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Textvariante: Kurzfassung, entspricht dem Buchtext. ("mini")
Zusammenfassung
Der erste Teil dieses Textes beschreibt das Internet - seine technischen Grundideen, seine geschichtliche Entwicklung, seine Organisation und einige seiner Probleme.
Im zweiten Teil wird das Internet in wechselseitiger Beziehung zum Anarchismus betrachtet. Es werden Eigenschaften des Internet wie Dezentralität, Einheit und Wachstumsdynamik zur Inspiration für den Anarchismus interpretiert. Umgekehrt wird der Anarchismus zur Analyse praktischer und ideologischer Probleme des Internet herangezogen. Schließlich werden konkrete Handlungsbereiche für die libertäre Internetnutzung aufgezeigt.
Der erste Teil des Textes kann auch für sich alleine gelesen werden. Der zweite Teil baut auf den Erklärungen des ersten Teils auf.
Der Text ist in drei Varianten ("mini", "midi" und "maxi") verfügbar. Die vor allem im ersten Teil kürzere "mini" Variante entspricht dem Text des Beitrages "Anarchismus und Internet" in der Anthologie Anarchismus 2.0(ISBN 3-89657-052-8), die von Hans Jürgen Degen und Jochen Knoblauch herausgegeben wurde und im April 2009 im Schmetterling Verlag erschien. In der "maxi" Variante des Textes werden Begriffe und Zusammenhänge des Internet ausgiebig dargestellt, damit sie auch für Laien verständlich sind.
Die jeweils aktuelle Version dieses Textes wird über das Internet auf folgender Website verfügbar gemacht: http://projekte.free.de/anarchismus-und-internet/
Inhaltsverzeichnis
Aus einer anarchistischen Perspektive betrachten wir mit diesem Text [ FNord ] das Internet, seine Technologie und seine historischen und gesellschaftlichen Dimensionen. Voraussetzung dafür ist zumindest eine ungefähre Vorstellung davon, wie das Internet funktioniert. Deshalb kommen wir um einige technische Erklärungen nicht herum. Eine ausführlichere Version dieses Textes mit mehr historischen und technischen Details und Quellenangaben ist im Internet verfügbar und über die Website des Verlages erreichbar.
Zur Klarstellung noch eines vorweg: Eine rein technische Lösung zur Befreiung der Gesellschaft (von Herrschaft, Ausbeutung, Staat, ...) kann es nicht geben. "Befreiung" ist ein an Subjekte gebundener Begriff, und nur sie können die urhebende und beurteilende Instanz einer Befreiung sein. Menschen, die sich befreien (wollen) benutzen dazu allerdings auch Hilfsmittel. Von der klandestinen Kommunikation über die aufklärerische Betätigung der Druckerpresse bis hin zu bewaffneten Milizen findet sich ein breites Spektrum historisch jeweils verfügbarer Mittel - auch bei anti-autoritären, anarchistischen Befreiungsbestrebungen. Dies gilt auch für die Nutzung des Internet.
Es wäre sicher ein interessantes und nützliches Projekt, libertäre Internetnutzung - etwa analog zu DadA (Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus) < http://www.dadaweb.de/> bei Druckmedien - zu katalogisieren und zu analysieren, aber es soll im Folgenden um andere, tiefer liegende Bezüge zwischen Anarchismus und Internet gehen. Diese Bezugnahmen basieren auf bzw. resultieren in einer Doppelthese, dass nämlich einerseits "das Internet" Prinzipien und Erfahrungen "des Anarchismus" bewusst(er) in seine Entwicklung aufnehmen könnte (bzw. sollte), während andererseits "der Anarchismus" die Prinzipien und Erfahrungen "des Internet" zum Aufbau gesellschaftlicher Freiräume und emanzipatorischer Entwicklungsprozesse wirksam machen könnte - und auch sollte. Trotz vieler positiver Bezugnahmen auf das Internet in diesem Text sollte nicht vergessen werden, dass auch eine Lebensführung ohne Internet nicht diskriminiert werden darf.
Inhaltsverzeichnis
Das Internet ist das weltweit größte Datenübertragungsnetz, das auf internet-Technologie basiert.
Als Grundlage für die Darstellungen seiner organisatorischen und gesellschaftlichen Dimensionen, folgt zunächst ein kurzer Blick auf die zentralen Merkmale der Technologie des Internet und dessen Entwicklung. Dabei ist Internet mit großem I "das" Internet, während "internet" mit kleinem i ein beliebiges Datenübertragungsnetz meint, das internet-Technologie verwendet, unabhängig davon, ob eine Verbindung zu "dem" Internet besteht oder nicht. Das englischsprachige Wort "internet" kann als Zusammenziehung von "interconnected networks" gelesen werden, meint also miteinander verbundene Netzwerke, ein Netz von Netzen.
In einem internet werden digitale - also perfekt kopierbare - Daten übertragen. Zusammengehörige Daten werden in kleine Pakete aufgeteilt und unabhängig voneinander zu ihrem Ziel transportiert (paketorientiert). Die Paketorientierung war eine revolutionäre technologische Neuerung gegenüber der Leitungsorientierung des klassischen Telefonnetzes. Ein internet funktioniert unabhängig vom Übertragungsmedium (Telefonleitung, Funk, ...) und ermöglicht beliebige Verbindungen zwischen allen angeschlossenen Geräten (hosts). Herstellerneutrale, offene Standards sorgen dafür, dass Geräte und Programme unterschiedlicher Hersteller zusammen funktionieren. Diese offene Netzwerkarchitektur und das Fehlen von Verknappungsinstanzen, wie staatliche Lizenzvergabe oder ganz allgemein Monopole ermöglicht das quantitative Wachstum. So erfordert die Einbindung eines neuen internet in "das" Internet lediglich drei Schritte:
Der Clou: das neue internet, das dadurch Teil des großen Internet geworden ist, kann nun seinerseits weitere, bisher abgekoppelte in "das" Internet assimilieren.
Das quantitative Wachstum des Internet ist nicht ohne qualitatives Wachstum denkbar. Die Integration immer neuer Techniken, wie aktuell z.B. die Internettelefonie, ist einerseits eine Reaktion auf quantitatives Wachstum (Anzahl der hosts und der TeilnehmerInnen, verfügbare Bandbreite und Rechenleistung), andererseits auch die Voraussetzung für qualitatives Wachstum. Rückgrat des qualitativen Wachstumsprozesses wiederum ist der offene Standardisierungsprozess. Aber nicht nur technologische Qualitätssprünge wechselwirken mit quantitativen, auch organisatorische, wie in der ersten Hälfte der 1990er der Übergang vom überwiegend staatlich finanzierten Forschungsnetz zum marktförmig kommerziellen, das heißt in unserer Epoche: kapitalistischen Internet.
Das Internet hatte militärische und wissenschaftliche Wurzeln. Zunächst entstand ab 1969 das sog. ARPANET. Ziel des ARPANET war die bessere Zusammenarbeit und das Teilen von Computer-Ressourcen durch die von der (D)ARPA ((Defense) Advanced Research Projects Agency) geförderten Forschungsgruppen. Trotz der militärischen Finanzierung waren die Entwicklungsarbeiten am ARPANET öffentlich.
An ihm waren unterschiedliche Gruppen beteiligt. Es war ein offener, anti-autoritativer Stil, der (neben dem ARPA cash flow;-) wesentlichen Anteil an der nun beginnenden Erfolgsgeschichte hatte. Und kaum dass das ARPANET funktionierte und langsam wuchs, wurden neue Anwendungen ersonnen, allen voran e-mail, welche für den Austausch unter den Beteiligten und damit die weitere Evolution des Netzes katalytisch war.
1973 begannen die Arbeiten an der nächsten Protokollgeneration namens TCP (transmission control protocol). Sinn des neuen Protokolls war die Möglichkeit, Verbindungen zwischen Computern in verschiedenen Netzen herstellen zu können.
