Widerstand ihrer männlichen
  Genossen “Revolutionäre Frauengesetze” durchsetzen, die den Frauen basale
  Rechte zusichern sollen – ein Novum im ländlichen und indigenen Mexiko. Die
  Forderungen der Frauen sind keineswegs erfüllt, aber viele Frauen sind auf
  dem Weg und kritisieren ihre eigenen Compañeros weiterhin - auch vor
  laufenden Kameras der Weltöffentlichkeit.   Globaler WiderstandDie EZLN gilt zurecht als eine Mitinitiatorin der weltweiten
  Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung und rief 1996 während des “Treffens
  gegen den Neoliberalismus und für die Menschheit” in Chiapas, an dem über
  3.000 Menschen aus über 40 Staaten teilnahmen, zur Bildung einer “Internationale
  der Hoffnung” auf, die kein Zentrum haben und aus einem horizontalen Netzwerk
  gleichberechtigter Bewegungen bestehen soll, die sich lokal auf ihre eigene
  Weise organisieren. Viele Gruppen nahmen diesen Aufruf an und so veränderte
  sich auch ein früher oft eindimensionaler Solidaritätsbegriff in der
  Hinsicht, dass z.B. Menschen aus reichen Staaten verstärkt lokal -  im Herzen der Bestie - kämpfen
  (wollen), wenn sie sich als Teil dieses emanzipatorischen Netzes verstehen.  2002 kritisierte die EZLN fundamental den ausbeuterischen und
  unterdrückerischen Irak-Krieg unter Führung der US-Regierung, wobei jedoch
  auch differenziert z.B. auf die Interessen Europas oder die
  Antikriegsbewegung in den USA eingegangen wurde. Lektionen für unsEs gibt spannende Ansätze in der zapatistischen “Philosophie”
  (auch wenn diese gar nicht existieren möchte) und ihrer Praxis, die wir uns
  in Ruhe ansehen sollten, denn vielleicht können wir einiges daraus lernen. Selbstverständlich
  ist nichts einfach übertragbar. - Ihr Motto “fragend gehen wir voran” spiegelt ihre undogmatische,
  nicht-statische Politikform, die auf kollektivem Ausprobieren, Reflektieren,
  Diskutieren und Transformieren basiert. - Ihre politische Maxime “gehorchend regieren” impliziert
  die permanente Verpflichtung jeglicher FunktionsträgerInnen gegenüber der
  jeweiligen Basis. - Ihre öffentliche Selbstkritik hält die Bewegung wach, offen
  und verbesserungsfähig. - Ihre Ablehnung von Sektierertum ermöglicht breite Bündnisse,
  gleichzeitig gibt es keinerlei Kollaboration mit den Eliten. - Ihre verständliche Sprache macht es der “Normalbevölkerung”
  möglich, ihren Kampf mitzuverfolgen und einzuschätzen.   Unterstellungen und
  legitime Kritik“Professionelle Gewalttäter, gesteuert aus dem Ausland”, so lautete
  die Propaganda-Lüge des damaligen mexikanischen Präsidenten Salinas. “Reformisten”,
  beeilten sich dogmatische Linke aus Mexiko und der Welt. ”Die dichten ja,
  anstatt zu schießen”, beklagten Guerilla-Fans. “Die müssen endlich
  eine Partei werden”, jammerten die ReformistInnen. “Die allmächtige
  comandancia, der omnipräsente Sub”, äußerten MexikanerInnen und
  InternationalistInnen in kritischer Solidarität. “Können die ihre hohen
  Ansprüche überhaupt einhalten?”, wird zurecht immer wieder gefragt. “Es
  gibt auch andere Widerstände in Mexiko”, erinnern KennerInnen der Lage. “Es
  gibt immer noch zu viele Machos”, stellten einige Frauen richtig klar.  Die größte Fehleinschätzung lieferten aber einige wenige
  Deutsche, die der EZLN “völkischen Nationalismus” im europäischen
  Sinne (d.h. rassistisch-ausschliessend-dominant-etc.) unterstellten. Wer
  Texte und Geschichte der EZLN verfolgt, versteht wie eurozentristisch und
  absurd dieser Vorwurf ist. Die Zapatistas sind kein unproblematisches Phänomen, sie sind
  teilweise widersprüchlich und schon gar nicht rein anarchistisch – aber sie
  haben in der Tat viel erreicht und versuchen weiter, an sich zu arbeiten!   Offenes Ende oder die nächste Überraschung kommt
  bestimmtBisher ist es EZLN und Umfeld immer wieder gelungen, die
  Initiative zu ergreifen und die Obrigkeit aber auch die kämpferischen Teile
  der Gesellschaft herauszufordern. Nach 10 Jahren Aufstand steht eines fest:
  Die zapatistische Bewegung ist authentisch, konsequent, bescheiden und
  ehrlich. Nie hat sie Geschenke oder Geheimabkommen der Regierung angenommen. Trotz
  aller “klugen” Voraussagen diverser Intellektueller aus Mexiko und Europa ist
  sie weder zu einer politischen Partei geworden noch verschwunden, obwohl sie
  sich klassischen Politikmustern stets entzogen hat. Wir sollten diese Bewegung, eines der größten aktuellen sozialen
  Experimente mit libertären Tendenzen und mit einer erfreulichen Abneigung
  gegen herkömmliche politische Institutionen, weiterhin solidarisch (und immer
  auch kritisch fragend!) begleiten.  Im Moment gilt es jedoch vor allem, einen “Herzlichen Glückwunsch
  zum Geburtstag!” und “Alles Gute!” zu wünschen. Viele Menschen in
  Mexiko und der Welt feiern dieser Tage die zapatistische Hoffnung. Feiern wir
  mit!   ¡Viva el movimiento zapatista!   Grüsse aus
  Chiapas!   Die Reisenden der Gruppe B.A.S.T.A., Dezember
  2003     -> Startseite Gruppe
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