Aber nur ein kleiner, eher elitärer Teil aller Forschungs- und Bildungseinrichtungen kam in den Genuss einer Anbindung an das ARPANET. So gab es weltweit viele Anstrengungen zur Ermöglichung von vernetztem Datenaustausch, wodurch diverse paketorientierte Netzinfrastrukturen entstanden. 1983 wurde das ARPANET auf den heute noch überwiegend verwendeten Standard TCP/IPv4 umgestellt. Auf dieser technischen Basis wurde ab 1985 das ARPANET um ein backbone Netz zwischen Supercomputerzentren erweitert (NSFNET), das von weiteren daran angeschlossenen Netzen kostenlos genutzt werden konnte. Es begann ein deutliches Wachstum des jungen Internet, indem sich immer mehr lokale Netzwerke anschlossen.
1991 wurde das NSFNET zur Nutzung für kommerzielle Forscher freigegeben und kommerzieller transit traffic (Datendurchgangsverkehr) gegen Entgelt zugelassen.
Bis zum planmäßigen Auslaufen der staatlichen Förderung des NSFNET hatten kommerzielle Provider eigene Infrastrukturen zum Transport der Daten im Internet aufgebaut. Der Kommerzialisierung der Infrastruktur folgte die Kommerzialisierung der Dienste, und schließlich der Inhalte. Die Kommerzialisierung der Inhalte wurde (unbeabsichtigterweise) katalysiert durch eine Innovation aus dem wissenschaftlichen Bereich, dem world wide web ("WWW"). Die neue Qualität des WWW, die Verknüpfung der Inhalte und der leichte Zugang zu diesen, ist eine konsequente Weiterentwicklung des Internetprinzips, nämlich der beliebigen Verbindungen zwischen angeschlossenen Rechnern.
Das WWW, eigentlich nur ein Dienst unter vielen, führte zu einem enormen Wachstum des Internet, da sich nun auch die gesellschaftlich übliche Rollenverteilung von Konzern und Konsument abbilden ließ. Das WWW ist mittlerweile ein Ersatz für Radio und Fernsehen. Die scheinbar kostenlose Selbstberieselung im WWW zahlt der Surfer durch ein Bombardement mit Werbebotschaften und der Erfassung seiner Nutzungsdaten. Dass die staatlich ermächtigten Wegelagerer von der GEZ auf internetfähige PCs nun auch noch eine "Gebühr" für die von Anderen erbrachten Leistungen kassieren dürfen, ist ein ironisches Sahnehäubchen auf der Torte des frisch gekürten Massenmediums Internet.
Im WWW ist aber nicht nur der Konsum von Inhalten einfacher geworden, sondern auch die Möglichkeit, selbst zu publizieren.
Die Bedeutung von Standards im Internet ist so hoch einzuschätzen wie die von Normen in der industriellen Produktion oder von Containern im Welthandel. Die herstellerunabhängigen Standards des Internet werden überwiegend von den Arbeitsgruppen der Internet Engineering Task Force (IETF) entwickelt.
Entgegen den Standardisierungsgremien hat die IETF streng genommen noch nicht einmal den Status einer Organisation - sie hat keine Mitglieder, sondern "nur" individuelle Teilnehmer. Jede/r Interessierte kann sich auf den Mailinglisten der IETF und ihrer Arbeitsgruppen eintragen und mitarbeiten.
Im Internet können sich z.Z. vmtl. über 500 Millionen hosts gegenseitig erreichen. Eine zentrale regelnde Instanz ist dafür nicht erforderlich. Ein an das Internet angebundener Rechner ist Teil eines Subnetzes. Außerhalb dieses Subnetzes muss nichts über den einzelnen Rechner bekannt sein, sondern nur über die Erreichbarkeit des gesamten Subnetzes. Eine Gruppe von Subnetzen, die eine gemeinsame Administration hinsichtlich ihrer Verbindungen ins Internet hat, wird Autonomes System ("AS") genannt.
Die AS tauschen mit ihren AS-Nachbarn Informationen über die Erreichbarkeit von Subnetzen aus. Jedes AS muss per Definition mindestens zwei Nachbarn haben, denn ansonsten wären seine Subnetze, vom Rest des aus gesehen, Teil seines einzigen Nachbarn und damit Teil von dessen AS. Dieses Grundkonzept der Redundanz wirkt auf verschiedenen Ebenen des Internet und führt damit trotz und wegen der Größe des Internet zu dessen erstaunlicher Stabilität.
Die Nachbarschaftsbeziehungen sind überwiegend kommerziell. Das kleinere AS (Kunde) kauft vom größeren AS (Provider) die Leistung, dass Kundenpakete durch das Netz des Providers transportiert werden und darüber hinaus zum Rest des Internet (transit).
Der enorme Erfolg des Internet und sein schnelles Eindringen in die Gesellschaft hängen eng mit der kapitalistischen Organisierung des Internet seit Anfang der 1990er Jahre zusammen. Dass das Internet für die kapitalistische Verwertung relevant wurde, liegt zum einen in seiner Neutralität und Integrationsfähigkeit begründet, die einen Raum schufen, in dem auch Konkurrenten koexistieren konnten und damit zumindest indirekt kooperierten. Außerdem erhöhte jedes neu assimilierte Netz die Attraktivität des gesamten Verbundes.
Mittlerweile steht das Internet alternativlos im Bereich der elektronischen Geschäftskommunikation da, was einen hohen Erwartungsdruck bzgl. des Funktionierens des Internet aufgebaut hat. Dies führt bei den relevanten IP-Technologien zu einem - verständlichen - Konservatismus, der den dreifaltigen Innovationszyklus des Internet unterbricht: damit das quantitative Wachstum ein qualitatives Wachstum hervorbringen kann, werden technische Innovationen entwickelt und standardisiert, die nun aber im Falle der operativen IP-Technologien höchstens peripher, aber nicht im Inneren des Internet eingesetzt werden. Denn der dafür erforderliche Aufwand würde von einem kapitalistischen Internetunternehmen nur getrieben werden, wenn es dadurch einen Marktvorteil erzielen könnte oder wenn es ohne die Innovation seine Wettbewerbsfähigkeit verlieren würde. Der erste Fall ist insofern unwahrscheinlich, als dass Veränderungen der grundlegenden IP-Technologien von allen Beteiligten umgesetzt werden müssten, also auch von den "Mitbewerbern", die dann den gleichen Wettbewerbsvorteil hätten, sodass er keiner mehr wäre.
Der zweite Fall, der Untergang eines Internetunternehmens wegen versäumter Innovation, würde eintreten, wenn die allermeisten "Mitbewerber" den Innovationsaufwand betreiben würden. Das ist theoretisch zwar durch eine Kartellbildung eines sehr großen Teils der beteiligten Unternehmen denkbar, aber praktisch wegen des fehlenden Wettbewerbsvorteils unwahrscheinlich.
Durch quantitatives Wachstum bei Ausbleiben der dafür erforderlichen Innovation ist ein Zusammenbruch des Internet möglich. Historisches Kollapsbeispiel sind die Verstopfungszusammenbrüche des noch jungen Internet der 1980er Jahre. Die letzte einschneidende Innovation der IP-Technologie geschah um 1993, als sich wegen des quantitativen Wachstums die Verfügbarkeit bestimmter Adressblöcke erschöpfte und das routing im gesamten Internet umgestellt werden musste.
Die Unterteilung in zahlungskräftige Firmenkunden und Konsumentenmassen führt zu weiteren kapitalismusinduzierten Innovationsproblemen. Jeder Konsument erhält von seinem Provider nur eine IP-Adresse, welche sich die verschiedenen Geräte teilen müssen. Dadurch sind die einzelnen Geräte keine vollwertigen hosts mehr. Ein zentrales Paradigma eines internet - beliebige Verbindungen zwischen beliebigen hosts - wird so gebrochen. Das führt zu massiven Komplikationen bei oder gar zur Unmöglichkeit von etlichen Protokoll-Innovationen, insb. solchen, die einen direkten Datenaustausch zwischen Endnutzern ermöglichen.
Quantitativ spielt der Staat im Internet heute keine so herausragende Rolle mehr wie in den militärisch-akademischen Anfangsphasen. In Europa sind die ehemaligen staatlichen Telekommunikationsmonopole im Zuge der Neoliberalisierung bzw. der Abwicklung des sog. Realsozialismus privatisiert worden. In der BRD gibt es noch 32% Staatsanteile an der Deutschen Telekom (2008).
Qualitativ bedeutsam für den kapitalistischen Internetbetrieb in der BRD ist der Staat in seiner Doppelrolle als Großaktionär und Regulierer des Erbmonopolisten Telekom und damit dem Setzen von Rahmenbedingungen für den Telekommunikationsmarkt. Neben Preis- und Verfahrensregelungen für die Nutzung der Kupferdrähte zu den Endverbrauchern geht es mittlerweile auch um die Rahmenbedingungen der anstehenden technologischen Innovation, nämlich der kompletten Umstellung der Kommunikationsnetze auf paketvermittelte sog. Next Generation Networks Diese Bemühung ist insbesondere zu verstehen vor dem Hintergrund der dargestellten kapitalismusbedingten Schwierigkeiten technischer Innovation bei Netzinfrastrukturen in verteiltem Besitz.
Auf der Ebene der Inhalte betätigt sich der Staat im Internet sowohl als Handlanger als auch in eigener Sache. Zunächst zu seiner Rolle als Handlanger. Kapitalistische Unternehmen bedienen sich gerne der Justiz, um unliebsame Kritik zu unterbinden. Für derlei Kritik ist das WWW ein praktischer Nährboden. Individuen oder Gruppen können hier publizieren und eine viel weitergehende Verbreitung erreichen als mit einer Papierpublikation. Wer aber kritisch ist, ist meist ökonomisch schwach und es fehlt dann die Rechtsabteilung, die der Klassenjustiz im Falle eines Konflikts mit einem kritisierten Unternehmen ein Urteil gegen ein solches abringen könnte.
Neben einem beträchtlichen Abmahnunwesen im bzw. gegen das Internet ist ein weiteres Tätigkeitsfeld der BRD-Justiz der sogenannte Schutz der Persönlichkeitsrechte von Nazis. Genau wie auf der Straße sind eigenständige, wirksame Aktivitäten der Bevölkerung gegen die Enkel des Gröfaz unerwünscht. Außerhalb der üblicherweise verdächtigen Dissidentenkreise hat der Staat zur Durchsetzung der Interessen der Copyright-Industrie auch zum Rundumschlag angesetzt gegen Internet-NutzerInnen, die mittels file sharing die Profite beeinträchtigen.
Ein Dreh- und Angelpunkt des staatlichen Handelns "in eigener Sache" ist die Verknüpfung von virtueller und realer Identität von NutzerInnen. Dazu sind den Providern in den letzten Jahren Hilfstätigkeiten aufgebürdet worden, die zunächst die Erfassung von Kundendaten und ihre Verfügbarmachung für die Staatsorgane umfassen. Auch bei der Überwachung der Inhalte von Telekommunikation hat es gesetzliche "Fortschritte" gegeben, die die Provider zur Bereithaltung von Überwachungstechnik verpflichtet - auf Kosten der Provider und damit letztlich der überwachten Kunden. Auf Anordnung der berechtigten Stellen (Strafverfolgung, Nachrichtendienste) müssen Kopien der Kommunikation von verdächtigten Nutzern den Staatsorganen übermittelt werden.
Aktueller Höhepunkt der Überwachungswelle ist die auf EU-Ebene angeordnete Vorratsdatenspeicherung, welche die gesamten Verbindungsdaten von Telefonie (egal ob leitungsvermittelt, mobil oder via Internet), SMS, FAX und e-mail umfasst, außerdem die Zuordnung von IP-Adressen sowie Gerätekennung und Standort von Mobilfunkgeräten. Die Provider müssen die Daten in der BRD für ein halbes Jahr speichern, in anderen EU-Ländern sind es bis zu zwei Jahre. Die gesamte telekommunizierende Bevölkerung wird einem Generalverdacht auf Kriminalität unterworfen. Anonymisierungsdienste wie Tor waren bereits Ziel fadenscheinig begründeter staatlicher Repression und sollen im Zuge der Vorratsdatenspeicherung im Endeffekt verboten werden.
Verbindungsdaten sind auch ohne die kommunizierten Inhalte höchst interessant um soziale, d.h. potentiell kriminelle, Beziehungsnetze erkennen und analysieren zu können. Eine formale Handhabe zum Zugriff auf die Daten lässt sich notfalls immer konstruieren, beliebt sind dafür die sog. Ausforschungsparagraphen 129/a/b des StGB. Jüngeres Beispiel dafür waren 2007 im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm groß angelegte Razzien des BKA gegen diverse soziale Bewegungen, die gegen den G8-Gipfel mobilisierten.
Obige Darstellungen sollen nicht als Aufruf zu oft kontraproduktiver Paranoia verstanden werden. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Kapitalkonzentration von Telekommunikation und Internet zu staatlichen Überwachungsmöglichkeiten führt, die an "1984" erinnern. Auch wenn man den dahingehenden Scharfmachern wie Bundesinnenminister Schäuble keine totalitären Intentionen unterstellt, so würde sich ein solches Regime herzlich bedanken ob der juristischen, technologischen und logistischen Vorarbeit in Sachen totaler Überwachung, die ihm bei einer Machtübergabe in die Hände fiele.
Zwei Abstraktionen, die dem Internet zugrunde liegen, führen zu einer Deprivation des (Er)Lebens seiner NutzerInnen. Zunächst die Digitalisierung der Inhalte als Handlungsgegenstände und damit die Homogenisierung der Interaktion durch die Verwendung eines Computers - der physischen Form nach eine monotone Maschinenbedienung mit nur minimaler körperlicher Aktivität. Zum anderen die Abstraktion vom Raum - denn alles ist vom eigenen Computer aus erreichbar, ein Fortbewegen des Körpers unnötig.
Die private Nutzung von Computer und Internet verlängert die Reduktion körperlichen Erlebens aus Fabrik und Büro in die sogenannte Freizeit, allerdings ohne die soziale Dimension der Arbeit in einem Betrieb. Die vereinzelnde Wirkung des Fernsehens wird auf interaktive Handlungsbereiche ausgedehnt. Überkapazitäten und die "Nöte" der Kapitalverwertung machen den Videokonsum im Internet breit und nähern es auch von daher dem Fernsehen an. Und zur systemstabilisierenden Bedeutung des Fernsehens muss hier nichts weiter ausgeführt werden. Die Grundstruktur Konzern <-> Konsument reduziert die Relevanz des anderen Menschen zugunsten der Bedeutung der Maschinerie des Konzerns. Die folgende, vor über 60 Jahren formulierte, d.h. prä-digitale Kritik lässt sich bis heute verlängern:
"Je komplizierter und feiner die gesellschaftliche, ökonomische und wissenschaftliche Apparatur, auf deren Bedienung das Produktionssystem den Leib längst abgestimmt hat, um so verarmter die Erlebnisse, deren er fähig ist. Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt der Völker und ähnelt sie tendenziell wieder der der Lurche an. Die Regression der Massen heute ist die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können, die neue Gestalt der Verblendung, die jede besiegte mythische ablöst. Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaft gelenkten Kollektivität." ([ Horkheimer/Adorno ], S. 43)
Das Internet bietet neben der Entsinnlichung auch als Maschinerie der "totalen Vermittlung" zur Bekräftigung obiger Analyse sich an. Also erstmal keine Hoffnung auf echten Fortschritt für das Projekt des Selbst, des modernen Subjekts? Offenbar nicht vom üblicherweise verdächtigen revolutionären Subjekt, der ArbeiterInnenklasse, denn:
"Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft [...]." (Ebd.)
Und um wie viel mehr muss dies heute gelten, wo Auto und Supermarkt, Leiharbeit und Erwerbslosigkeit, Fernsehen und Internet den früheren sozialen Nährboden der ArbeiterInnenbewegung, den direkten und längerfristigen Kontakt von Mensch zu Menschen, trockengelegt haben? Aber die "Dialektik der Aufklärung" wäre keine emanzipatorische, wenn sie nicht auch solche Einsichten formulierte:
"Diese logische Notwendigkeit aber ist keine endgültige. Sie bleibt an die Herrschaft gefesselt, als deren Abglanz und Werkzeug zugleich." (Ebd.)
Hier scheint die Möglichkeit auf, durch Trockenlegung der Herrschaft zu einer Umwälzung der Industriegesellschaft zu kommen, in der das Potential der Maschinerie statt zur Profitproduktion für wenige zur Bedürfnisbefriedigung aller genutzt wird. Diese eng miteinander verknüpften Ziele - Trockenlegung der Herrschaft und bedürfnisorientierte Produktion - sind zentrale Aspekte des Anarchosyndikalismus, der über das - noch? - vorhandene Organisierungspotential des Internet und der relativ breiten Verfügbarkeit von Internetproduktionsmitteln (Computer und Netzzugang) bei der ArbeiterInnenklasse zumindest der Metropolen, eine neue Aktualität gewinnen könnte. Aber ohne eine Rekonstruktion der traditionellen Basis der ArbeiterInnenbewegung, der unvermittelt sozialen, wird das nicht gelingen, sofern man die obige Analyse der Altmeister auf das soziale Erleben und Handeln anwendet.
Trotz solch fundamentalistischer Kritik sollte man nicht verachten, dass die heutige Nutzung des Internet in sozialen Bewegungen und weit darüber hinaus auch sehr positive Züge aufweist wie herrschaftsfreie Kooperation, Experimentierfreudigkeit oder Solidarität z.B. bei Repression.
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Die Idee, der Anarchismus könne in eine ergiebige Beziehung zum Internet gesetzt werden, mag auf Bedenken stoßen. Ist das Internet doch ein mit militärischer Finanzierung gestartetes Projekt, das sich mittlerweile fest in kapitalistischer Hand und unter staatlicher Beobachtung befindet. Und die den NutzerInnen unverständliche und kapitalintensive Hochtechnologie sorgt für noch mehr Vereinzelung, Entfremdung und Verblendung. Von daher empfiehlt sich doch eine strikte Ablehnung.
Dass diese Position aber das Kind mit dem Bade ausschüttet, soll an einer Analogie aus der anarchistischen Praxis der letzten Jahrzehnte illustriert werden, dem Kampf gegen die Atomwirtschaft. Dort ist eine rigorose Ablehnung formuliert worden, nämlich die Ablehnung der Atomtechnologie. Diese kompromisslose Ablehnung war strategisch wichtig, um nicht durch die üblichen Tricks der Herrschenden gespalten, zerfasert oder assimiliert zu werden. Ein Aspekt des Atomenergiekomplexes wurde zwar gelegentlich durch taktisches Mastumlegen angegriffen, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt - das Stromverbundnetz. Dieses entspricht viel eher dem Internet, als der "böse" Atommeiler. Das "Böse" gibt es im Internet natürlich auch, und nicht zu knapp, s.o.: Großer Bruder Schäuble, Kleiner Bruder Google, Monopolist Micro$oft, Spam und kriminellaggressive Botnetze etc. pp.
Der Kampf gegen die Atomenergie hatte und hat aber auch eine konstruktive Seite. Und das, obwohl es immer noch Atomkraftwerke und Oligopole im Energiesektor gibt, die natürlich auch das Stromnetz nutzen. In der bisherigen Durchsetzungsgeschichte der regenerativen Energien gibt es neben der Beharrlichkeit der AktivistInnen einen fundamentalen Pluspunkt gegenüber den herkömmlichen Energiequellen: sie sind regenerativ, haben also einen prinzipiellen Kostenvorteil bei der Beschaffung ihres "Rohstoffs". Diese Betonung des ökonomischen Arguments ist als Anhaltspunkt für die Auslotung emanzipatorischer Möglichkeiten im Umgang mit dem Internet gedacht, und soll keinesfalls die Bedeutung der ethischen Dimension kleiner machen. Denn ohne die Empörung über die Beschaffungskriminalität und die langfristigen Folgen der herkömmlichen Energiewirtschaft wären der lange Atem der Bewegung wie auch die Bereitschaft vieler "Normalos", regenerative Energien zu fördern, wohl nicht zu erklären.
Von dieser Analogie ausgehend kann es durchaus sinnvoll sein, das Internet in emanzipatorische Strategien einzubeziehen. Dafür lohnt es sich, die progressiven Aspekte des Internet zu analysieren, um sie zum einen als Anregung für Aktivitäten in anderen Bereichen zu nutzen, zum anderen aber auch als Ansatzpunkte für emanzipatorische Bemühungen im und mit dem Internet selbst.
Aus dem Material des ersten Teils wollen wir dazu extrahieren, wie im Internet die "Quadratur des Kreises" gelingt - nämlich die Verbindung von Dezentralität und Einheit.
Dezentralität im Internet hat als Basis die operative Autonomie der einzelnen Netze. Darauf aufbauend werden durch bilaterale Vereinbarungen die Verbindungen zwischen den Netzen geknüpft. Bestandteil dieser Vereinbarung ist die Erreichbarkeit weiterer Teile des Verbundnetzes, bei transit-Beziehungen zum gesamten Verbund. Dadurch sind Wachstum und Kapazitätsplanung dezentral möglich - und nötig, in Ermangelung einer operativen Zentrale.
Die Einheit des Internet basiert zunächst auf den bilateralen Vereinbarungen, die die Erreichbarkeit weiterer Netze bzw. des gesamten Verbundes bezwecken. Grundlage der technischen Umsetzung der "Einheit" sind die Standards. Diese werden von temporären Assoziationen engagierter Individuen ohne formale Organisationsstruktur erarbeitet. Maßstab dieser Arbeit sind dadurch nicht (wirtschafts-)politische Interessen, sondern die technische Qualität des Ergebnisses ("rough consensus and running code"). Für die operative Einheit ist weiterhin die eindeutige Verteilung der IP-Adressen erforderlich. Diese wird von Vergabestellen als Dienstleistung an ihre Mitglieder, die Provider erbracht. Die Mitglieder finanzieren ihre Vergabestelle und bestimmen ihre Richtlinien. Durch diese technisch-wirtschaftliche Selbstorganisation wird eine einseitige ökonomische oder gar politische Kontrolle über die IP-Adressen verhindert.
Wie wichtig solche Organisationsprinzipien sind, merkt man dort, wo sie nicht eingehalten werden. Beim real ex. Domainnamensystem gibt es zentrale operative Komponenten (root server und root zone), und beim DNS ist den Juristen auch der Durchbruch beim Zugriff auf den virtuellen Raum gelungen. Wodurch - nur scheinbar paradox - Diebstahl von und Spekulation mit Domainnamen eine "ordentliche" Grundlage bekamen. Die Politnummer ICANN mit ihren Mehrheitsentscheidungen der Direktoren ergänzt hier das unglückliche Bild.
Die Erfahrungen und Prinzipien des Internet sind im libertären Kontext vor allem dann interessant, wenn es
D.h. dass z.B. einzelne Landkommunen oder Theoriezirkel weniger vom Internet lernen können als Föderationen (von Föderationen). Versuchen wir als Gedankenexperiment die Übertragung auf "den Anarchismus" als Gesamtprojekt, so lassen sich am real ex. Anarchismus folgende Mängel benennen:
Unser Gedankenexperiment legt folgenden Schluss nahe: weniger bringt mehr. Durch die Konzentration der Verbundbemühungen auf einen konkreten Bereich, der viele Libertäre (und möglichst auch weitere Teile der Bevölkerung) betrifft und möglichst alltagsnah ist, können genug Kräfte zusammen kommen, die einen zumindest ansatzweise funktionierenden Verbund zum praktischen Nutzen der Beteiligten in Gang bringen. Durch eine geeignete "Architektur" des Verbunds und seine Fähigkeit zur Selbstoptimierung sind quantitatives und dann auch qualitatives Wachstum möglich. Um den Verbund herum können sich weitere libertäre Aktivitäten entfalten, die durch die operative Basis des Verbunds mehr Möglichkeiten und größere Reichweiten in die Gesellschaft haben. Der Anarchismus ist dann nicht "nur" das Salz in der Suppe der sozialen Bewegungen, sondern wird zunehmend auch der Nährstoff. Gelingt der Wachstumsprozess weiter, kann er zunehmend Kapital (Maschinen, Häuser, Betriebe) assimilieren und damit unter selbstverwaltete "Kontrolle" bringen. Was Attraktivität und Reichweite des Verbundes weiter erhöht. Soviel zum Potential eines konzentrierten Verbundprojekts.
Zur Veranschaulichung des Konzepts noch eine Analogie aus der Naturwissenschaft. Zur Zeit wirken AnarchistInnen hauptsächlich katalytisch, d.h. sie fördern emanzipatorische Prozesse in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Damit sind sie erstmal ausgelastet, aber es ergeben sich dadurch auch Erfahrungen und Kontakte. Die "Architektur" des Verbundes sollte dann autokatalytisch sein, d.h. die Resultate des Verbundprozesses wirken positiv rückgekoppelt auf ihn selbst. Diese Dynamik kann sich durch die bereits erarbeiteten emanzipatorischen Kontakte aus der ersten, der katalytischen Phase, in diverse gesellschaftliche Bereiche ausdehnen. Sind schließlich genügend Menschen in und durch die Praxis des Verbunds mobilisiert, können sie durch das koordinierende Potential des Verbundes zum Übergreifen auf die sog. Realwirtschaft schreiten. Gelingt auch hier das Wachstum, könnte der Prozess schließlich autopoietisch [ Maturana/Varela ], d.h. vollständig selbstreproduzierend werden, also eine eigenständige freie Gesellschaft bilden. Diese chemisch-biologische Analogie soll keinesfalls als Automatismus oder Biologismus missverstanden werden - der gedachte Verbund besteht schließlich aus Menschen, mit ihren Schwächen und Stärken, der Fähigkeit zur Reflektion. Letztere ist für die Optimierungen und das qualitative Wachstum des Verbundes unverzichtbar - allerdings auch nicht vorhersagbar.
Schauen wir von hier aus zurück zum Ausgangspunkt der Überlegungen, dem Internet. Dieses hat zwar immer noch wesentliche Züge seiner autokatalytischen Dynamik, aber ein Übergang zur Autopoiese ist ihm prinzipiell nicht möglich, da es im Gegensatz zum Anarchismus a priori kein Projekt ist, welches alle Aspekte der Gesellschaft umfasst. Und so besteht die allzu reale Gefahr, dass es seiner qualitativen Dynamik letztlich beraubt wird, indem es als teilautonomes, aber funktionales Element in die Autopoiese des real ex. Kapitalismus eingebaut und dieser untergeordnet wird. Wie ein Organell in einer biologischen Zelle.
Dem Gedanken des vorigen Abschnitts, dass nämlich das Internet - im Gegensatz zum Anarchismus - keine gesamtgesellschaftliche Perspektive ist, ließe sich auf den ersten Blick zweierlei entgegenhalten. Erstens, dass Freiheitsideale bis hin zur Herrschaftsablehnung eine wichtige Motivation vieler InternetprotagonistInnen und immer noch Bestandteil der Netzkultur sind. Zweitens, dass ein Ende des Vordringens des Internet in die Gesellschaft gar nicht absehbar ist. Beides ist zwar richtig, aber ändert nichts an den Kommandostrukturen und Verblendungszusammenhängen, die das Internet von der real ex. Gesellschaft umso mehr "erbt", je mehr es sie durchdringt. Dennoch lohnt sich eine genauere Untersuchung der beiden Aspekte auf ihr libertäres Potential.
Das Vordringen des Internet in die Gesellschaft erfolgt technisch aufgrund seiner quantitativen Offenheit, ökonomisch - seit dem Übergang von der akademischen zur kommerziellen Phase - in kapitalistischen Formen. Die resultierenden Probleme wurden oben ja angesprochen, sie hängen wesentlich mit der Regulation des Wachstums durch cash flow zusammen. Auf der Anwendungsebene des Internet haben die verschiedenen kommunikativen Nischen, z.B. Usenet, IRC, Wikis, Blogs etc., jeweils eigene technische und soziale Regulationsmethoden entwickelt. Im operativen Kern des Internet dagegen ist eine Änderung der Regulationsmethodik von technisch-wirtschaftlich zu technisch-sozial aufgrund der Eigentumsverhältnisse und Verwertungsinteressen nicht zu erwarten. Daher werden kriminelle (und) staatliche Angriffe weiter zur Tagesordnung gehören. Dennoch sollen hier beispielhaft zwei Bereiche dargestellt werden, die libertäre technisch-soziale Regulationsmethoden unterhalb der Anwendungsebene etablieren könnten und den Spieß so umdrehen, dass das Internet bei seiner Durchdringung der Gesellschaft explizit libertäre Prinzipien nutzt und damit verbreitet.
Wie schon erwähnt wird die Vergabe von Domainnamen dezentral geregelt. Es gibt dabei aber auch zentrale operative Komponenten und ein davon ausgehendes hierarchisches Delegationssystem. So entsteht z.B. für den BRD Staat die Möglichkeit, durch Verfügung an das für die Vergabe von .de Domains zuständige DENIC, .de Domains zu zensieren. Es ist relativ leicht möglich, mit der existierenden software alternative DNS root server aufzubauen, die optional einen alternativen Namensraum verwenden. Allerdings bleibt dabei die hierarchische top-down Struktur des DNS (domain name system) erhalten.
Für eine systematische bottom-up Lösung müssten auch technische Modifikationen am DNS vorgenommen werden. Der Aufwand für Endbenutzer könnte allerdings minimal gehalten werden. Sie müssten lediglich vertrauenswürdige DNS resolver eintragen. Dazu sollte das zensurablehnende Publikum aber spätestens seit den Zensurbemühungen der Bezirksregierung Düsseldorf 2001 in der Lage sein [ CCC ]. Neben dem grundsätzlich realisierbaren technischen Aspekt eines bottom-up DNS bleibt die spannende Frage, wie die technisch-soziale Regulation eines solchen DNS aussehen kann, insb. wenn zur Vermeidung von staatlichen Zugriffsoptionen dieses auf eine möglichst breite Basis gestellt werden soll. Hier könnte libertäres Mitwirken zu einer Freiheitsproduktion beitragen, die für viele NutzerInnen wirksam würde.
Der im Internet immer noch gern verwendete Begriff der Freiheit stellt einen weiteren Anknüpfungspunkt für anarchistischen input ins Internet dar. Wie nötig das ist, soll im Folgenden beispielhaft durch eine Auseinandersetzung mit der "kalifornischen Ideologie" [ Barbrook ], [ Schulz ], [ Lovink ] der New Economy[tm] und dem zugehörigen Spannungsfeld von Freiheit und Ökonomie verdeutlicht werden. Als umstrittenes aber paradigmatisches Beispiel für solche Freiheitsvorstellungen im virtuellen Raum sei der Anfang von "A Declaration of the Independence of Cyberspace" zitiert:
"Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather." [ Barlow ]
Barlow, ehemaliger Texter der Grateful Dead und Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation, veröffentlichte die "Declaration" 1996 anlässlich der Verabschiedung des Communications Decency Act (CDA) der USA. Mit diesem Gesetz wurde u.a. die öffentliche, d.h. für Kinder und Jugendliche zugängliche Verwendung von obszönen Inhalten und Worten wie "shit" und "fuck" in online Medien verboten. Der CDA wurde später von US-Gerichten teilweise wieder kassiert, da im Widerspruch zum "First Amendment" der US-Verfassung stehend, in dem u.a. die freie Rede garantiert wird. Dass Barlow's "Declaration" auf zehntausenden Websites kopiert wurde, lässt sich als Zeichen für die damalige Bedeutung des Konflikts zwischen Staat und den "Bewohnern" des virtuellen Raums lesen. In dieser Periode traf die Tradition der wissenschaftlichen Entwicklungsphase des Internet und damit auch der Idee des herrschaftsfreien Diskurses auf die kapitalistisch getragene Ausweitung des Netzes zum Massenmedium und die damit einhergehenden staatlichen Regulierungsbemühungen.
Dass die Freiheitsrhetorik der "Declaration" an die Gründungszeit der USA erinnert, liegt nicht nur am Kernpunkt der juristischen Auseinandersetzungen um den CDA, dem First Amendment von 1791, sondern auch an der Vorstellung des Cyberspace als unbegrenztem Raum, bereit für die Landnahme und mit genug Platz für alle (Gedanken;).
Aus anarchistischer Perspektive gibt es einiges an der wohl einflussreichen "Declaration" des ehem. Religionswissenschaftlers zu kritisieren. Er spricht zu Recht vom Cyberspace als einem kollektiv konstruierten sozialen Raum, den er aber komplett in den Bereich des Immateriellen, Körperlosen verlegt: „ Cyberspace [...] is not where bodies live“[ Barlow ] - man hört den Nachhall der Worte des Herrn: „ Mein Reich ist nicht von dieser Welt“[ Jesus I ]. Die Körper bleiben weiterhin der "gerechten Macht" (s.u.) der Regierungen unterworfen - nix Neues seit „ Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist“[ Jesus II ]. Durch diese traditionsreiche Spaltung von Körper und Geist, Staat und Kultur wird der anstehende Grundsatzkonflikt mit der Herrschaft abgewiegelt, incl. einem Kniefall vor den Regierungen durch die Anerkennung ihrer vermeintlichen Legitimation durch die Regierten: „ Governments derive their just powers from the consent of the governed.“[ Barlow ] Das damit bereits vorweg genommene Scheitern der herbei deklarierten virtuellen Republik hat seine operativen Gründe in den so (leider;) nicht zutreffenden Behauptungen über die Beschaffenheit des Cyberspace. Wegen ihrer Bedeutung für eine Auseinandersetzung mit Herrschaft und Ausbeutung im virtuellen Raum seien sie hier aufgeführt ...
... und diskutiert:
Der CDA als Zensurangriff der Regierung und die resultierende Empörung vieler NetznutzerInnen dient so der Konstruktion eines "wir", dem der Wohlstand der virtuellen Märkte gehören soll. Wesentlicher Grund für die Popularität des Internet war und ist aber, dass der (inhaltliche) Wohlstand darin zu großen Teilen eben nicht marktförmig organisiert ist, sondern die digitale Distributionsmechanik Internet für eine solche Marktförmigkeit erst entsprechend zugerichtet werden muss. Bei Herbeiführung der intendierten Marktförmigkeit zerfällt das Boot, in dem "wir" sitzen und vermeintlich gegen den Staat rudern, in die üblichen zwei Teile - die, die rudern, und die, denen das Boot gehört. Die obige "wir"-Konstruktion war für die kommerzielle Boomphase des Internet in den 1990er Jahren hegemonial, hat dabei viel Kreativität und Finanzkapital "verbrannt", den beachtlichen .com-crash als Vorläufer der heutigen Subprime-Krise hingelegt, und das Internet mit seinen Überkapazitäten und ein paar neuen Marktführern hinterlassen.
Der süße Duft der Freiheit, mit dem viel virtuelles Fußvolk gelockt wurde, erweist für dieses als Etikettenschwindel sich, denn gemeint war die Freiheit der Cyberunternehmer. Die wiederum brauchen für "our marketplaces" motivierte SpezialistInnen, die sich mit Aktienoptionen und dem Duzen des Chefs in virtueller Freiheit wähnen. Auf der anderen Seite brauchen - und wollen - diese Unternehmer ausdrücklich den Staat, damit er eine virtuelle Eigentumsordnung definiert und durchsetzt, ohne die die "competitive battlegrounds" des "knowledge age" sich nicht etablieren können [ Dyson ]. So wird doppelt betrogen: ökonomisch durch Ausbeutung und Spekulation, gesellschaftlich durch die Ratifizierung des Bockes Staat zum Gärtner der Freiheit.
Es mag billig erscheinen, Jahre nach dem .com-crash auf der zugrunde liegenden technoliberalen Ideologie herumzuhacken, zumal das zugehörige Akkumulations-, Verwertungs- und Vernichtungsgeschehen auch rein marxistisch analysiert werden kann. Nur hilft letzteres wie üblich konstruktiv nicht weiter. Deshalb und wegen Unzuständigkeit in Sachen Freiheit sind von dieser Seite auch keine ökonomisch tragfähigen Alternativen zum Technoliberalismus zu erwarten, die dem virtuell aktiven Teil der Bevölkerung helfen, ihre Freizeitproduktion virtuellen Wohlstands zu einer Freiheitsproduktion mit gesamtgesellschaftlicher Perspektive weiter zu entwickeln. Hier liegt also - um auf den Titel des Kapitels zurückzukommen - eine konstruktive Aufgabe für AnarchistInnen, historische und praktische Erfahrungen und Analysen der Bewegung zu Gunsten einer ökonomisch fundierten Freiheitsproduktion im und durch den virtuellen Raum zu nutzen. Zur Anregung dafür sollen die oben kritisch verdauten Themen der "Declaration" im Folgenden konstruktiv recycelt werden:
"the wealth of our marketplaces": Der Begriff Wohlstand hat, zumal in einer herabgewirtschafteten Hartz IV Republik, in welcher die dafür Verantwortlichen (so wurde uns zugetragen) im Rest des miserablen Fernsehprogramms gar nicht mehr auffallen, eine fast obszöne Konnotation bekommen als etwas, das nur noch Betrügern und Arbeiterverrätern zusteht. Da wirkt allein die positive Verwendung des Begriffs durch den Technoliberalen Barlow schon wie eine Wellnessreise in die Zeit der Goldwährung. Und Wohlstand ist auch nicht notwendig an die Ausbeutung von Mensch und Natur gekoppelt, sondern eher an die Muße, von der eine sich allseitig entfaltende anarchistische Persönlichkeit kaum genug haben kann.
Damit der von allen (Beteiligten) erarbeitete Wohlstand auch wirklich allen (Beteiligten) zukommt, muss neben der Produktion auch die Distribution entsprechend funktionieren. Im Kontext virtuellen Wohlstands kein Problem, ist das Internet doch die perfekte Distributionsmaschine für digitale Güter und Dienstleistungen. Der rein technische Kopiervorgang bildet den klassischen Distributionsvorgang allerdings nur in eine Richtung ab, beinhaltet dieser doch außerdem eine Übertragung von Forderungen in die Gegenrichtung der Güterdistribution ("Bezahlung"), also in Richtung der ProduzentInnen. Durch Verausgabung der so erworbenen Forderungen können diese wiederum ihre Produktionsmittel und ihre eigene Reproduktion organisieren. Der Wegfall der Symmetrie zwischen Distribution und Bezahlung reißt in bisherige ökonomische Theorien ein weites Loch, das unseres Wissens bis heute nicht gestopft ist.
Den Liberalen fällt in ihrer Markt- und Staatsfixiertheit auch nix wesentlich besseres ein, als zu verknappen, d.h. den asymmetrisch sprudelnden Quell mit technischen Tricks bis hinunter zur Symmetrie wieder zu verstopfen, oder - ähnlich schräg - die Güter in Dienstleistungen zu verwandeln (s. das Barlow-Zitat in [ Dyson ]). Die vergleichsweise glücklichen Marxisten haben mehrere Möglichkeiten, sich mit dem Problem gar nicht erst zu konfrontieren: weil es in der Planwirtschaft gar nicht vorgesehen ist, weil im amorphen "alles für alle" nach dem zwangsläufigen Übergang zum Kommunismus die Distributionsprobleme sowieso gelöst sein werden, oder weil die Distributionssphäre der kapitalismuskonstituierenden Mehrwertabschöpfung in der Produktion völlig nachgeordnet ist (und ihre genauere Analyse strukturell antisemitisch). Diese Distributionsproblematik gärt im kulturellen Bereich schon länger, wo sie durch die Materialität der Medien (Bücher, Tonträger) oder die Singularität von Aufführungen in traditionelle ökonomische Formen integrierbar war. Mit fortschreitender Verbreitung und Verbesserung von Digitalisierungstechnologie wird sich das Problem aber verschärfen (Scanner und Texterkennung, Hendis mit Audio-/Videostreaming ins Internet), und schon jetzt zielen die Schläge bzw. Tritte der Verwertungsindustrie zur Verteidigung ihrer Pfründe unter die Gürtellinie der Bevölkerung. Eine konstruktive Lösung des Problems wäre nicht nur eine neue Qualität für das Internet, sondern ein Fuß in der Tür zu postkapitalistischer Ökonomie.
Der Anarchismus mit seiner theoretischen und praktischen Spannweite vom anti-monopolistischen Geldsystem bis zur syndikalistischen Industrieföderation sollte in der Lage sein, zur Lösung einen Beitrag zu leisten. Ob und inwieweit diese neue ökonomische Form einem "marketplace" ähnelt, muss sich zeigen. Ausgeschlossen ist das aus libertärer Sicht - und im Gegensatz zum Marxismus - zwar nicht, aber die Spielregeln würden sich - im Gegensatz zum Liberalismus - unter der Kontrolle der Beteiligten befinden.
Dass die bisherigen Überlegungen zu Beziehungen zwischen Anarchismus und Internet recht abstrakt und stückwerkhaft waren, ist keine böse Absicht der AutorInnen. Der Versuch, zwei jeweils in sich schon sehr komplexe Felder konkreter, genauer und umfassend zueinander in Bezug zu setzen, würde die verfügbaren Ressourcen, wohl auch der meisten LeserInnen, weit überschreiten. Da aber sowohl der Anarchismus als auch das Internet keine rein akademischen Projekte (mehr) sind, können die geneigten LeserInnen selbst aktiv werden, indem sie eigene Erfahrungen in diesem Beziehungsfeld sammeln. Zum einen als Basis weiterer Reflektionen, zum anderen als konkreter Beitrag für den Aufbau gesellschaftlicher Freiräume. Dazu sollen vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen einige Ansatzpunkte vorgestellt werden.
Es empfiehlt sich unbedingt, den Vereinzelungstendenzen des Internet durch Organisierung vor Ort entgegenzuwirken. Ehe das Internet auch hierzulande breit zugänglich wurde, gab es selbstorganisierte Mailboxnetze. Dabei haben lokale Gruppen jeweils eigene Mailboxen (Computer mit Telefonleitungen) betrieben, in die sich die NutzerInnen zum damaligen Ortstarif per Modem einwählten um Nachrichten auszutauschen. Die Mailboxen der verschiedenen Orte haben dann zu Nachttarifen den überregionalen Nachrichtenaustausch organisiert. Um den Betrieb der lokalen Mailboxen herum gab es regelmäßige Treffen zur gegenseitigen Hilfe im Umgang mit der Technik und dem Medium, und zum sonstigen Austausch.
Diese sozialen Brennpunkte des virtuellen Lebens sind heute ausdifferenzierter. Serverprojekte, Linux User Groups, Hackertreffs, Freifunknetze, Medienprojekte, Internetcafés in autonomen Zentren etc. suchen meist MitmacherInnen, vermitteln Wissen, und können vor Ort den Einstieg in den (libertären) Netzaktivismus erleichtern. Auch in seiner unmittelbaren Nachbarschaft kann man etwas in Bewegung bringen, indem man sich mit Nachbarn den Internetanschluss teilt, durch das Verlegen eigener Ethernet- oder gar Glasfaserkabel, oder per WLAN. Neben dem "dank" Hartz IV etc. leider relevanten individuellen ökonomischen Vorteil können solche nachbarschaftlichen internets z.B. auch zum Aufbau gemeinsamer digitaler Mediatheken genutzt werden.
Probleme der Kapitalakkumulation im und für das Internet sind oben ja kurz angesprochen worden. Sie haben im Internet ihre spezifische Ausprägung, aber in allen ökonomischen Sphären macht der Kapitalismus bekanntlich Probleme. Verblüffend bis erschreckend ist daher, wie vielen kapitalismuskritischen Menschen diese Erkenntnis ausgerechnet beim Umgang mit dem Internet abhanden zu kommen scheint. Am auffälligsten ist dies bei (Web)Mail, wo die wenigsten wissen, dass die wg. 0,-Euro beliebten GMX und web.de mittlerweile zum gleichen Konzern, dem aus 1&1 hervorgegangenen United Internet, gehören. Die "0,-Euro" funktionieren durch Werbeflächen auf den zugehörigen Portalseiten, Werbebotschaften, die in die mails der NutzerInnen eingebaut werden, und die Nutzung von Kundendaten für Marketingzwecke. Anstatt sein Postfach bei einem Konzern zu haben, wäre es besser, seine Post auszudrucken, per Brief zu verschicken und dabei gleich eine Kopie bei der nächsten Polizeiwache abzugeben. Dort müsste der Inhalt dann eingescannt und mit Texterkennungs-Software behandelt werden. Das würde dem Apparat zumindest deutlich mehr Arbeit machen als der digitale Abgriff bei den zur Kollaboration verpflichteten und bereiten Großanbietern.
Vielleicht noch schlimmer als der Überwachungsaspekt ist an dieser Gedankenlosigkeit, dass in dem Maße, wie man die Konzerne dadurch fetter macht (selbst bei 0,-Euro), den alternativen Projekten der Bewegung die soziale und ökonomische Basis entzogen wird. Ohne Unterstützung durch die Bewegung können sich emanzipatorische Internetprojekte nicht halten und weiterentwickeln, was schließlich in einem Verlust operativer Basis und des zugehörigen Wissens endet. Das ist strategisch fatal, da das Internet durch die digitale Medienkonvergenz absehbar eine immer größere Rolle spielen wird. Und die Bedeutung eigener Medien gerade für staats- und kapitalkritische Bewegungen kann wohl kaum überschätzt werden.
Als Internet-spezifisches Problem mag erscheinen, dass durch die verwendete Hochtechnologie die Bewegung von wenigen SpezialistInnen abhängig werden könnte. Sicherlich stellt für normale NutzerInnen schon der eigene Computer, um so mehr der Betrieb von Servern ein Buch mit sieben Siegeln dar, aber strukturell ist das auch nicht wesentlich anders als früher mit Setzern und Druckern. Strategisch bedeutend zur nachhaltigen Bewältigung dieses Problems sind drei Faktoren: Dezentralisierung, Dezentralisierung, Dezentralisierung. Und dies wird wohl ohnehin nur gelingen durch das Einbeziehen jüngerer Menschen, die durch ihre stärkere Sozialisation mit Internet und Computern einen leichteren Start in die bisweilen komplexe Materie haben.
Vor allem beim Betriebssystem ist die Quelloffenheit für die Teilnahme am Internet von besonderer Bedeutung - der TÜV würde auch kein Auto auf die Straße lassen, bei dem der Hersteller die Auskunft über die Funktionsweise der Bremsen verweigert. Auch durch zustimmende Rezeption der bisherigen antikapitalistischen und antimonopolistischen Ausführungen hat der/die LeserIn die logisch zwingende Pflicht erworben, das evtl. auf seinem Computer befindliche Monopolbetriebssystem von Micro$oft unverzüglich zu entfernen, und damit auch gleich Bots und Bundestrojaner mit ins Nirvana zu jagen. Dieser Akt der Befreiung führt übrigens nicht zu digitaler Handlungsunfähigkeit, eher im Gegenteil, gibt es mittlerweile doch genügend freie, open source Betriebssysteme und Anwendungssoftware. Die ist sogar leichter zu installieren als der Monopolkram, sicherer sowieso, und deckt mittlerweile die allermeisten Bedürfnisse der Arbeit mit dem Computer ab.
In diese zehntausende von freien Softwarepaketen sind im Laufe der letzten ca. 20 Jahre beträchtliche, oft hochqualifizierte Arbeitsmengen eingeflossen, und sie kann sich der Enteignung und Unterdrückung entziehen. Ersteres durch entsprechende Lizenzen und nahezu kostenlose Kopierbarkeit z.B. über das Internet. Zweiteres durch die Integration in die Infrastruktur des Internet und kommerzieller Softwareproduktion, die sie (die freie Software) auch für die kapitalistische Produktion unverzichtbar macht. Wie dieser erstaunliche, für alle Interessierten verfügbare Wohlstand an freier Software zustande kommt, wäre auf jeden Fall eine eigene Abhandlung wert, das sprengt hier trotz der hohen Relevanz für libertären Erkenntnisgewinn den Rahmen, aber zum Glück gibt es bereits ([ Grassmuck ], S. 202ff).
Bei aller Konsumfreundlichkeit, die freie Softwaredistributionen inzwischen erreicht haben, gilt auch für diesen Akt der Befreiung eines Umstiegs auf solche Software: gemeinsam macht es mehr Spaß und ist nachhaltiger. Da Software beim heutigen Stand der Technik prinzipiell keine Perfektheit garantieren kann, kann es natürlich auch bei open source Software Probleme geben. Einen großen Anteil an diesen Problemen stellen Schwierigkeiten bei der Hardwareunterstützung dar, weil Hardwarehersteller oft nur Treiber für Micro$oft-Betriebssysteme erstellen und keinen Quellcode ("source") der Treibersoftware oder Spezifikationen der Hardware veröffentlichen, mit denen dann freie Treiber programmiert werden könnten. Ein Grund mehr, das de facto M$-Monopol endlich auf den Misthaufen der Geschichte zu werfen - und sich über die Genialität des Konzepts der offenen Standards im Internet zu freuen.
Nach der Vergesellschaftung der Programmcodes kommen wir nun zu einem privateren Thema, bei dem genau das Gegenteil von Vergesellschaftung der Zweck ist, nämlich die Durchsetzung eines Freiraums namens Privatsphäre, angeblich ein Grundrecht in bürgerlichen Gesellschaften. Durch Digitalisierung und Vernetzung sind die technischen Möglichkeiten zur Datenschnüffelei und -manipulation in Orwellsche Dimensionen gewachsen, und die Schwellen zum Eingriff werden mit jedem "Terror"-Ruf weiter gesenkt.
Glücklicherweise ist im digitalen Bereich dagegen Kraut gewachsen, und zwar mathematisches. Die heute verfügbaren kryptographischen Algorithmen erlauben Übertragung und Speicherung ohne dass es auf absehbare Zeit praktikable Gegenmaßnahmen des Knackens und Manipulierens gäbe. Dazu ist allerdings einiges zu beachten, denn Sicherheit ist ein komplexes Thema, und Sicherheitslösungen sind höchstens so stark wie ihr schwächstes Glied. Und das befindet sich meistens vor der Tastatur, d.h. ohne gewisse Grundkenntnisse, die eine/n NutzerIn die Bedeutung der Handlungen bei der Bedienung von Sicherheitssoftware verstehen lassen, kann die tollste Mathematik mit einem Klick nutzlos werden.
Eine Mindestanforderung an Verschlüsselungs- und andere Sicherheitssoftware ist die Quelloffenheit ("open source"), denn nur durch die Analyse der Software durch möglichst viele, kompetente und unabhängige Dritte kann bestmöglich sichergestellt werden, dass sie keine Hintertürchen hat. Leider verbreitetes Gegenbeispiel: angeblich verschlüsselte Internet-Telefonie mit Skype.
Vom größten Sicherheitsproblem des heutigen Internet, den nicht quelloffenen Viren äh Betriebssystemen von Micro$oft, hat sich der/die LeserIn spätestens nach der Lektüre des vorigen Abschnitts ja schon verabschiedet. Aber auch bei freier Software gilt, wenn sie am Internet betrieben wird: kryptographisch signierte Sicherheitsaktualisierungen einspielen! Für den Mailverkehr verwendet man PGP in seiner freien Inkarnation GnuPG und fixt auch möglichst alle seine virtuellen KommunikationspartnerInnen darauf an. (Der vorige Satz enthält zwar virales Marketing, aber für die Verteidigung der Privatsphäre gegen die Großen und Kleinen Brüder haben wir das genehmigt.-)
Festplattenverschlüsselung ist auch empfehlenswert, aber meist betriebssystemabhängig. Bei der Übertragung von Authentifizierungsinformationen im Internet, z.B. beim Abruf oder Versand von mail oder beim Einloggen in interne Bereiche von Websites, achtet man auf die Verwendung verschlüsselter Übertragungsprotokolle. Falls der jeweilige Provider so etwas nicht anbietet, sollte man spätestens dann über den Wechsel zu einem alternativen Serverprojekt nachdenken.
Ein etwas anders gelagertes Problem für die Privatsphäre besteht in unvermeidlichen Datenspuren, die man im Internet bereits dadurch hinterlässt, dass man es nutzt - egal wie. Denn die eigene IP-Adresse muss notwendig in jedem Datenpaket enthalten sein, dass man versendet. Dadurch können Suchmaschinen mitschneiden, von welcher IP-Adresse aus sich jemand für ein bestimmtes Thema interessiert hat. Wenn man - wie die meisten Konsumenten - keine feste IP Adresse hat, bekommt man sie vom Provider zugeteilt, und spätestens über diesen können die Organe dann feststellen, wer sich für ihnen suspekte Themen interessiert hat. Gegen so etwas helfen Anonymisierungsdienste, im einfachsten Fall ein vertrauenswürdiger Webproxy. Kryptographisch ausgeklügelt ist das Anonymisierungsnetzwerk Tor ("the onion router"), z.Z. wohl das beste freie System für diesen Zweck, das sogar gegen eine Komplettüberwachung des eigenen Internetzugangs helfen kann. Allerdings ist das Surfen darüber bisweilen langsam, d.h. der/die LeserIn könnte sinnvollerweise überlegen, selbst einen Tor-Knoten zu betreiben und damit das Netzwerk zu verbessern und aktiv auch etwas für die Privatsphäre anderer zu tun. Solche fortgeschritteneren Fragen wie auch alle einfacheren in Sachen emanzipatorischer Internetnutzung und -gestaltung erörtert man am besten nach der oben gegebenen Empfehlung: Bildet Banden!
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